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  • Day 9

    Liepaja- Eindrücke und Gedanken

    July 21, 2019 in Latvia ⋅ ⛅ 25 °C

    Wir haben mal wieder viel zu lange geschlafen. Es ist schon halb 10 Uhr nach lettischer Zeit, als wir die Jalousien hochziehen. Die Sonne ist da, und der Himmel ist blau, aber es ist schwül warm. Das ändert sich, als wir beim Frühstück sitzen. Von Süden kommt eine Wolkenwand auf uns zu, die Schauer und Gewitter mitbringen soll. Wir beeilen uns mit dem Frühstück, weil wir heute Liepaja besichtigen wollen. Und das wollen wir möglichst mit Sonnenschein machen. Um uns herum bemerken wir Aufbruchstimmung. Es wird abgebaut und zusammengeräumt.
    Mit dem Roller fahren wir nach Liepaja und suchen im Hafen einen Parkplatz. Irgendwie bin ich von Häfen einen anderen Anblick gewöhnt. Der "Karosta" (Kriegshafen) - entstanden als Militärstadt und Festung des russischen Zars Alexander III. Heute liegen im Hafen eine Menge grauer Marineboote, zwischen denen ein paar Segelboote mit ihren weißen Segeln das eher triste Bild des Hafens auflockern. Am Rande stehen alte Speicher, die zum Teil restauriert und zu modernen Luxusrestaurants umgebaut, zum Teil aber auch noch sehr renovierungsbedürftig sind.
    Auch einige der schönen Holzvillen aus der Gründerzeit sind wundervoll renoviert und erstrahlen in neuem Glanz. Viele der alten Häuser liegen allerdings noch im Dornröschenschlaf und warten auf Investoren. Die Stadt ist dabei, ihre sozialistische Vergangenheit abzustreifen. Moderne Bauten, wie das Konzerthaus in der Nähe des Hafens, halten Einzug ins Stadtbild. Lettland hat sich genau wie Litauen und Estland aufgemacht, sich westlich zu orientieren. Die schönen alten Jugendstilvillen sind während der sowjetischen Zeit dem Verfall ausgesetzt gewesen. Jetzt bemüht man sich, sie Detail genau zu renovieren. Der Stadteingang ist geprägt von Plattenbauten, die ziemlich schäbig aussehen und die Stück für Stück renoviert werden. Von unseren Nachbarn haben wir einen Stadtplan geschenkt bekommen. Auf dem sind die interessanten Straßen eingezeichnet. Dem Plan folgen wir und gelangen zur Tourist- Info. Dort versorgen wir uns mit weiterem Informationsmaterial. Gleich nach der Tourist-Info beginnt die Ehrenallee der lettischen Musiker. 35 Tafeln mit Handflächenabdrücken von Musikern in Bronze, 10 Tafeln für bestehende und ehemalige Musikgruppen und 5 Tafeln für verstorbene Musiker bilden eine lange Reihe. Als nächstes erreichen wir den Petertirgus-Markt. Dort ist heute, wie auch an jedem anderen Tag, Markt. Fast alle Stände sind besetzt und bieten Obst und Gemüse in großen Mengen an. Auch Kleidung und Haushaltswaren warten auf Käufer. Wer soll das alles kaufen? Anrührend sind die selbst gebunden Sträuße aus Wicken, Margeriten und anderen Blumen aus dem eigenen Garten, die für 50 Cent angeboten werden. Da muss man viel verkaufen, um auf einen halbwegs akzeptablen Gewinn zu kommen. Und das alles an einem Sonntag. Der Duft reifer Erdbeeren steigt uns in die Nase. Wir kaufen ein Pfund und können auch den dicken, schwarzen Kirschen nicht widerstehen. Dann lachen uns die Pfifferlinge an, die an jedem zweiten Stand , genau wie auch Heidelbeeren, angeboten werden. Ein Beutel Pfifferlinge für das Abendbrot muss auch noch mit. Wir entdecken in einem schön restauriertem Haus den Eingang zur Markthalle. An den Ständen hier wird Fleisch verkauft. Lange Kühltheken mit überwiegend Schweinefleisch und Geflügel. Rindfleisch oder gar Fisch sind wenig oder gar nicht vertreten. Manche Lebensmittelstände muten an wie frühere "Tante Emma Läden".
