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  • Day 234

    10 Tage Schweigen & 100 Std. Stillsitzen

    September 30, 2020 in New Zealand โ‹… โ›… 14 ยฐC

    Die Bewerbung für das Dhamma Medini Center habe ich kurz nach unserem Aufenthalt im Yoga Retreat abgesendet ๐Ÿ“จ Dort haben mir die Meditationen sehr gut getan und irgendwie stand es schon lange auf meiner Bucket List einmal ins Vipassana zu gehen. Ich hätte nie gedacht, dass es klappt, da alle Kurse des Centers ausgebucht waren. Wer nicht wagt und so… ๐Ÿคท๐Ÿผ‍โ™€๏ธ Ich habe dann eine Woche vor Beginn eine weitere Mail bekommen mit strengen Corona-Regularien, wozu ich mich verpflichten musste, z.B. sich zu isolieren im Falle, dass es einen positiven Fall unter den Schülern gibt. Zudem wurde ich gefragt, wie kurzfristig ich eine Zusage bekommen kann, um noch am Kurs teilzunehmen ๐Ÿ™‹๐Ÿผ‍โ™€๏ธ Da wir zeitlich mehr als flexibel sind, habe ich die kürzeste Zeit mit 24 Stunden Zusage vor Beginn angegeben. Und so passierte es: 17:30 am 29.9.2020 kam ein Anruf ๐Ÿ“ž Ich war verdutzt und Philipp noch etwas mehr, denn der wusste bis dahin noch nichts von meinem Versuch und meinem spontanen Glück ๐Ÿ˜ฌ Nach einem kurzen, klärenden Gespräch bestärkt er mich teilzunehmen und zuzusagen ๐Ÿค— Alles klar, dann an die Vorbereitungen: Ich brauche schlichte und weite Kleidung für 10 Tage. Also schnell in den nächsten Second-Hand-Laden ๐Ÿ› Ich muss meinem Chef erklären, dass ich spontan Urlaub im Urlaub brauche ๐Ÿ˜…, schauen dass Philipp auch alleine Housesitten kann ๐Ÿคฆ๐Ÿผ‍โ™‚๏ธ und nochmal Sport machen, bevor ich 10 Tage nicht darf ๐Ÿƒ๐Ÿผ‍โ™€๏ธ

    Dann heißt es, das erste Mal nach einiger Zeit Goodbye Philipp ๐Ÿ™‹๐Ÿผ‍โ™€๏ธ๐Ÿ™‹๐Ÿผ‍โ™‚๏ธ Es fühlt sich komisch an, aber die Aufregung meinerseits überwiegt. Am Tag der Ankunft - einen Tag bevor das eigentliche Vipassana beginnt - werden mir zunächst alle elektronischen und „unwichtigen“ Dinge abgenommen, die mich von mir ablenken könnten und ich bekomme mein Zimmer zugewiesen ๐Ÿ“ฑ ๐ŸŽง ๐Ÿ’ป Wir versammeln uns im Essensraum und es wird noch mal richtig laut. Männer und Frauen verbringen das Vipassana getrennt und so sind wir auch schon am Anfang in getrennten Räumen ๐Ÿšป Die weibliche Fraktion ist deutlich lauter zu hören. Es scheint als wollte man noch mal schnell so viel und so laut wie möglich mit vielen Menschen reden, bevor es still wird ๐Ÿ“ข Hierbei lerne ich Romina (aus ๐Ÿ‡ฆ๐Ÿ‡ท ) und Anja (aus ๐Ÿ‡ฉ๐Ÿ‡ช) kennen, die sich beide bereits im Sommer beworben haben und nicht glauben können, welches Glück ich hatte mit meiner kurzfristigen Bewerbung. Es gibt noch einmal eine letzte warme Mahlzeit am Abend und es gibt eine offizielle Ansprache mit allen Teilnehmern, Männern und Frauen ๐Ÿฒ
    Hierbei wird peinlichst genau auf die Aussprache der Namen geachtet. Dies ist ein Zeichen von Respekt ๐Ÿค“

