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  • Day 440

    Samir und andere Träumer

    April 1, 2019 in Azerbaijan ⋅ ☁️ 11 °C

    So, Schluss jetzt. Eine ganze Woche Rückzug mit viel Tee, Tabletten und Tablet muss reichen. Aus- beziehungsweise eingeschlossen wie der Glöckner von Notre Dame. Einfach mit iPad. Das Leben und somit die Reise geht weiter. Auch wenn ich immer noch aussehe, als ob ich mich mit dem Fahrrad und ohne Helm auf die Fresse gelegt hätte. Egal. Ich will die kleine Sue jetzt wiedersehen. Die Arme hat genug gelitten. So ganz ohne mich unterwegs zu sein, ist bestimmt nicht lustig. Egal was ihre Reiseberichte sagen. Doch kaum in Azerbaijan gelandet, verweigert man mir auch hier die Einreise. Vorerst. Die zwei Mädels vom Grenzwachcorps beäugen unentschlossen mein Passbild. Frau ist sich einfach nicht sicher und ein dritter Beamter - der Schichtführer? - wird hinzugezogen. Doch auch der bärtige Witzbold zweifelt an der Übereinstimmung. Man will weitere Dinge sehen, die meine Identität bestätigen können. Echt jetzt? Ratlos zücke ich ID, Mastercard, Visa, Miles & More Frequent Traveller, Coop Supercard und eine Kebab-Stempelkarte. Nicht dass da andere Fotos drauf wären, aber was hat Kamerad Schwungrad denn erwartet? Dass ich noch weitere Pässe mit anderen Fotos bei mir habe?! Träumer. Und ich hab ja gesagt, ich sehe aus wie ein Unfallopfer. Armer Junge. 

    Auf die Frage, ob ich auf dem Foto oder in echt besser aussehe, erhalte ich keine Antwort. Noch nicht einmal ein Lächeln. Fuck you. Als Gegenfrage will der dämliche Schichtführer den PIN-Code meiner Visa wissen. Dafür gibts auch von mir kein Lächeln. Verdammter Komiker. Irgendwann ist dann fertig Cabaret und ich darf auch in dieses Land einreisen und mein teures Geld verpulvern. Aber ja, das Netz zieht sich wohl langsam zu. Offensichtlich Zeit wieder in Richtung Schweiz zu schielen. Zuerst schiele ich aber in der Empfangshalle von Baku noch nach einem Empfangskommitee. Und siehe da, irgendwo winkt tatsächlich jemand mit einem Schild mit meinem Namen drauf. Für einen Moment glaube ich die Taeschler Sarah zu erkennen. Sehe dann aber doch die kleine Sue hinter dem „Pasci Pfupf“ Schild. Total süss. Schau Foto. Und so haben wir nach einem Monat solo zum Glück wieder zusammengefunden. Oder in anderen Worten: Ade Freiheit und Flexibilität. Hallo warten, warten, warten ... Aber hey, der Sex ist toll. 

    Baku ist auch toll. Auf den ersten Blick. Total prunkvoll, sauber und eine gelungene Mischung aus alt und neu. Historisch und modern. Das Internet warnt uns allerdings vor diversen Scams. Touristen werden hier gerne abgezockt und wir sind ab sofort total wachsam. Zum Glück kommt mein Kopf langsam wieder in Form und lässt eine gewisse Wachsamkeit zu. Ich kann stellenweise sogar wieder mein Cap anziehen und den coolen Typen spielen. Die aufwändig bearbeitete Front sieht aber nach wie vor hässlich aus. Echt grässlich. Wie eine riesige, mehrere Millimeter dicke Schuppenflechte, die sich allmählich und in kleinen Stücken ablöst. Wann immer ich den Kopf senke, schneit es. Da es die Tage nicht nur in mein Essen rieselt, sondern auch sonst pisst, verpissen wir uns in Richtung Berge nach Quba. Bevor es losgeht, beäugen wir aber noch das kleinste Buch der Welt. Das grösste Buch durften wir ja in Myanmar bestaunen. Aber das hier ist etwas schwieriger. Ich für meinen Teil sehe das 0,3 Millimeter grosse und einundzwanzig Seiten starke Teil gar nicht. Ist einfach ein kleiner Punkt. Lustig. Ich muss weg.

