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  • Day 19

    Gespenstisch gut Kirschen essen

    February 4, 2018 in Argentina ⋅ ☀️ 1 °C

    Schlafen im Bus nach Los Antiguos ging eigentlich ganz gut. Der Fahrer machte seine Arbeit wirklich gut und die Sitze hatten bis auf die beschränkte Beinfreiheit viel Komfort zu bieten. Aber es gibt halt immer diesen einen Menschen, der sie alle schafft. In diesem Fall eine im pinken Jogging-Anzug gekleidete stämmige Dame, wohl etwa in meinem Alter. Einfach älter. Ramona, wie sie höchstwahrscheinlich heisst, ist bei einem ersten Zwischenstopp zugestiegen, was ich dank einer ersten Tiefschlafphase im Melatoninrausch nicht mitbekommen habe. Erst eine Stunde vor Ankunft, nachdem ich meine Oropax entfernt habe, erkenne ich das Ausmass des Leidens meiner Mitinsassen der unteren Car-Ebene. Andere dürften weit weniger geschlafen haben als ich. Hoffentlich ist niemand bewaffnet, denn das könnte bei der Ankunft eng werden für Ramona.

    Ich bin mir (fast) sicher, Ramona ist ein liebenswerter und kongenialer Mensch. Aber das?! Das gehört nicht in einen Schlafwagen oder die Öffentlichkeit, das gehört in eine Klinik. Die Dame leidet augen- bzw ohrenscheinlich an einer dramatischen Form der Schlafapnö, wie das in der Form wohl keiner der Mitfahrenden je erlebt hat. Bis zu 30 Sekunden (!, ich habe die Zeit gestoppt) liegt Ramona regungslos da (und es wäre sicher nicht ganz zutreffend zu sagen, man hofft in den 30 Sekunden irgendwie, dass es das war mit Ramona ... das wäre etwas gar drastisch, aber in der Tendenz zutreffend), ehe ihr Körper hyper-panisch um Luft ringt und ähnlich einem Freitaucher nach mehreren Minuten unter Wasser literweise Leben zurück in die Lungen saugt. In ihrem Fall allerdings begleitet von diesem fiesen, kratzbürstigen Röcheln. Meine Fresse geht die ab.

    Einige denken jetzt sicher, ach komm, der übertreibt doch. Der hat ja in Brusimpiano auch schon den kaum hörbar schnarchenden und unfotogenen Robin mit dem Kissen versucht zu ersticken ... Aber hey, die Leute im Bus fangen sogar an Videos von Ramona aufzuzeichnen, wohl für die Gerichtsverhandlung nach der Mordanklage gegen unbekannt. Das geht mir dann aber doch zu weit. Ich lasse aus sicherer Entfernung das Band mitlaufen. Das wird zwar nicht im Ansatz das effektive Akustik-Inferno im Taqsa-Bus dokumentieren können, aber vielleicht den Hauch einer Idee der Frequenz und des sich überschlagenden Taktes geben. Wer nämlich versucht im Rhythmus mitzuatmen, wie man das im Militär neben Schnarch-Nasen gerne versucht hat, fühlt sich wie beim Versuch Walzer zu tanzen, während Dubstep-Pionier Skrillex an den Turntables steht und sein Bangarang zum Besten gibt (https://youtu.be/YJVmu6yttiw).

    Nach unserer ersten und erstaunlich positiven Camping-Experience in El Chalten, haben wir uns in Los Antiguos für ein Airbnb-Zimmer in einem kleinen Haus entschieden. Also keine ganze Unterkunft für uns. Ehrlich gesagt ist es wie schon das Camping einfach die günstigste Variante, bei der wir noch einen eigenen Raum für uns alleine haben. Wir werden also von Susana (mit etwas Verspätung) vom Bus Terminal abgeholt und zu ihr nach Hause chauffiert. Das Haus ist winzig, aber süss. Wie jedoch die in Airbnb beschriebenen 10 Personen darin Platz finden sollen, ist und bleibt mir ein Rätsel. Wir bleiben zum Glück die einzigen Gäste für die zwei Nächte. Susana scheint sich voll und ganz dem Airbnb-Mama-Dasein verschrieben zu haben und so stehen 2 Minuten nach der Ankunft bereits Kaffee, Tostadas und frischer Orangensaft auf dem Tisch.

