Satellite
  • Day 3

    Erst hektisch, dann wie in Zeitlupe

    April 24, 2022, Adriatic Sea ⋅ ⛅ 15 °C

    Wir sind viel zu früh am Fähranleger in Fusina. Die Anfahrt führt durch ein verwirrendes und abweisendes Hafengelände. Zwei erfahrene Wiesbadener Mobilcamper (Typ Kastenwagen) werden uns später auf der Fähre berichten, dass sie direkt am Check-In der Fährgesellschaft die Nacht in ihrer rollenden Unterkunft verbracht haben. Aber warum? Ist es Ziel des Vanlifes, an möglichst hässlichen Plätzen zu übernachten? Da war unsere italienische Villa mit einem Frühstücksraum in den 4711-Farben türkis und gold ansprechender. Und die mit einer Creme überbordend gefüllten frischen Teilchen sowieso.
    Unser Plan, in der Schlange vor der Fähre alles Nötige für die Überfahrt von Venedig nach Igoumenitsa ordentlich neu zusammenzustellen und in eine Tasche zu packen, geht nicht auf. Wir werden unmittelbar nach Ankunft an allen vorbei gewunken, da ein Mitarbeiter der Reederei mit geschultem Blick erkennt, dass unser Bulli genau jetzt in eine wie für ihn geschaffene Lücke tief in den Bauch der Fähre muss. Hektik macht sich breit. Wo sind die Papiere? Die Pässe? Rike muss aussteigen und als Fußgängerin auf die Fähre. Warum? Werden wir uns wiedersehen, wenn ja, wo?
    Am Ende wird alles gut. Wiedervereinigung auf Deck 8. Die Außenkabine riecht streng (wie mögen erst die Kabinen duften, in denen Haustiere zugelassen sind?) und ist tiefgekühlt. Woran man nichts machen könne, in einer Stunde würde es besser. Was sich so als nicht richtig herausstellt, oder die griechische Stunde dauert viel länger. Wie überhaupt alles auf einem Schiff wie in Zeitlupe stattfindet. Die Langsamkeit der Fortbewegung scheint sich auf Schiffspersonal und alle Mitreisenden zu übertragen. Die wiederum sind entweder Rentner (viele) oder Trucker (auch viele, die sich häufig temperamentvoll unterhalten, vielleicht auch streiten, aber durchweg in unverständlichen Sprachen) oder Familien mit Kindern, die noch durch die Schule zu gebildeten Menschen gemacht werden müssen (wenige). Außerdem vier Biker (zweimal BMW, zweimal Harley, letztere mit dicken Bäuchen) und zwei allein reisende Rucksack-Touristinnen mit alternativem Touch, verklärtem Blick und Kindle-Reader.
    In diesem Slow-Motion-Setting bleibt viel Zeit. Zum Beispiel um den Lido vor Venedig zu bewundern sowie die gesamte zugehörige Lagunenlandschaft, die eine eigentümliche Melancholie ausstrahlt. Auch Felix Masterarbeit will ein letztes Mal gelesen werden, und Rike nutzt die geschenkte Entschleunigung, um in einem Zug einen Krimi zu verschlingen. Ich selbst tippe diesen und die zwei Vorgängerblogs ein und beginne ein sehr stimmungsvolles Buch, das die Geschichte einer Familie im Banat erzählt und den poetischen Titel „Die Unschärfe der Welt“ trägt. Das passt, denn auch auch die Fährfahrt macht alles unschärfer, verschwommener und unwirklicher … Ihr merkt: Es wird Zeit, dass die Schaukelei ein Ende hat und der Kopf wieder klar wird. Noch 3 Stunden bis Igoumenitsa …
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