    Bei der Vorstellung und Einweisung in die nächsten 10 Tage wird diverse Male auf den Code of Discipline hingewiesen. Diesen musste man bereits bei der Bewerbung gelesen und akzeptiert haben ๐Ÿ“œ Kurzum, ich muss in den nächsten 10 Tagen die 5 moralischen Grundvoraussetzungen einhalten: nicht lügen, nicht stehlen, nicht töten, keine körperlichen Kontakte, keine Drogen โœ”๏ธ Für die alten Schüler - die die schon mal ein Vipassana von 10 Tagen absolviert haben - kamen zusätzlich die Gebote hinzu, auf ein komfortables Bett zu verzichten, nach 12 Uhr Mittags nichts mehr zu essen und keinerlei Kunst am Körper zu tragen. Alle mussten sich verpflichten, die gesamte Zeit zu bleiben, da ein frühzeitiger Abbruch psychische Konsequenzen mit sich tragen kann ๐Ÿ˜Ÿ Kurz nach der Ansprache beginnt die sogenannte noble silence - edle Stille ๐Ÿค

    Von da an verändert sich das ganze Raumklima, das gesamte Gelände und man selber. Es geht zunächst für eine Meditation mit einleitenden Worten von Satya Narayan Goenka in die sogenannte Meditationshalle ๐Ÿ› Männer und Frauen kommen hier zu verschiedenen Türen herein und sitzen weitgehend getrennt voneinander ๐ŸงŽ๐Ÿผ‍โ™€๏ธ๐ŸงŽ๐Ÿฝ‍โ™‚๏ธ S.N. Goenka ist der Gründer des Centers ๐Ÿ‘จ๐Ÿพ‍๐Ÿฆฒ wovon weltweit weitere 206 existieren ๐Ÿ—บ so auch in Deutschland (https://www.dhamma.org/de/about/vipassana). Goenka stammt aus Burma und war ein erfolgreicher Geschäftsmann ๐Ÿ•ด๐Ÿฝ Er litt jahrelang an starker Migräne, die so stark war, dass er Morphium bekam und die Ärzte ihm nicht weiterhelfen konnte ๐Ÿ˜– Eine Freundin empfahl ihm dann Meditation, genauer gesagt die Vipassana-Technik. Seitdem war er von seiner Migräne geheilt und widmete seinem Leben dem Vipassana bis er erleuchtet wurde ๐Ÿ™Œ๐Ÿป Nach vierzehnjähriger Praxis machte er sich 1969 somit zur Mission, so vielen Menschen wie möglich zu helfen und Vipassana zu lehren. In mehr als 45 Jahren half er Hunderttausenden überall auf der Welt ein friedlicheres Leben zu führen ๐Ÿ™ Da Goenka leider bereits 2013 verstarb, gibt es seine Worte im Center nur als Video/ Audio mit Unterstützung des Assitenzlehrers Ross ๐Ÿ‘ด๐Ÿฝ