    Hinter den Markthallen, die die hübschesten in ganz Europa sein sollen, befindet sich die römisch-katholische St.Josefs Kathedrale, eine Bischofskirche im neuromanischen Stil, eine von den drei Kathedralen rund um den Markt. Die Heilige Dreifaltigkeitskathedrale beherbergt die derzeit gewaltigste mechanische Orgel in unsaniertem Zustand. Als wir die Josefs-Kathedrale betreten, schlägt uns heftiger Weihrauchgeruch entgegen. Es folgen ein paar Minuten der Besinnung auf den Holzbänken, bei denen wir das Innere der Kirche betrachten, bevor wir auf einer Bank im Kirchgarten eine kleine Pause machen und von den Kirschen naschen. Der Weg führt uns weiter zum See-Side-Park. Liepaja wird auch die Stadt des Windes genannt. Auf alle Fälle ist Liepaja auch die Stadt der Musik, wie die Statue eines Schlagzeuges am Eingang des Parks sowie die vielen weißen Noten auf dem Gehweg uns verdeutlichen. Überall weisen Plakate auf das Musikfestival für moderne Musik hin, das im August stattfindet, und das das Größte seiner Art in Lettland ist. Sehenswert ist die neue Konzerthalle, die "Bernstein" genannt wird. Wahrscheinlich wegen ihrer runden Form und ihrer Bernstein-Farbe. Für mich sieht sie eher aus wie ein "Hotpott", die runden Holzfässer auf den Campingplätzen, die im Winter angeheizt werden und Badevergnügen im Freien bieten. Im Park kehren wir in einem Biergarten ein. Der Park ist gut besucht. Es ist Sonntag und die Menschen nutzen die Freizeitmöglichkeiten, schieben Kinderwagen, führen Hunde oder die neueste Kleidung aus. Einheimische und Touristen kann man ganz gut unterscheiden. Während sich die Einheimischen sonntäglich herausgeputzt haben, fallen die Touristen durch Rucksäcke und Funktionskleidung auf. Vom Park geht es entlang wunderschöner Holzhäuser, größtenteils allerdings noch unrenoviert, wieder zurück zum Hafen. Dieses Nebeneinander von neu und modern und alt und verfallen zeigt die ganze Zwiespältigkeit. 30 Jahre reichen nicht um, die Hinterlassenschaften der Sowjetunion wegzuräumen, aufzuräumen und zu reparieren. In mehreren Gesprächen haben wir erfahren, dass es hier ein großes Spannungsfeld innerhalb der Bevölkerung gibt. Die Menschen haben Angst, wieder von Russland anektiert zu werden und ihre gerade gewonnen Freiheiten zu verlieren. Diese Angst schürt auch ein Teil der Bevölkerung. Ca. 40 Prozent der Bevölkerung im Baltikum sind Russen und viele davon sind "Pro Putin" eingestellt. Die Russen haben während ihrer Herrschaft viel Angst und Schrecken verbreitet. Viele Menschen sind inhaftiert, deportiert oder getötet worden. Und diese jüngste Vergangenheit haben die Menschen noch nicht vergessen. Genau davon hat auch unser Taxifahrer Jani bei der Fahrt über die Nehrung gesprochen.
    Wir fahren zurück auf der aus EU-Mitteln super ausgebauten Straße. Für Radfahrer allerdings ist diese stark befahrene Straße ohne Radweg, auch wenn sie Kilometer lang durch die Natur geht, nicht unbedingt schön zu fahren. Allerdings gibt es alle ein bis zwei Kilometer eine Bushaltestelle. Sogar direkt vor der Einfahrt zum Campingplatz. Das scheint mir eine gute Alternative zu sein.
    Der Campingplatz hat sich in unserer Abwesenheit sehr geleert. Die letzten Wochenendausflügler packen zusammen.
    Jetzt heißt es erst einmal unsere Einkäufe zu versorgen und die Pfifferlinge zu putzen. Bandnudeln mit Pfifferlingen soll es heute Abend geben. Aber vorher muss ich noch unseren Aufenthalt um einen Tag in der Gastronomie verlängern. Im Biergarten gibt es Live-Musik, Fassbier und Kartoffeln, Würste und Fleisch aus einer Riesenpfanne. Sie lassen sich ganz schön was einfallen. Und es wird angenommen. Der Biergarten ist voll.
    Nach dem Kaffeetrinken brauche ich noch etwas Bewegung. Ein Strandspaziergang entlang des fast menschenleeren Strandes ist genau das Richtige. Es ist herrlich an der Wasserkante entlang zu laufen. Die Füße vom Wasser umspült, umweht vom kühlen Wind und mit dem sanften Rauschen der Wellen im Ohr, können auch die Gedanken spazieren gehen. Ich bemerke gar nicht wie die Zeit vergeht. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich schon über eine halbe Stunde unterwegs bin. Ich kehre um und laufe zurück, kann aber in der Dünenlandschaft mit dem Kiefernwald dahinter, die sich etliche Kilometer gleichförmig dahin zieht, nicht den kleinen Pfad zurück zum Campingplatz finden. So was kann auch nur mir passieren. Ich laufe mindestens 2 Kilometer daran vorbei. Eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren geht, erklärt mir, wo sich der Übergang zum Campingplatz befindet. Super! Verlaufen am menschenleeren Sandstrand. Der "Spaziergang" hat so lange gedauert, dass das Abendessen reduziert werden muss. Es gibt nur noch Pfifferlinge mit Brot.
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