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  • Day 106

    Potosi - Der Berg der Menschen frisst

    February 20, 2019 in Bolivia ⋅ ⛅ 12 °C

    Die Diskussion und Recherche betreffend dem Besuch der aktiven Minen im Cerro Rico (reicher Berg) findet bereits einige Wochen bzw. einige Tage vorher statt. Ist es gefährlich? Wieviel schädliche Stoffe atmen wir ein? Ist es moralisch vertretbar? Platzangst usw.? Anscheinend hat der Berg schon über 8 Millionen Menschen "gefressen". 1545 wurde er entdeckt und Potosi galt lange als die reichste Stadt Südamerikas. Heute ist sie eine der Ärmsten, irgendwie tragisch.
    Als wir in der höchsten Stadt Boliviens (4070m hoch) ankommen, lächelt uns der Berg schon von weitem an.
    Wir können ihm nicht widerstehen und entschliessen uns, die Minen zu besuchen und melden uns für die Morgentour an. Mit dem Bus fahren wir zuerst ins Depot wo wir mit Jacke, Hosen, Gummistiefel, Helm und Lampe entsprechend eingekleidet werden. Anschliessend geht es weiter in einen kleinen Laden, um Geschenke für die Mineure zu besorgen. Über Helme, Lampen, Getränke, Dynamit, Schaufeln und weiteren Arbeitsmaterialien ist hier alles zu finden, was man so braucht um in den Minen zu arbeiten. Unser Guide Oskar erzählt uns bei dieser Gelegenheit, wie das so läuft in den Minen: Der Berg gehört dem Staat und es gibt sogenannte Cooperativas wo man sich einmieten kann und dann quasi eine Mine zum Arbeiten erhält. Keinerlei Erfahrung ist notwendig und wenn wir möchten, können wir uns gleich mit Matetial eindecken (jeder Mineur muss seine eigenen Arbeitsutensilien kaufen) und in den neuen Job einsteigen. Nach reiflicher Überlegung lehnen wir jedoch dankend ab und begnügen uns noch ein bisschen länger mit dem Reiseleben.