    Alle Schüler leben von nun an nach dem Stundenplan des Centers: Der Tag startet um 4:00 Uhr morgens. Der Weckruf in Form des Gongs beginnt vor meinem Zimmer und geht dann reihum ๐Ÿ””
    04:30-06:30 Meditation in der Halle oder im eigenen Zimmer ๐Ÿง˜๐Ÿผ‍โ™€๏ธ
    06:30-08:00 Frühstück ๐ŸŒ๐Ÿž๐Ÿš
    08:00-09:00 Gruppenmeditation in der Halle ๐Ÿง˜๐Ÿผ‍โ™€๏ธ
    09:00-11:00 Meditation in der Halle oder im eigenen Zimmer je nach Anweisung des Lehrers ๐Ÿง˜๐Ÿผ‍โ™€๏ธ
    11:00-12:00 Mittag ๐Ÿฒ๐Ÿฅ—
    12:00-13:00 Freizeit und Möglichkeit für ein Gespräch mit dem Lehrer
    13:00-14:30 Meditation in der Halle oder im eigenen Zimmer ๐Ÿง˜๐Ÿผ‍โ™€๏ธ
    14:30-15:30 Gruppenmeditation in der Halle ๐Ÿง˜๐Ÿผ‍โ™€๏ธ
    15:30-17:00 Meditation in der Halle oder im eigenen Zimmer je nach Anweisung des Lehrers ๐Ÿง˜๐Ÿผ‍โ™€๏ธ
    17:00-18:00 Abendessen ๐ŸŽ ๐ŸŠ ๐Ÿฅ
    18:00-19:00 Gruppenmeditation in der Halle ๐Ÿง˜๐Ÿผ‍โ™€๏ธ
    19:00-20:15 Diskurs in der Halle ๐ŸŽง
    20:15-21:00 Gruppenmeditation in der Halle ๐Ÿง˜๐Ÿผ‍โ™€๏ธ
    21:00-21:30 Zeit für Fragen in der Halleโ“
    21:30 Bett- und Ruhezeit ๐Ÿ›Œ ๐Ÿ˜ด

    Keiner scheint sich darum zu scheren, wie er oder sie aussieht. Im Gegenteil: je mehr „I don´t care“-Look, desto besser, hat es den Anschein ๐Ÿคช Sehr ungewohnt und wirklich beängstigend sind die ersten zwei Tage. In einer Welt, in der man immer erreichbar ist, keinerlei Kommunikation mit jemandem zu haben, nicht zu lesen, keine Musik oder Podcast zu hören oder auch nur irgendwas aufzuschreiben ๐Ÿฅบ

    Zunächst ist die extreme Menge an täglicher Mediationspraxis überwältigend. Jeder beginnt am ersten Abend mit zwei Kissen auf dem namentlich zugewiesenen Platz โœŒ๐ŸปAllerdings stocken viele Teilnehmer ihren Kissenstapel bereits auf. Ich, mit meinen 7 Kissen, war damit keine Seltenheit๐ŸงŽ๐Ÿผ‍โ™€๏ธDie physischen Schmerzen im Rücken und in den Knien beim Sitzen haben viele nicht ausgehalten und bekamen eine Lehne, einen Stuhl oder einen Hocker ๐Ÿช‘ So auch ich. Man darf sich am Anfang noch bewegen, sollte dies allerdings so gut wie es geht vermeiden. Es überkommt mich die Angst, irgendwann auch mit solch einem krummen Rücken, wie bei unserem Asstitenzlehrer, zu enden. ๐Ÿ˜จ Meine größten Schmerzen sind im Kopf, was sich später erklären wird ๐Ÿคฏ Die Meditationen finden bei gedimmten Licht statt und natürlich in absoluter Stille. Naja, außer der tägliche Alarm im Darm eines jeden. Ja, und wer hätte es gedacht? Der erste laut tönende Pups kommt von der Damenfront ๐ŸงŽ๐Ÿผ‍โ™€๏ธ๐Ÿ’จ (ich war’s nicht๐Ÿ˜Œ) Allerdings stehen uns die Männer mit ihren Verdauungsgeräuschen in nichts nach. Während der Meditationen überkommt mich teilweise große Müdigkeit ๐Ÿฅฑ Am Ende einer jeden Meditation verfliegt die Müdigkeit jedoch abrupt beim Einsatz von S.N. Goenkas-Gesang. Dieter Bohlen hätte Goenka definitiv nicht in die zweite Runde gelassen. Es ist ein dunkles schiefes Brummen, aber darum geht es ja auch nicht ๐Ÿฅด
    Während der Meditationen kommen mir alle möglichen Gedanken ๐Ÿ’ญ so z.B. komische Vorstellungen, was gerade um ich herum passiert. Jeder hat die Augen geschlossen und sieht nicht, was die anderen machen. Was ist, wenn einer einschläft und von seinem Kissen fällt? Lassen wir die Person dann liegen, weil wir ja mit niemandem Kontakt haben dürfen? ๐Ÿ˜‚

