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  • Day 45

    Varanasi, erster Teil (06.04. - 08.04.)

    April 8, 2016 in India ⋅ ⛅ 38 °C

    Mit einem Tag Verspätung gings nach Varanasi. Da die indische Eisenbahn eine der am besten organisierten der Welt ist und Überlandfahrten damit einfach zu so einer Reise gehören, buchten wir einen Zug, der um sieben Uhr abends in Delhi abfährt und um die gleiche Zeit morgens in Varanasi ankommt. Wenn man einen Nachtzug bucht, hat man die Wahl zwischen verschiedenen Klassen: Die erste Klasse mit eigenem Abteil ist ziemlich luxuriös und ein Ticket kostet fast so viel wie ein Flug. In der zweiten Schlafklasse ist es ebenfalls sehr angenehm, aber ein bisschen günstiger. Von der dritten Klasse wurde uns gesagt, dass drei Betten übereinander in einem Abteil sind, was ansonsten geschlossen ist. Diese drei Klassen haben alle Klimaanlage. Dann gibt es die Sleeper-Klasse, von der zahlreiche Horrorstories über viel zu hohe Temperaturen, grausige Toiletten, Diebstählen und andere Dinge kursieren. Aus diesen Gründen entschieden wir uns für die dritte Klasse, 3AC, und waren etwas überrascht, als wir in den Wagon stiegen, auf dem draußen unsere Namen auf der Reservierungsliste standen: Nix wars mit geschlossenem Abteil. Linkerhand waren zweimal drei Betten übereinander und rechterhand noch einmal zwei Pritschen. Diese Anordnung wiederholte sich um die acht mal, sodass rund 64 Leuten eine Schlafmöglichkeit geboten war. Da jeder innerhalb einiger Momente ohne Hindernis zu jedem anderen Schlafplatz gehen konnte und auch Leute von außen theoretisch Zutritt hatten, war uns schnell klar, dass wir unser Gepäck irgendwie sichern sollten. An unseren großen Rucksäcken mit teils dreckiger Wäsche drin ist wohl keiner interessiert, aber wenn dem Kamerarucksack mit den Dokumenten, dem Tablet, den Backups und eben Kamera plus Zubehör drin etwas passieren würde, wäre das schon... schade.
    Wir hatten die beiden oberen Betten von dreien zugewiesen bekommen und den Plan gefasst, das mittlere für unser Gepäck zu nehmen und oben zu pennen. Zu zweit. Auf 60cm. Das wirkt aus einiger Entfernung jetzt nicht unbedingt clever, aber die Sicherung des Gepäcks war uns so wichtig, dass wir auf etwas Komfort zu verzichten bereit waren. Also wurde das mittlere Bett heruntergeklappt und mit den Ketten, die es halten, das Gepäck festgemacht. Wer etwas mitnehmen wollte, würde also erst einmal das Bett anheben müssen und das bekämen wir wohl mit. Also ab ins Bett.
    Oh Graus... Uns macht es ja eigentlich nichts aus, auf sehr beengter Fläche zu schlafen, aber ein hartes Brett, das so breit ist wie die Sitzfläche einer Couch und begrenzt wird durch eine unnachgiebige Metallstange, war dann doch des Guten zu viel. Nachdem mir um zwei Uhr nachts zum x-ten Mal der Arm eingeschlafen war und Lisa noch gar nicht geschlafen hatte, pfiffen wir auf die Gepäcksicherheit. So leise wie möglich und locker übertönt durch das Schnarchen der Mitreisenden schoben wir die großen Rucksäcke unter zwei Pritschen, Lisa bekam den Fotorucksack ins Bett und wir schliefen getrennt. Was eine Wohltat.
    Der Rest der Fahrt verlief ereignislos. Da bis auf die Klimaanlage die Ausstattung in der Sleeper-Klasse nahezu gleich ist, werden wir diese als nächstes buchen. Mal sehen, wie viel an den Stories dran ist.