    Wir gönnen uns in Quba zur Abwechslung ein ziemlich schickes Hotel mit einem ziemlich lustigen Lift. Für die dritte Etage soll man die „2“ drücken und für die fünfte Etage das „R“. Wie auch immer. Wir sind nicht auf der Suche nach einem Schindler Lift, sondern nach den schneebedeckten Bergen des Kaukasus. Genauer gesagt wollen wir für ein paar Stunden nach Xinaliq - das höchst gelegene Dorf Europas. Wäre es denn in Europa. Aber auch das ist egal. Azerbaijan will um jeden Preis Europa sein und da spielt die geografische Lage keine Rolle. Von mir aus. Trotz herrlichem Wetter und Google ist die Verständigung mit unserem Lada-Fahrer Samir schwierig. Er versichert uns aber per Whatsapp und allerlei Bildern von irgendwelchen Jeeps, dass sein Lada locker den Berg hoch kommt. Auch ohne 4x4. Alles „no problem“. Xinaliq liegt mit 2’350m einiges höher als Juf in Graubünden, das mit 2’126m als die höchste Gemeinde Europas gilt. So oder so, sicher verdammt kalt da oben. Wissen werden wir es aber nie. Zusammen mit Samir und seinem Kack-Lada bleiben wir nämlich auf halbem Weg im Schnee stecken. Toll gemacht. Samir. Für einen Spaziergang im Schnee reicht es trotzdem. Nach zweieinhalb anstelle der geplanten fünf Stunden zurück am Busbahnhof will der Samir dann trotzdem seine sechzig Manat - etwa fünfunddreissig Stutz. Oder zumindest fünfzig. Verdammter Träumer. Wir geben ihm dreissig und fühlen uns trotzdem subtil abgezockt. Kein guter Start. Azerbaijan. Sex hin oder her.

    Bevor es weiter in Richtung Westen und Georgien geht, verbringen wir zwei weitere Tage in und um Baku und unternehmen unter Anderem eine Tour zu den bekannten „mud volcanos“. Muss man gesehen haben, sagt das Internet. Unser Guide heisst auch hier Samir. Dank Regen sind aber nicht nur die Vulkane matschig, sondern auch die einzige Strasse da hoch. Und so bleiben wir auch mit diesem Samir stecken. Diesmal im Schlamm. Toll. Ausser das total poshe Baku will uns das ach so tolle Azerbaijan also nicht viel zeigen. Verdammte Zicke. Oke, ein paar Dinge haben wir schon gesehen. Darunter den brennenden Feuertempel, den brennenden Burning Mountain und die nicht brennbaren Petroglyphen. Trotzdem. Scheiss Zicke. 

    Aber ich will ehrlich sein. Ich bin auch einfach etwas müde. Reisemüde. Ich interessiere mich sehr für die Länder, Städte und Menschen die noch auf unserer Liste stehen. Und trotzdem lässt die Spannung spürbar nach. Gut möglich, dass wir in ein paar Wochen tatsächlich wieder zu Hause sind. Und das schreibe ich jetzt nicht, weil heute der 1. April ist. Vielleicht schon. Egal. Unser bisheriges Fazit zu Azerbaijan ist nicht besonders berauschend. Das Land ist generell teuer und man kriegt gefühlt weniger fürs Geld als andernorts. Und wie das Internet prophezeit hat, kostet auch einfach alles mehr, als zuerst angenommen. Das Zimmer (Mitarbeiter hätte einen Fehler gemacht), Ausflüge (Eintrittspreise haben sich erhöht), ja sogar der Tee (Livemusik spielt gerade). Keine offensichtlichen Scams, aber doch irgendwie subtile Abzocke. Das Essen hier gehört ebenfalls ins untere Mittelfeld. Und die Leute? Naja. Irgendwie eingebildet. Das Land sei ja soo reich und die weltweite Erdölindustrie fand dank der schwedischen Gebrüder Nobel - die beiden älteren Brüder des Stifters des Nobel-Preises - in den 1870ern hier in Baku ihren Anfang. Und dann sind da natürlich noch der meeega geile Eurovision Song Contest und diverse grossartige Sportveranstaltungen. Verlässliche Fahrpläne gibt es hier trotzdem nicht. Pfeifen.

    Es scheint auch, als ob das Land den Ausstieg aus der Erdölindustrie verpasst. Das knapp drei Milliarden schwere und furchtbar sinnvolle Projekt zum Bau des höchsten Gebäudes - immerhin 1,3 Kilometer! - wurde nach der Fertigstellung des Fundaments und aufgrund des eingebrochenen Erdölpreises vorerst auf Eis gelegt. Man hofft nun, dass irgendwelche Emirate einspringen und das Projekt fertigstellen. Als ob die Araber wollen, dass das höchste Gebäude der Welt in Azerbaijan steht. Träumer. Wahrscheinlich würden die drei Milliarden sowieso nicht reichen. Zum Schluss heisst es einfach die Stahlpreise hätten sich erhöht, ein Mitarbeiter habe ausserdem einen Rechenfehler gemacht und aufgrund permanenter Livemusik auf der Baustelle kostet das Projekt nun doch sechs Milliarden. Verdammter Scam eben. Aber wie immer geben wir nicht so schnell auf. In Gabala weiter westlich soll es neben einem beliebten Skiressort auch einige Wineries geben. Das hat noch immer geholfen. Mal schauen.
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