    Abends findet ein Diskurs statt: auf Englisch in der Meditationshalle und auf jeder anderen Sprache im Essensraum über Kopfhörer ๐ŸŽง Mir wurde empfohlen, die deutsche Version zuhören, was vom Verständnis her wohl besser ist. Das zerrte allerdings sehr an meiner Aufmerksamkeit, weil ich dabei eine Stunde gegen eine Wand starre ๐Ÿ˜‘ Die englische Variante wurde mit Video vorgetragen. Eines Abends, als eine andere Deutsche (Pia) und ich bereits früher als die anderen mit unserem Diskurs fertig waren und zurück zur Halle wollten, hatten wir eine Begegnung mit einem Opossum und seinem Baby ๐Ÿฆ Diese waren ganz gedankenversunken getreu des Vipassanas und schlichen langsam vor uns den Weg zur Halle hinauf. Gerne hätten wir miteinander geredet, aber Pia und ich ignorierten uns gegenseitig vorbildlich ๐Ÿ˜ถ Auch Mutter und Kind Opossum wurden von uns ignoriert, da selbst zu Tieren keinerlei Kontakt erlaubt war ๐Ÿ™ˆ

    Die in der Meditationshalle zugewiesenen Plätze gibt es auch beim Essen ๐Ÿฒ Wir wurden darum gebeten nur an unserem Platz zu essen. Daran hält sich jedoch keiner und huscht mit dem Teller an einen möglichst schönen, sonnigen Ort โ˜€๏ธ Ich konnte es keinem verdenken, denn die Mahlzeiten waren irgendwie das Highlight des Tages. Das Essen ist vegetarisch und optional vegan. Meine vegane und glutenfreie Extrawurst war somit kein Problem ๐Ÿ˜‹ Es gab immer eine Reis-Variante für mich und auch Reis zum Frühstück ist gar nicht mal so schlecht ๐Ÿš
    Jede Mahlzeit erinnert an eine unfassbar lahme Party. Alle sitzen und essen, aber keiner redet und starrt fast schon apathisch auf das Essen vor sich ๐Ÿ˜ Viele schlingen das Essen schnell hinunter und huschen zurück auf ihr Zimmer, um zu schlafen ๐Ÿ˜ด Ich genieße die Mahlzeit bis zur letzten Minute und weiß nicht, wann ich das letzte mal nur bewusst geschmeckt habe. Keine Ablenkung am Handy oder TV oder beim Lesen oder Reden… Ein ganz neues und zu empfehlendes Erlebnis ๐Ÿ˜‹