    Nach zwölf Stunden Fahrt kamen wir mit nur fünf Minuten Verspätung in Varanasi an und es bewahrheitete sich direkt, was der Reiseführer prophezeit hatte: Hier sind wohl die penetrantesten Rikschafahrer unterwegs, die einen sehr stark bedrängen, damit man sich von ihnen in die Stadt fahren lässt. Viele davon fahren einen dann aber nicht ins gebuchte Hotel, denn - so sagen sie - das sei abgebrannt, geschlossen oder von Godzilla verschlungen, sondern versuchen, dich bei einer Unterkunft, von der sie Provision bekommen, abzusetzen. Um den hartnäckigsten von denen loszuwerden, bedurfte es eines recht barsch auf deutsch gebellten "Verzieh dich!", denn die rund zwanzig höflichen "No, thank you"s hatte er ignoriert. Wir suchten uns auf Geheiß des Reiseführers eine Fahrradrikscha und als der Fahrer auf die Frage, ob er Englisch spreche, nur etwas auf Hindi antwortete, stiegen wir ein.
    Wir hätten uns vielleicht vorher die Route und seine Rikscha genau anschauen sollen, denn vom Bahnhof in die Innenstadt brauchten wir rund 30 Minuten und Platz für unser Gepäck gab es kaum, sodass wir das vollkommen übermüdet irgendwie umklammern mussten, um nichts zu verlieren.
    Mit etwas mehr als Schrittgeschwindigkeit fuhren wir also in eine der heiligsten Städte der Hindus hinein. Das sieht man dem Ort aber leider nicht an: Wo Delhi und Mumbai schon schlimm waren, setzte Varanasi noch einen drauf. Die Müllhaufen, die wir umkurvten, und die zur Beseitigung dieser notwendigen Feuer hörte ich nach kurzer Zeit auf zu zählen. Obwohl es früh am morgen war und die Hitze sich noch in Grenzen hielt, lag schon ein dicker Gestank über der Stadt, der sich während unseres ganzen Aufenthalts auch nicht auflöste. Und trotzdem ist Varanasi faszinierend und auf jeden Fall eine Reise wert und ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich die Stadt mag oder nicht, aber dazu später mehr.
    Zum Glück hatte uns das Hotel einen zentralen Platz genannt, an dem wir uns abliefern lassen sollten und jemanden geschickt, der uns dort zu Fuß abholte. Jeder Tourist, der auch nur einen Hauch von Unsicherheit versprüht, wo er die Nacht verbringen wird, wird sofort angequatscht und zur Vertragsunterkunft des jeweiligen Schleppers geführt. Nach zehn Minuten durch die engen Gassen nahe des Ganges kamen wir in unserem Hotel an und holten erst einmal eine Mütze Schlaf nach, die wir im Zug nicht bekommen hatten.
    Leider war unser Aufenthalt durch meine Krankheit auf zwei Tage geschrumpft, aber wir haben es trotzdem geschafft, das wichtigste zu sehen.
    Zuerst sind wir auf Empfehlung von TripAdvisor zur "Brown Bread Bakery" gegangen, die damit werben, echtes deutsches Brot zu backen und wie sich herausstellte tun sie das auch. Die perfekte Kur für meinen wohl vom indischen Essen etwas überstrapazierten Magen.
    Da der Laden so gut läuft, hat ein zweiter cleverer Geschäftsmann auch so eine Bäckerei aufgemacht. Mit exakt dem gleichen Namen fünf Meter die Straße runter. Zum Glück wussten wir, wie die Fälschung vom Original zu unterscheiden ist, denn nur hier ist das Restaurant auf dem Dach mit Blick auf den Ganges, umgeben von einem Drahtkäfig, um die ab und zu vorbeikommenden Affen fern zu halten.
