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  • Day 3

    Leben oder gelebt werden?

    March 31, 2021 in Germany ⋅ ☀️ 13 °C

    Die fünf Tage Quarantäne, die ich hier im Zimmer, während draussen bestes Wetter herrscht, verbringen darf, sind bisweilen gar nicht so schlimm. In mir ist für einmal das Gefühl abhanden gekommen etwas "produktives" mit dem Tag tun zu müssen. Da ich weder raus darf, noch mit anderen Menschen direkt in Kontakt treten kann, sind meine Erwartungen an mich selber plötzlich komplett weg. Das ist so paradox es auch klingen mag auch sehr befreiend. Unsere Céline von der Wanderuni hat letztes Jahr die Erfahrung von "ich muss gar nichts" gemacht und vielleicht ganz ähnlich empfunden wie ich jetzt gerade.

    Ich bin noch etwas müde weil es gestern irgendwie doch spät geworden ist. Die "Game of Thrones" Hörbücher sind wohl nicht die beste Nachtlektüre... Es stresst mich kein bisschen und spielt auch keine Rolle. Wenn ich schlafen möchte, kann ich das schliesslich jederzeit tun.
    Mein Hungergefühl ist in den letzten Tagen etwas abhanden gekommen. Ich bin immer wieder am snacken und habe nur Abends eine feste grosse Mahlzeit. Erdnüsse, Karotten, Äpfel, Brot mit Aufstrich, Kekse oder Schokolade in einem wilden durcheinander. Ich bin mir derweil aber noch unsicher, ob ich die nächsten Tage so weitermachen möchte. Wohl eher nicht.

    Gleichzeitig sind diese fünf Tage, in denen ich mich nur mit mir selber beschäftigen kann, irgendwie auch ein spannender Übergangs in diese neue Zeit. Ich freue mich schon sehr darauf am Samstag (sofern alles gut läuft) in die Villa Damai einziehen zu können. In ein Trubel von zwanzig jungen Menschen, die sich derweil mit ganz ähnlichen Themen beschäftigen.

    Ist es nicht ein riesiges Privileg sich einfach die Zeit nehmen zu können, das zu tun was man wirklich will? Nur ein sehr kleiner Anteil der Menschen auf dieser Welt können diese Wahl treffen. Und von jenen, die könnten, tuen es die wenigsten.
    Wieso eigentlich? Bin ich mutiger? Oder naiver?
    Bleibt die Mehrheit in ihrer Struktur weil sie es so will oder weil sie bereits zum Sklave der Gewohnheit geworden ist?

    Diese Frage habe ich mir die letzten Jahre oft gestellt. Sie war auch mit viel Unsicherheit verbunden, wie ich selbst reagieren würde, wenn es dann wirklich konkret wird. Ich hatte in dieser Zeit einige Begegnungen mit Menschen, bei welchen ich diesen Funken der Neugier und der Sehnsucht, gewohnte Strukturen hinter sich zu lassen, auch gespürt habe. Bei einigen, bei welchen dies sehr stark gezeigt hatte, hat sich daraus tatsächlich eine Art Feuer entwickelt und sie sind schliesslich aufgebrochen. Sie konnten nicht anders. Bei andern erlosch der Funke kurz darauf wieder. Umstände kamen dazwischen: Der/die Partner*in, eigene Kinder, der Job oder die eigen Ansprüche an Konfort oder Status. Es gibt viele rationale Gründe es nicht zu tun. Es ist bis zu einem gewissen Grad total unvernünftig und unsicher. Ängste spielen nicht selten eine grosse Rolle. Oder auch der Verlust von Sinnhaftigkeit, der sich einstellt, wenn sich jemand stark mit seinem Beruf identifiziert oder die eigene Arbeitsleistung und den Selbstwert stark verknüpft hat. Solcherlei Erfahrungen können Verbindungen aufzeigen, die manchmal überraschen.

    Aber bleiben wir mal realistisch. Vieles vom oben genannten geht nicht verloren, auch wenn wir uns für einen anderen Weg entscheiden sollten. Wir müssen einfach eine andere Struktur dafür finden. Der Weg wird vielleicht unsicherer aber nicht unpassierbar. Man könnte auch behaupten, dass das was da "passiert" und unsicher ist, genau das ist, was wir als letztlich Leben oder Lebendigkeit wahrnehmen und uns nährt in einem tieferen Sinne nährt.
    Ist uns Sicherheit und Kontrolle so wichtig, dass wir dafür sogar unsere innersten Wünsche und Träumen aufgeben, weil sie uns kindisch und naiv erscheinen? Dass wir dafür sogar bereit ein Teil unserer Lebendigkeit eintauschen?

    Ein Stück weit nehme ich dies so wahr. So wurde Isolde aus unserer Wanderunigruppe (Sie ist 19!) tatsächlich gefragt ob sie sich denn noch keine Gedanken über ihre Rente mache. Bei ihr stand gerade die Entscheidung an ihre Ausbildung abzubrechen, weil diese für sie nicht stimmig war. Wieviele Menschen leben(?) mit dem Vorsatz: "Wenn ich dann in Rente bin..."
    Sind denn Erfahrungen und lebendige Erinnerungen und Geschichten nicht auch eine art Vorsorge in die es sich zu "investieren" lohnt?
    Wenn uns unser Leben wie ein täglicher Kampf erscheint, dann sollten wir uns vielleicht fragen, ob nicht wir uns diesen selbst aufzwingen. Ob wir damit nicht fremde Erwartungen erfüllen statt unsere eigenen Bedürfnisse.

    Es ist vergleichbar mit dem Schwimmen in einem Fluss. Schwimmen wir der Strömung entgegen, können wir uns der Landschafts um uns herum sicher sein. Sie wird Tag für Tag gleich aussehen. Und vielleicht ist sie auch ganz hübsch. Das Schwimmen für sich aber ist verdammt anstrengend.
    Lassen wir uns hingegen vom Fluss treiben so werden wir verschiedene Landschaften erleben. Solche die mit ihrer Schönheit und Anmut beglücken, aber auch solche die uns schmerzt und Angst machen wird. Doch genau dadurch setzten wir auch einen Kontrast zum Glück und zur Schönheit. Damit werden wir beides intensiver wahrnehmen und fühlen können. Und wie ich aus persönlicher Erfahrung weiss: Nur fühlen heisst Leben.

    In diesem Gleichnis zeigt sich aber noch ein weiterer wichtiger Punkt. Nicht nur die Landschafts verwandelt sich, wenn wir uns mit dem Fluss treiben lassen, sondern auch wir verwandeln uns dabei.

    Wir durchlaufen eine Metamorphose in der wir ähnlich einer Raupe mit vielen Möglichkeiten und Potential starten. Unterwegs stellen wir uns unseren Ängsten und Mustern, die uns wie ein Kokon einschnüren und uns unserer wahren Freiheit berauben. Jedes Mal wenn wir in einer solchen Situation Selbstverantwortung übernehmen anstatt uns als Spielball des Zufalls zu sehen, gewinnen wir ein Stück Form. Um zum Schluss als vollendete Gestalt, als eine feste Manifestation aus den unzähligen Formen die möglich gewesen wären, herauszubrechen. Welche Verschwendung nach innen und aussen wäre es also als Raupe zu sterben aus Angst, bei der Suche nach der Form verloren zu gehen?

    Richtige Raupen haben zum Glück keine Wahl. Sie werden immer zum Schmetterling. Uns aber obliegt die Verantwortung diesen Schritt bewusst und willentlich zu tun. Ob das Fluch oder ein Segen ist, dass entscheiden wir letztlich selber.
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