    Nach dem Essen waschen die Teilnehmer oft Wäsche per Hand ๐Ÿงผ , liegen in der Sonne ๐ŸŒž oder gehen spazieren ๐Ÿšถ๐Ÿผ‍โ™€๏ธ Es gibt einen kleinen Rundgang im typisch neuseeländischen Gebüsch ๐ŸŒฟ๐ŸŒด Dieser ist keine 500m lang, aber hat dafür kleine Wasserfälle, Brücken und unfassbar viele Pflanzen aller Art zu bieten. Der Rundgang wird von einer Person täglich mit kleinen Symbolen geschmückt. Die Mehrheit freut sich darüber und antwortet mit kleinen Erweiterungen der Symbole (meist kleine Herzen) ๐Ÿ’– Leider wird auch dies schon als Kontakt gewertet und von einem der Helfer unterbunden ๐Ÿคจ Nun gut, wir drehen weiter jeder unsere Runden, wie der Tiger im Käfig ๐Ÿ‘ฃ
    Neben den Pflanzen entdecke ich unzählige kleine Tierchen. Teilweise bleibe ich 20 Minuten mit 10 cm Abstand vor einer Baumrinde stehen und schaue mir das Treiben der Insekten an ๐Ÿ•ท๐Ÿ•ธ๐Ÿœ๐ŸฆŽDie verschiedenen Vögel, von der Taube bis zum Papagei, bestimmen die Hintergrundmusik eines jeden Tages ๐Ÿฆœ๐Ÿ•Š Der Rundgang öffnet für viele eine schon fast gruselige Verbundenheit mit der Natur, so auch bei mir ๐Ÿฅฐ Am 6. Tag stehe ich einfach nur da und muss vor Freude weinen ๐Ÿ˜ข Es ist einfach alles zu schön, um wahr zu sein: die Farben, die Geräusche, die Gerüche. Wie gesagt, ein fast unheimliches Erlebnis und zugleich so schön ๐Ÿ˜ Mit dem Gebot “Nicht zu töten” bedeutet das auch keine Fliegen, Mücken oder Spinnen zu töten. Das ist sonst so normal für mich und irgendwie auch grausam ๐Ÿ˜ฃ Wer bin ich, zu bestimmen, dass diese Tiere weniger wert sind? Eine weitere schöne Erkenntnis!

    Die Unterkünfte sind spartanisch eingerichtet, aber sehr sauber und vollkommen ausreichend ๐Ÿ› Ich habe genug Platz, um mich täglich im Zimmer zu dehnen und die Verspannungen etwas zu lösen. Yoga und sonstige körperlich anstrengende Bewegungen sind schließlich untersagt ๐Ÿšซ๐Ÿง˜๐Ÿผ‍โ™€๏ธ Das Dhamma Medini in Neuseeland, sowie alle anderen Vipassana-Center, laufen rein auf Spendenbasis ๐Ÿ’ฐ Man spendet am Ende der 10 Tage und auch nur dann, wenn man erfolgreich die 10 Tage durchgehalten hat. Die Spende soll einem weiteren Menschen die gleiche Erfahrung ermöglichen. So wird bei uns eine Teilnehmerin mit Verdacht auf Corona zum Arzt in die nächste Stadt gebracht. Sie muss den Kurs abbrechen und “darf” auch nicht spenden โŒ Sie wird negativ getestet, was die Teilnehmer sichtlich erleichtert ๐Ÿ˜…

    Die eben erwähnten Helfer des Centers sind alle Freiwillige, die längerfristig oder nur kurz im Center sind. Auch mit Ihnen dürfen die Teilnehmer nicht kommunizieren ๐Ÿคญ Es gibt eine Managerin, die im Notfall zur Verfügung steht. Die Teilnehmer lassen sich gerne mal einen “Notfall” einfallen (kein Klopapier mehr da), um wenigstens kurz zu jemandem zu sprechen ๐Ÿงป Es gibt zudem die Möglichkeit, jeden Tag ein fünf-minütiges Interview mit dem Assistenzlehrer zu führen. Ich nehme dies ab dem 5. Tag täglich aus verschiedenen Gründen in Anspruch ๐Ÿ™‹๐Ÿผ‍โ™€๏ธ Von Zweifeln an der Technik über Schmerzen im Rücken bis hin zu purer Verzweiflung kann ich mich innerhalb von fünf Minuten auslassen ๐Ÿ—ฃ Eine Antwort soll man nicht zu ausführlich erwarten. So etwas wie: „Auch das ist keine Tragödie!“ auf die Frage, warum ich meine Gedanken nicht abschalten kann, muss wohl reichen ๐Ÿคฆ๐Ÿผ‍โ™€๏ธ An Tag 6 stelle ich mein bisheriges Leben bzw. meine Art zu leben grundlegend in Frage. Die Lehre von Vipassana, ein Leben in Gleichmut zu führen, passt einfach so gar nicht zu mir โš–๏ธ Ich bin quasi die Ungleichmut in Person. Ich kann in einem Moment himmelhochjauchzend und im nächsten todesbetrübt sein ๐ŸŽญ Auch hierzu lautet die Antwort des Lehrers: „Du bist eben auch nur ein gewöhnlicher Geist“ Leicht frustrierend in diesem Moment, aber umso bedeutungsvoller am Ende des Vipassanas.

