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  • Day 5

    Seattle: Zwischen Kontrasten & Kaugummi

    August 31, 2018 in the United States ⋅ ☁️ 17 °C

    Durch einen (un-)glücklichen Zufall hatten Stefanie und Joel noch eine Karte für das Footballspiel der Seattle Seahawks gegen die Oakland Raiders übrig. Ein Pre-Season Spiel. Das heißt zum einen, dass das Team aus frisch vom College abgezapften Sportlern besteht. Zum anderen, dass die Karten noch erschwinglich sind. Wenn mich zu Hause das Fußballfieber nicht packt, dann doch vielleicht die Stadion-Euphorie des amerikanischen Nationalsports. Also ab ins Mietauto und los geflitzt. Zumindest bis zur amerikanischen Grenze, wo wir 2 Stunden warten mussten, um anschließend 10 Minuten intensiv gegrillt zu werden. Ein Grenzübergang in die Staaten ist schlimmer, als jede mündliche Abiturprüfung und selbst das reinste Gewissen fühlt sich danach schmutzig. "Aus welchem Grund reisen Sie in die USA? Wie lange haben Sie vor, zu bleiben? Haben Sie Obst dabei? Oder Waffen? Planen Sie einen terroristischen Anschlag?"

    Und während man sich bei der Beantragung des Esta (der Einreisegenehmigung in die USA) vor Ort verbal nackig macht, wehte uns über den Schreibtisch der Nationalstolz der Amerikaner entgegen. Überall Schilder mit opulent aufgeblasenen Worten und zwischendrin ein gerahmtes Bild von Trump. Man möchte brechen. 

    Nach weiteren 4 Stunden Fahrt hatten wir es dann geschafft. Seattle. Heimat von Amazon, Microsoft und Grey's Anatomy. Eine Stadt voller Kontraste. Links riesige Firmenkomplexe, rechts die Zeltstädte der Obdachlosen. Unten plätschert die Elliot Bay, von dessen Ufer nicht weit entfernt die Fischer Lachs auf dem Public Market verkaufen; oben thront die Spitze der Space Needle, einem ufoartigen Überrest der Weltausstellung von 1962 - heute das Wahrzeichen der Stadt. Und so ganz nebenbei findet man zwischen zahlreichen polierten Glasfassaden die zweit unhygienischste Sehenswürdigkeit der Welt, die sogenannte "Gum Wall": eine etwa 16 Meter breite Wand voller Kaugummis. Jeden Tag lassen dort Hunderte ihren angespeichelten Gruß an der Außenfassade eines Theaters zurück. Angefangen hat das Ganze in den 90er Jahren, als wartende Besucher Glücksmünzen mit Kaugummis an der Wand befestigten. Nachdem jemand sein Sparschwein aufgebessert hat, blieb irgendwann nur noch die klebrige Masse übrig. Ein ziemlich faszinierender Anblick, der jedem Hypochonder den Angstschweiß auf die Stirn treiben würde. 

    Zum Abend strömten die Menschen in Blau-Grün - den Farben der Seahawks - aus der Innenstadt Seattles in Richtung Stadion. Und auch wenn ich zu Beginn noch keine Ahnung vom Spiel hatte, sah ich Dank ausgeliehener Basecap und Fan-Leggings wenigstens so aus. Die Regeln erklärten sich dann in den nächsten 60 Minuten nebenher. Learning by cheering. 

    Das Spannendste war aber nicht unbedingt das Spiel an sich, sondern vor allem die Klischees, die sich währenddessen beobachten ließen: die Fans und Cheerleader, die riesigen Plüschmaskottchen, die Verkäufer, die Bier und Hotdogs zwischen den Reihen verkauften und natürlich die übergroßen Monitore, die der allgemeinen Reizüberflutung noch mal ein leuchtendes i-Tüpfchelchen aufsetzten. 

    Die Euphorie gönnen sich die Fans hier übrigens gegenseitig. Sympathisanten beider Mannschaften saßen auf ihren Klappstühlen nebeneinander oder prosteten sich über drei Reihen hinweg zu. Und damit hier auch keiner der 72.000 Besuchenden über die Strenge schlägt, wird akribisch auf potenzielle Pöbler geachtet. Ist jemand zu durstig, gibt es eine Alcohol Enforcement Unit, die unterstützt durch die Polizei Trunkenbolde aus dem Stadion begleitet. Nicht ohne lüstern gezückte Kameras anderer Besucher, die das Ganze filmisch festhalten. 

    Das Spiel ging mit einer Niederlage für das heimische Team der Seahawks aus, was die Laune der Fans allerdings keineswegs geschmälert hat. Kopf hoch. Basecap richten. War ja nur ein Pre-Season-Spiel. Prost. 

    Auf dem Rückweg nach Kanada bin ich übrigens das erste Mal in meiner zweijährigen Autofahrkarriere mit Automatik über den Asphalt gesaust. Eine ziemlich langweilige Erfahrung für den linken Fuß. Autofahren ist hier in der Theorie auch um einiges simpler als zu Hause. Darum reicht es in den meisten Staaten auch, seine Pflichtstunden als Fahrschüler neben Mami oder Papi bis zur Prüfung abzusitzen. Je nachdem wie gut die Eltern sind, ist der Nachwuchs dann auch auf der Straße unterwegs. 

    Da wir kurz vor der Haustür auch noch einen Abstecher im Canadian Superstore gemacht haben, hier noch ein kleiner Nachtrag zum Einkaufen in kanadischen Großmärkten: Aaaahhh! Hier gibt es 18 Liter-Reissäcke und Klopapier im 36er Pack. SECHSUNDDREISSIG. Und wenn man denkt, man hat mit diesem Quartalsvorrat den Sparfuchs eingepackt: Nein. Die Steuern kommen erst an der Kasse noch zusätzlich dazu. Überraschung. 

    PS: Kleiner Funfact aus den amerikanischen Radionachrichten, mit der man auf der nächsten Familienfeier den Cousin zweiten Grades unterhalten kann: In den USA gibt es mindestens ein Dutzend Kinder mit dem Namen ABCDE, was ausgesprochen ungefähr wie Äpsedi klingt. Und wir kichern über Kevins und Chantalles...
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