    Frisch gestärkt wollten wir die Stadt unsicher machen und uns besonders entlang des Ganges, der als Mutterfigur verehrt wird, bewegen. Varanasi wurde dem Glauben nach von Lord Shiva persönlich gegründet, also einer der drei Hauptgötter des Hinduismus. Wer in dieser Stadt stirbt, erlangt sofort "Moksha" (Nirvana): Hindus glauben, dass ihre Seele in verschiedenen Formen wiedergeboren wird. Je nachdem, wie gut das Karma, also die Bilanz guter und schlechter Taten, ist, geht's im nächsten Leben nach oben, zum Beispiel in eine höhere Kaste, oder nach unten. Wenn's ganz dumm läuft, wird man als Tier wiedergeboren. Das Ziel eines Hindus ist es, aus diesem Kreislauf auszubrechen, nicht mehr wiedergeboren zu werden und so eben Moksha, also Erlösung, zu erlangen.
    Viele Hindus kommen ausschließlich hierher, um zu sterben.
    Aber durch den Ganges hat die Stadt noch eine zweite hinduistische Besonderheit auf Lager, denn wer sich im Ganges wäscht, dessen Karma wird reingewaschen. Aus diesem Grund tummeln sich zu jeder Tages- und Nachtzeit Hindus entlang der Steintreppen am Ufer, die "Ghats" genannt werden, und Baden ausgiebig. Für uns wirkt das eher befremdlich, denn der Ganges ist einer der am meisten verschmutzten Flüsse der Welt. Und damit meine ich jetzt nicht den Plastikmüll und die Fabrikabwässer, die ein paar Kilometer flussaufwärts eingeleitet werden, die sind geschenkt. Nicht mal der Kot von den Hunden und Kühen, die natürlich auch das ein oder andere Bad nehmen, ist das Schlimmste; das findet man schließlich in jedem indischen Fluss. Vielmehr geht's um die Leichenteile, die ab und zu an die Oberfläche blubbern.
    Wie schon erwähnt, hat die Stadt eine hohe Bedeutung für die hinduistische Sicht auf die Verknüpfung von Leben und Tod. Da ist es nicht verwunderlich, dass es hier auch besondere Bestattungsrituale gibt. Dazu dienen zwei der Ghats, die Verbrennungsghats genannt werden und die man an den riesigen fein säuberlich aufgestellten Holzhaufen auf den oberen Treppenstufen erkennt.
    Hier bringen die Hindus ihre Toten hin, um sie mitten unter anderen Trauernden, Hunden, Kühen und Touristen zu verbrennen. Ein naher männlicher Verwandter, meist der Sohn des oder der Verstorbenen, wird zum Zeremonienmeister. Dazu werden ihm die Haare rasiert und er kleidet sich in einem weißen Umhang. Dann sucht er sich mit dem fachmännischem Blick, mit dem man bei uns Grabstein und Sarg aussucht, das Holz aus, aus dem der Scheiterhaufen bestehen soll. Wer es zu etwas gebracht hat, der kann hoffen, auf Sandelholz verbrannt zu werden. Für richtig gut betuchte steht sogar ein Metallkäfig bereit, der Streuner davon abhält, die Totenruhe zu stören.
    Ist das rund 70cm hohe letzte Bett errichtet, wird der Tote langsam die Treppen herunter getragen, in den Ganges getaucht, um das letzte Mal das Karma aufzubessern und dann zum trocknen für ein paar Stunden auf die Treppe in die Sonne gelegt. Das klingt jetzt etwas salopp und makaber, aber so ist das. Manchmal werden gleichzeitig zu Sonnenunter- oder Aufgang  mehrere Personen zu Wasser gelassen, während die Treppe schon voll ist von trocknend Tragen und ein paar Feuer vor sich hin brennen. Der größere der beiden Verbrennungsghats ist übrigens nicht viel länger als 20 Meter, das Gedränge kann man sich ausmalen.
    Gut getrocknet wird der reich verzierte Leichnam dann auf den Scheiterhaufen gelegt und noch einmal mit Holz bedeckt. Zur Ehrung der fünf Elemente des Lebens dreht der Zeremonienmeister fünf Runden um das Bett und schlägt dem Toten dann mit einem dicken Knüppel den Schädel ein, um die Seele zu befreien. Anschließend wird alles angezündet.
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