    Wir beginnen in den ersten 3 Tagen mit der Beobachtung des Atems. Dieser wird nicht kontrolliert, sondern man beobachtet die Empfindungen durch das Atmen rund um die Nase (innen und außen) ๐Ÿ‘ƒ sowie auf dem kleinen Stück oberhalb der Oberlippe ๐Ÿ‘„ Ab Tag 4 müssen wir für eine Stunde am Stück stillsitzen. Kein Öffnen der Hände, Arme, Beine oder Augen ๐Ÿง˜๐Ÿผ‍โ™€๏ธ๐ŸงŽ๐Ÿฝ‍โ™‚๏ธ Wir scannen von nun an nicht nur den Bereich um die Nase, sondern unseren gesamten Körper (ca. 5 cm² nacheinander von oben nach unten) auf jegliche Art von Empfindungen๐Ÿง๐Ÿผ‍โ™€๏ธ Ab dem 7. Tag geht das Stück-für-Stück-Scannen in einen Flow über ใ€ฐ๏ธ

    Das reine Prozedere macht noch wenig Sinn, daher nun ein wenig mehr zur Vipassana Technik:
    Vipassana wurde von Gotama, dem Buddha, vor über 2500 Jahren in Indien ๐Ÿ‡ฎ๐Ÿ‡ณ wiederentdeckt und als ein universelles Heilmittel für jeden gegen universelle Krankheiten und als eine Kunst zu leben gelehrt.
    Es bedeutet die Realität zu erkennen, wie sie wirklich ist: die echte Wahrheit! Der Fokus liegt auf der tiefen Wechselbeziehung zwischen Körper und Geist โ™พ Man erkennt, dass alles im stetigen Wandel ist und sich alles (sein eigener Körper, seine Umwelt, seine Gedanken) jede Millisekunde ändert ๐Ÿ”„ Diese immer wiederkehrende Änderung ist im Körper spürbar. Alles ist vergänglich. Wenn man das erkennt, lernt man sich nicht mehr nach Gefühlen zu verzehren ๐Ÿ” und an ihnen festzuhalten oder negative Zustände und Gefühle abzulehnen โœ–๏ธ Dies nennt man dann die Kontrolle der Reaktionen auf bestimmte Gefühle, die Entwicklung von Gleichmut ๐Ÿ’†๐Ÿผ‍โ™€๏ธ Es bringt nichts, sich aufzuregen und ebensowenig an einer Situation, einem Menschen, einem Gefühl festzuhalten, weil auch dies vorbeigeht und man es dann nur bedauert ๐Ÿ˜”

    Durch das Scannen und sehr intensive Spüren des Körpers werden ebenfalls die sogenannten „Sankaras“ gelöst. Diese haben sich bei jedem über die Jahre gebildet und im Körper verankert ๐Ÿ˜ˆ Sie zeigen sich indem wir auf bestimmte Empfindungen schnell und unüberlegt reagieren. Der Körper merkt sich „Aha, ich mag keine Kopfschmerzen. Ich lehne diese sofort ab und werde wütend/ traurig/ leidend“ Dies ist eine vorschnelle Reaktion.๐Ÿ˜ก Vipassana lehrt einen die Schmerzen lediglich zu beobachten in dem Wissen und mit dem Gleichmut, dass auch diese vergänglich sind. Man reagiert nicht mehr auf diese Empfindungen ๐Ÿ˜Œ Vipassana soll einem jeden helfen, seine Sankaras, seine vorschnellen Reaktionen auf Situationen und damit verbundenen Gefühle, zu kontrollieren und ihnen weise zu begegnen, sonst tragen wir diese nach Außen und an unsere Umwelt ๐Ÿง 