    Doch auch mit Susana stimmt etwas nicht, die Frau quasselt ohne Unterbruch. Seit der herzlichen Begrüssungsumarmung am Bus Terminal steht der Kiefer nicht mehr still. Da ich selber kein einziges Wort von ihr verstehe, sie spricht nämlich weder Englisch noch langsam, gehe ich davon aus, dass sie sich irgendwie mit Sue unterhält. Sue gibt denn auch ab und zu einige Laute von sich, aber ihr hilfesuchender Blick am Küchentisch verrät, dass auch bei ihr keine 10% vom Gesagten einen Sinn ergeben. Die ältere und sicher sehr nette Dame kommt mir ein wenig vor wie die Zerzauste bei den Simpsons. Die mit den vielen Katzen, Tiere hats hier nämlich auch einige. Genau, Crazy Cat Lady. hektisch, durch den Wind, laut, immer mit den Tieren beschäftigt und keiner hat eine Ahnung, was sie will oder macht. Wirklich faszinierend, nachdem ich ihr in astreinem Schul-Spanisch erkläre „despacito por favor, non ablar bien espaniol“, scheint das ihre Taktfrequenz gar weiter zu erhöhen. Lachend erzählt sie mir weitere lustige Anekdoten aus ihrem Leben und lässt mich doch komplett im Dunkeln. Die frisst doch sicher auch diese komischen Beeren, die sind wirklich nicht gut fürs Gehirn.

    Apropoz Beeren, es sind die Kirschen, die diesen Ort speziell machen. Die gibts hier überall und immer. Wären Mont Cherry aus Südamerika, sie kämen aus Los Antiguos. Mehr aber auch nicht. Und ich mag weder Mont Cherry noch Kirschen besonders. Das Städtchen ist trotz Hochsaison irgendwie verschlafen und fast schon gespenstisch ruhig. Auch am schönen See tut sich eigentlich gar nichts. Wäre also gut möglich, dass Crazy Cat Lady durch ihr unaufhörliches und unverständliches Gerede in erster Linie der gespenstischen Stille entgegen wirken will, welche sie selber in den Wahnsinn treibt. Irgendwie klappt das aber nicht und macht die ganze Szenerie eher noch ein wenig unheimlicher. So sind denn auch die Offices der einzigen zwei Reiseagenturen trotz aktueller Öffnungszeit nie besetzt. Wo sind bloss alle? Grosse Party und niemand sagt uns doofen Touris Bescheid? Oder erwachen die Halbtoten erst nach Sonnenuntergang zum Leben? Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass Sonntag ist und es die Locals hier eher mit Monica Morells „Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an“ haben (... am Montag feierten die Los Antiguaner dann ganz zufällig ihren 70. Geburtstag, da waren dann tatsächlich ein paar Leute an der Parade). Wir nutzen die halbwegs funktionierenden Velos (eines hat ein klapprige Rücktritt-Bremse, das andere keine) und cruisen einige Stunden durch die Gegend, während unsere Kleider bereits zum Trocknen in der Sonne hängen. Genau, unsere Haupt-Mission war dank eigener Waschmaschine im Hinterhof ein Klacks und mit zwei schnellen Waschgängen auch schon erledigt. Wir riechen also wieder gut. Anders als sonst, aber gut.

    Da wir uns für keine der zwei möglichen Exkursionen in der Nähe von Los Antiguos begeistern konnten (und auch zweifeln, dass jemand erschienen wäre solange es hell ist), lautet unsere zweite Mission die Planung der nächsten Wochen. Schliesslich reichen unsere bisher getätigten Buchungen nur noch ein paar Tage bis Bariloche und wir sind uns nicht sicher, ob wir das Haus vor unserer Abreise nochmals verlassen sollen. Crazy Cat Lady scheint nämlich auch äusserst verwirrt, so legt sie uns zum Frühstück gerne mal zwei Messer neben jeden Teller (eines zum Essen und eines zum Kämpfen?!) und als wir am Abend zuvor gegen 22:30 vom Abendessen zurück kamen (meine Fresse war das Fleisch wieder ein Traum, Bife de Chorizo vom Allerfeinsten), war die ganze Hütte verschlossen. Einen Schlüssel hatten wir bis dato nicht erhalten und so waren wir froh, unser Zimmerfenster einen Spalt offen gelassen zu haben. Geschlafen haben wir dann wieder erstaunlich gut.

    Unsere nächste Destination: Bariloche, das Patagonische Davos. Oder auch nicht. Wir haben einen 13h-Taqsa-Bus tagsüber gebucht und hoffen ihn weder mit Ramon noch Ramona zu teilen. Wir werden sehen ...
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