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  • Lautes Rufen

    July 1, 2017 in Italy ⋅ ⛅ 16 °C

    Lautes Rufen. Die Abruzzen rufen schon lange, aber irgendwie nie laut genug. Nun ist es soweit, mich zieht es mit aller Macht in die Heimat meines Vaters. Als Kind war ich jedes Jahr in den Sommerferien dort. Nicht in den Bergen, sondern am Meer. Die Berge habe ich oft aus der Ferne bewundert. Natürlich haben wir auch immer wieder Ausflüge dort hin gemacht. Aber es waren oft sehr lange Autofahrten mit kleineren Spaziergängen. Die Lieblingsziele meines Vaters waren Prati di Tivo und das Campo Imperatore. Dort sind wir regelmäßig die Berge ein Stück weit hinauf gewandert. Über die Jahre hinweg haben wir das eine oder andere Ziel in der Region angesteuert. Dennoch kann ich nicht behaupten, dass ich die Abruzzen wie meine Westentasche kenne. Als Kind war ich deswegen auch nicht wirklich böse. Schliesslich war es am Meer nie langweilig und dort hatten wir immer Kontakt zu anderen Kindern. Erst in der späten Jugend entdeckte ich für mich die Abruzzen und unternahm einige Ausflüge zu Orten und Landschaften, die ich näher kennen lernen und erkunden wollte. Ich lernte die Berge sowie die Hochebene zu lieben und sie als etwas Einzigartiges anzusehen. Immer wenn ich Urlaub in Italien machte, gehörte mindestens ein Ausflug in das Hinterland dazu. Meinem Vater war mein Treiben unverständlich. Er tat mich als eine „Spinnerin“ ab. Dazu gibt es die eine oder andere Anekdote:

    In einem Jahr besuchte ich mit drei Freundinnen Italien. Natürlich wollte ich ihnen auch die tolle Berglandschaft der Abruzzen zeigen. Also unternahmen meine Eltern netterweise mit uns einen Ausflug zum Gran Sasso. Auf dem Weg dorthin hatten wir allerdings mit den Folgen eines schweren Erdbebens zu kämpfen. Viele Straßen waren unpassierbar, sodass sich unsere Tour zu einer der schon so oft erlebten endlosen Autofahrten zu entwickeln drohte. Kurz vor Prati di Tivo kamen wir an einen meiner liebsten Ausgangspunkte für Wanderungen vorbei. Dieser Ort heißt Pietracamela, um den sich viele Wolfs-Geschichten ranken. Dazu vielleicht später mehr. Auf jeden Fall wollte ich dort mit meinen Freundinnen aussteigen und zu Fuß nach Prati di Tivo hoch wandern. Ich machte den Vorschlag, dass meine Eltern in der Zwischenzeit in dem Städtchen Kaffee trinken und etwas spazieren gehen. Mein Vater war jedoch nicht dazu zu bewegen, uns aus dem Auto aussteigen zu lassen. Nach seiner Ansicht sei dies zu gefährlich. Auf meine Nachfrage hin erläuterte er uns, dass es dort immer noch Wölfe gebe. Verzweifelt versuchte ich ihm zu erklären, dass Wölfe keine wirkliche Gefahr darstellen und sie zudem regelmäßig nur weiter südlich auf der anderen Seite des Berges anzutreffen seien. Ich bettelte ihn fast an, anzuhalten und uns aussteigen zu lassen. Er fuhr jedoch verbissen weiter und klärte uns über die wahren Gefahren dieser Gegend auf: „Es ist der Berg, der gefährlich ist. Weißt Du, der Berg ist schließlich schon sehr alt“. Aha, der Berg ist also gefährlich, weil er schon so alt ist. Ich musste schmunzeln, aber diese Antwort machte mich sprachlos. Wir fuhren also ohne anzuhalten unmittelbar zu dem Ort meiner Kinderausflüge, zum Prati di Tivo.
    Wer mich kennt, der weiß, dass da noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Auf der Hochebene angekommen, stiegen meine Freundinnen und ich aus, begrüßten die dort lebenden Hirtenhunde, verabschiedeten uns von meinen verblüfften Eltern und machten uns an den Abstieg. Meinem Vater sagte ich: „Unten in Pietracamela ist eine Bar, da kannst Du Kaffee trinken und Mama den besten Ziegenkäse der Abruzzen kaufen. Wir sehen uns dort. Wir brauchen für den Abstieg ca. eine Stunde. Und mache Dir keine Gedanken, runter kommt man immer. Außerdem mag mich der alte Berg“.
    Diese kleine Anekdote spiegelt letztlich den Respekt der Einheimischen vor den gewaltigen Naturkräften wider. Hinzu kommt, dass manche Orte in den Abruzzen den Eindruck erwecken, dass hier immer noch Feen, Hexen und Kobolde zu Hause sind.
    Endlich mache ich jetzt dort einen Wanderurlaub, wo Italien noch wild und still ist, dorthin wo Italien noch ursprünglich ist. Der Gran Sasso kratzt ganz knapp an die 3000-Metermarke. Der schneebedeckte Corno Grande, die weiten Hochebenen, die tief eingeschnittenen Schluchten, die vielen Wasserfälle und stillen Seen, die kahlen Gipfel und die im Dunst verschleierten Täler. All dieses machen die Region zu einer Symphonie für das Auge. Der Charakter der Abruzzen ist unverfälscht geblieben. Man findet heute noch Gegenden, wo die Zeit stehen geblieben scheint. Zeitlos und unberührt. Es gab aber auch eine Zeit,in der gnadenlos alle Tiere gejagt, jeder Baum gefällt und die Natur rücksichtslos ausgebeutet wurde. Viele Menschen verließen ihre Dörfer, dort gab es kein auskommen mehr. Nur Hirten mit ihren Schafen zogen weiter durch das Land und wenige alte Menschen blieben mit ihren Geschichten und liebe zu ihrer Heimat. Dadurch aber erholte sich die Natur und eroberte die Landschaft zurück. In den Abruzzen leben heute wieder um die 100 Braunbären und ca. 200 Wölfe. Manchmal - wenn auch selten - bekommt man einen Luchs zu Gesicht. Keine Seltenheit sind demgegenüber Begegnungen mit Gämsen, Hirschen, Rehen, Füchsen oder Wildschweinen. Auch kann man mit etwas Glück Adler entdecken, insbesondere in der Schlucht von Celano oder Santo Spirito. Von der Orfento-Schlucht wird berichtet, dass sich dort wieder Otter angesiedelt haben. Bei Wanderungen durch die Abruzzen stellen aber weder die Braunbären noch die Wölfe die größte Gefahren dar, sondern die wild lebenden Hunde und das Wetter. Es kann dort selbst im August schneien. Im Sommer liegt oft dichter Nebel auf den Höhen. Die Unwetter mit Starkregen und heftigen Winden treten ohne große Vorwarnung ganz plötzlich auf. Gerade in einsamen Gegenden, wo es keine Markierungen gibt, kann man schnell die Orientierung verlieren oder in Bergnot geraten. Aber all das macht die Abruzzen zu dem was sie sind, zu der wilden Seele Italiens
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