    Das alles liegt dem „Dhamma” zugrunde, dem Gesetz der Natur ๐ŸŒŽ Der Weg des Dhamma, welcher durch die Vipassana-Technik gegangen wird, besteht aus 3 Stufen. 1๏ธโƒฃ „Sali“, die Basis der moralischen Grundsätze, welche wir mit dem Code of Discipline eingegangen sind. 2๏ธโƒฃ „Samadhi“, die Konzentration des Geistes, indem wir lernen unseren Atem und später die Empfindungen zu beobachten. 3๏ธโƒฃ „Panna“, das Erkennen der inneren Weisheit und bewusst zu steuern wie wir reagieren. Ganz schön viel verlangt, wenn man in der heutigen zivilisierten Welt lebt und sekündlich Dinge auf einen prallen ๐Ÿ”› Wie soll man dies die ganze Zeit kontrollieren, wenn man nicht gerade allein im Wald lebt? Goenka, der Buddhas Lehre weitergibt, antwortet darauf, dass jeder weniger im “Ich”, dafür mehr im “Wir” leben muss. Nur so beginnt ein positiver Einfluss auf die Mitmenschen ๐Ÿ‘ซ Im Umgang mit täglichen Umständen, sollten wir nicht keinerlei Reaktionen mehr zeigen, aber versuchen zu erkennen, was sich grade im Körper abspielt. Wenn ein Sankara (eine schlechte Angewohnheit auf etwas zu reagieren) auftritt, sollen wir Gleichmut bewahren. Die gesamte Praxis von Vipassana ist somit wie geistiges Training im Fitnessstudio ๐Ÿ‹๐Ÿผ‍โ™€๏ธ

    Long story short: Be happy! ๐Ÿ˜ƒ Lebe diesen einzigen Moment jetzt gerade und sei dir dessen bewusst! Sich nach etwas zu verzehren oder eine Abneigung zu entwickeln ist sinnlos. Es geht eh vorbei. Ein guter Start ist sich selber zu lieben und zu erkennen, dass der eigene Körper so vergänglich ist ♥๏ธ

    Das mit dem Gleichmut kann ich sehr gut in dem geschützten Rahmen des Centers für mich testen. Wobei ich in den ersten Tagen komplett versage; z.B. ärgere ich mich tierisch über Haare im Waschbecken, find es unmöglich, wenn andere Teilnehmer sich zu viel Essen nehmen oder Sport auf dem Gelände treiben ๐Ÿคฌ Bei all diesen Kleinigkeiten soll ich nun ruhig bleiben und sie lediglich beobachten. Schwer nur, wenn man würgend vorm Waschbecken steht und sich dort die Zähne putzen muss… ๐Ÿ˜– Naja, die Sache mit dem Gleichmut ist eben nicht so einfach.
    Eine Frage von mir an unseren Lehrer handelt vom Wiedersehen mit Philipp, worauf ich mich freue. Geht es aber danach gleichmütig zu sein, dürfte ich das auch nicht mehr ๐Ÿ˜ฉ Seine mal wieder ernüchternde Antwort: Buddha hat damals Nonnen und Mönche, die ein Verlangen nach körperlicher Zuneigung verspürt haben auf Friedhöfe geschickt, um dort Leichen auszugraben und somit keinerlei Verlangen mehr zu spüren. Danke, reicht! ๐Ÿ˜