    Nun zurück zu den Geschenken, wir erwerben jeweils eine Flasche Süssgetränk, eine Flasche Wasser und eine Stange Dynamit (ja richtiges Dynamit) mit Zündschnur und Zünder für 34 Bolivianos (4.90 Chf) alles zusammen. Zur Stärkung erhalten wir noch ein Schluck 96% Alkohol, welcher in der Mine das wohl beliebteste Getränk ist wie wir später selber noch erfahren. Prost.
    Bei der Mine angekommen, gehen wir noch schnell hinter die Steinhaufen ein Angstbisi machen und schon verabschieden wir uns vom Tageslicht für die nächsten 2 Stunden. Die einzige Lichtquelle sind unsere Stirnlampen. Wir betreten die Minen der 2. grössten Cooperativa am Cerro Rico und müssen schon das erste Mal rennen (auf ca. 4500MüM!), denn uns kommen mit 2 Tonnen Gestein gefüllte Looren entgegen (ja die Mine ist in Betriebszustand!). Im letzten Moment springen wir auf die Seite und die Looren donnern eine nach der anderen an uns vorbei. Die leeren Looren, die noch ca. 400kg. wiegen, werden auf der gleichen Schiene wieder hereingezogen und müssen, bei entgegenkommenden Looren, aus den Schienen gekippt und anschliessend wieder aufgerichtet werden. Immer wieder übergeben wir den vorbeidüsenden Mineuren mit riesigen Hamster-Cocablätter-Backen unsere mitgebrachten Geschenke. Beim Tio angekommen erklärt unser Guide (Oskar war wirklich herrvorragend und er arbeitete 24 Jahre in dieser Mine), dass die Mineure nur ausserhalb der Minen an Gott glauben, jedoch drinnen der Tio und Patchamama (Mutter Erde) verehrt werden. Der Tio ist eine teufelsähnliche Figur, ihm wird unter anderem möglichst purer Alkohol geopfert, damit er den Mineuren möglichst pure Mineralien zurückgibt. Nach einer kurzen Zeremonie geht es weiter einen extrem engen Schacht hinauf. Klettern ist angesagt und für Menschen die nur wenig mehr als wir auf den Rippen haben, wäre diese Kletterpartie nicht möglich. Oben angekommen können wir mit dem hier arbeitenden Mineur sprechen (wir können allgemein mit allen Mineuren sprechen und so viele Fotos machen wie wir möchten). Nach dem schweisstreibenden Abstieg geht es weiter den Korridor entlang. Ich merke nebenbei, dass ich bereits nach 100m die Orientierung verloren habe. Als nächstes steht uns ein Abstieg von ca. 35m bevor. Über kleine Holzbretter überqueren wir Löcher deren Tiefe wir nicht genau sehen können (und wollen). Leitern und Seile suchen wir vergeblich. Auf allen Vieren krakseln wir schweren Atems herunter. Unten angekommen dürfen wir uns an einer Silberader als Mineure versuchen. Mit Feustel und Meissel bearbeiten wir den Fels und sind nach ein paar Sekunden bereits ausser Atem. Als Andenken dürfen wir ein wenig Silbererz mitnehmen. Wir opfern und trinken noch ein 96% Alkoholfläschchen mit den Mineuren (zum Glück mit 50/50 Wasser verdünnt). Nun geht es weiter denken wir. Aber falsch gedacht. Da man von Gott 2 Hände, 2 Augen etc. erhalten hat, soll man auch 2 Alkoholfläschchen trinken. Somit geht die Trinkrunde weiter. Wir bleiben sicher 30 Minuten hier unten, die Mineure scheinen das Alkohol-Chränzli mit uns zu geniessen. Auch erfahren wie noch etwas mehr über das Leben der Mineure. Wenn sie Neulinge im Job sind, verdienen sie 30 Bolivianos (4.50 Chf) pro Tag. Nachdem sie sich schon etwas auskennen (nach 1-2 Wochen) gibt es ein Gehalt von 130 Bolivianos (knapp 20 Chf). Wir sind mittlerweile voller Staub, die Hände sind weiss. Nun ist es nicht besonders lecker, sich mit diesen Händen die Cocablätter ins Mund zu stecken. So wird zuerst über die Hände gebrünzelt, damit diese wieder "sauber" sind und erst dann erfolgt die Einnahme.
    Nachdem wir nun den Alkohol endlich fertig getrunken haben, überreichen wir hier unser Dynamit-Geschenk und widmen uns dem Aufstieg. Oben angekommen geht es in gekrümmter Haltung wieder Richtung Ausgang. Nicht jedoch ohne alle 50m auf die Seite springen zu müssen. Vor dem Ausgang treffen wir noch Mineure die den gleichen Weg wie wir machen, jedoch mit 50kg. Gestein im Rucksack. Diese Mineure sind jedoch nicht langsamer als wir! Nach den 2h in der Mine wissen wir den aufrechten Gang und die frische Luft sehr zu schätzen.
    Ist es gefährlich? Ja sicherlich. Aber unser Guide hat uns super betreut. Wieviel schädliche Stoffe atmen wir ein? Wissen wir nicht genau aber wir hoffen unser Alibi-Mund-Nasen-Tuch hat uns geschützt. Ist es moralisch vertretbar? Ja wir denken schon. Die Mineure freuen sich über die Geschenke und Gespräche. Platzangst usw.? Hatten wir zum Glück nicht und steckengeblieben oder schlimmeres sind wir auch nicht.
    Für 18'000 Menschen (darunter ca 360 Frauen) ist dieses Leben im Cerro Rico Alltag, für uns zum Glück einmalig. Wir sind nach dieser Tour total erledigt aber sind der Meinung, dass sich dieses once-in-a-lifetime Erlebnis mehr als gelohnt hat.
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