    Die zehntägige stille Meditation wird auch als eine Operation an der Seele bezeichnet. Es kommen wahnsinnig viele Dinge in mir hoch, wenn ich so viel mit mir allein beschäftigt bin. Vielen der Teilnehmer laufen oft die Tränen runter, Männern wie Frauen und das nicht nur wegen physischer, sondern auch psychischer Schmerzen ๐Ÿฅบ Kindheitserinnerungen, aktuelle Probleme oder Zukunftsängste sind an der Tagesordnung. Das Vipassana ist alles, nur kein Retreat oder eine Auszeit vom Alltag. Es ist harte Arbeit! Ich bin eigentlich ziemlich nah am Wasser gebaut, aber ich muss lediglich ein Mal weinen. Mehr plagen mich die extremen Kopfschmerzen, die ich sonst sehr selten habe ๐Ÿคฏ Uns wurde erklärt, dass neue Verknüpfungen im Gehirn stattfinden, die alte Verhaltensmuster neu wiederaufbauen ๐Ÿ’†๐Ÿผ‍โ™€๏ธ Meine Sinne fühlen sich zudem extrem geschärft an: Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen, einfach alles ist sensibilisiert๐Ÿ’ฏ

    Der vorletzte Tag beinhaltet eine Einleitung in die Metta-Meditation. Dies ist das Hinaussenden von Energie/ Liebe an seine Mitmenschen ๐Ÿ’“ Dies soll man nur mitmachen, wenn man sich selbst vergeben und ein reiner Geist sein kann. Hier wird es noch mal hochsentimental bei vielen. Es wird geweint und geschluchzt, weil die Selbstvergebung wohl eine der größten Hürden der Teilnehmer ist ๐Ÿ’”

    Am letzten Tag werden wir auf den Alltag draußen vorbereitet. Es wird weiterhin harte Arbeit und bedingt tägliche Praxis, dieses Mindset im Alltag zu behalten. Um einen leichten Einstieg in die laute Außenwelt zu haben, schweigen wir nur noch bis 15 Uhr ๐Ÿ•’ Man spürt schon die Unruhe auf dem Gelände, endlich wieder reden zu können. Das Schweigen hat, nachdem wir wieder anfangen zu reden, erst vollkommen Sinn für mich gemacht. Es solle eine vollkommene Isolation sein, nur für sich selbst und weg von anderen Einflüssen. Die Konzentration liegt nur auf einem selbst, da nur so alle Empfindungen und Gedanken klar werden. Pünktlich 15 Uhr ertönen schon die ersten Gelächter und der Zauber der Stille ist vorüber ๐Ÿง๐Ÿผ‍โ™€๏ธ so ändern sich auch die vorschnellen Urteile, die ich mir während der 10 Tage über andere gebildet habe, meist zum Positiven! Ich habe mit wildfremden Menschen 10 Tage dicht an dicht gelebt und nun höre ich viele das erste mal sprechen ๐Ÿ—ฃ Es wird schon fast zu laut, aber mindestens so laut, wie am ersten Tag. Nach ein paar Stunden lass ich mich einfach treiben. Wir sind nun sogenannte „alte Schüler”, da wir zehn Tage Vipassana-Meditation praktiziert haben ๐Ÿ‘ฉ๐Ÿผ‍๐ŸŽ“ Viele von den Teilnehmern würden es nicht noch mal machen oder bräuchten eine lange Zeit vor ihrem nächsten Mal. Ich, persönlich, kann es mir allerdings schon nächstes Jahr wieder vorstellen โ˜๐Ÿป

    Ich habe gelernt allein zu sein, in Stille und dass dies einfach wunderschön sein kann ๐Ÿฅฐ Ich muss mich nicht immer um alles sofort kümmern. Ich muss keine Angst in oder vor bestimmten Situationen haben oder gar Panik. Wenn es eine schöne Situation ist, weiß ich nun, dass ich mich freuen kann, aber dass auch diese Freude vergänglich ist. Und all das ist vollkommen ok, wenn man einfach nur im Hier und Jetzt ist! Wenn man das schafft, erlebt man Glücksgefühle wie in sonst keiner Situation im Leben, und das nur im Sein๐Ÿ€

    Mit Goenkas abschließenden Worten nach jeder Meditation: Mögen alle Wesen frei von Aversion und glücklich sein. Möge überall Frieden und Harmonie herrschen โ˜ฎ๏ธ
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