Camino del Norte

April - May 2025
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28 Tage, 683km von Bilbao nach Santiago de Compostela auf dem Camino del Norte Read more
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  • Day 29

    Tag 29 – Der letzte Tanz

    2 hours ago in Spain ⋅ 🌙 13 °C

    Der Wecker klingelt, die Füße wissen Bescheid: Heute ist der große Tag. Nur noch 25 Kilometer bis Santiago. Gemessen an den knapp 700, die hinter mir liegen, ist das ein besserer Verdauungsspaziergang. Ich bin euphorisch. Aber bevor ich die Pilgerkrone aufsetze, ein kleiner Rückblick auf den gestrigen Abend.

    Ute und Robert – die guten Seelen von Tag 13 – sind wieder aufgetaucht. Zwei Orte weiter nur, also verabreden wir uns auf halber Strecke. Man hat sich viel zu erzählen, aber noch mehr Hunger. Leider macht das Restaurant erst um 19:30 Uhr auf. Zeit, in der sich Durst hervorragend in Wein umwandeln lässt. Noch bevor das Brot auf dem Tisch landet, hat der Wein schon seine Wirkung entfaltet. Jeder bestellt, was er kennt oder einfach schön aussieht. Der Tisch biegt sich vor Tapas und wir vor Lachen. Der Abend vergeht wie im Flug.

    Als die beiden losmüssen, damit ihnen nicht der Herbergenschlüssel vor der Nase zuschnappt, beschließen wir: Morgen gehen wir gemeinsam die letzte Etappe. Gemeinsam nach Santiago – das fühlt sich gut an.

    Ute warnt mich noch, dass sie bei jedem Camino kurz vor der Kathedrale Pipi in den Augen hat. Ich denke: „Oh Gott, das kann ja heiter werden…“

    Heute früh dann das volle Camino-Programm: Wecker, Frühstück, Rucksack packen. Um 8:30 Uhr starte ich. Noch 24,6 Kilometer. Ich fliege förmlich los – ein bisschen wie ein Sechsjähriger, der gleich Geschenke bekommt. Nur dass das Geschenk eine gotische Kathedrale ist und es keine Spielsachen gibt.

    Nach ein paar Kilometern sammle ich Ute und Robert ein – unser Dream-Team ist komplett. Der Weg führt uns durch alles, was der Camino zu bieten hat: Eukalyptuswälder, Anstiege, Straßen, Kuhduft. Es ist wie eine Greatest Hits-CD des Nordwegs, nur das Meer fehlt.

    Ein letzter Kaffeestopp, dann geht es weiter. Wir passieren den Flughafen von Santiago, überqueren noch eine Autobahn und dann: Monte do Gozo – der Aussichtspunkt, von dem man die Kathedrale das erste Mal sehen kann. Ich bleibe überraschend gefasst. Noch.

    Doch mit jedem Kilometer wird der Hals enger, der Magen flauer und der Puls schneller. Die Stadt kommt näher, die Geräusche ändern sich. Altstadt. Pflastersteine. Dudelsackspieler.

    Und dann biege ich um die letzte Ecke – und da ist sie. Die Kathedrale von Santiago. Majestätisch, ehrfurchtgebietend und so unwirklich nah. Mein Atem stockt, die Schritte werden langsamer, bis ich schließlich mitten auf dem Platz stehe. Ich hatte geglaubt, vorbereitet zu sein. Aber jetzt, in diesem Moment, entlädt sich alles. Die Anstrengung, die Zweifel, die Freude – alles entlädt sich in diesem Moment.

    Ich weine. Einfach so. Tränen der Erschöpfung, des Stolzes, der Dankbarkeit. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur dort stehe. Ute geht es ähnlich. Wir umarmen uns. Und selbst Robert, der Fels in der Brandung, hat plötzlich etwas Feuchtes im Blick. Es ist ein Moment, der nicht beschrieben, sondern nur erlebt werden kann.

    Der Platz ist voller Menschen – und ein Basketballturnier. Es fehlt eigentlich nur noch ein DJ. Fotos werden gemacht, dann holen wir uns unsere Compostelas ab. Als erfahrene Pilger wissen die beiden genau, wie’s läuft: Wir schnappen uns eine Dänin und melden uns als Vierergruppe an. Papierkram effizient wie nie.

    Danach geht’s ins Hotel, duschen, umziehen, Kathedrale besuchen, Tränen trocknen, Messe anschauen. Und dann – letzter Akt: Abendessen mit Ute und Robert. Tapas, Wein, viele Geschichten und noch mehr Lachen. Der perfekte Schlusspunkt.

    Gegen elf dann der Abschied. Meine Reise endet heute. Es war intensiv, bewegend, oft schmerzhaft, meistens wunderschön. Ich habe Menschen getroffen, die mir ans Herz gewachsen sind, Erfahrungen gesammelt, die ich nie vergessen werde – und Füße, die dringend Urlaub brauchen.

    Morgen geht’s für mich mit dem Flugzeug zurück nach Hause. Zurück in den Alltag, zurück ins normale Leben. Doch irgendetwas wird anders sein. Der Camino hat Spuren hinterlassen – in meinen Füßen, in meinem Kopf, und vor allem im Herzen.
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  • Day 29

    Santiago. Ich bin da.

    Yesterday in Spain ⋅ ☀️ 25 °C

    Nach vier Wochen. Nach 700 Kilometern. Nach unzähligen Schritten, Höhenmetern und Gedanken stehe ich jetzt hier – vor der Kathedrale von Santiago de Compostela. Und ja, mir laufen die Tränen über die Wangen.Read more

  • Day 28

    Tag 28 – Der große Schulterschluss

    May 23 in Spain ⋅ ⛅ 21 °C

    Die Nacht verbrachte ich in einem charmanten Hotel etwas abseits des Weges, wo die Besitzerin mir mit stolzer Stimme erklärte, wie ihr Mann – ein Architekt aus Madrid – sich einst in das verfallene Grundstück verliebt hatte. Ein bisschen Liebe, ein bisschen Zement und vermutlich eine ordentliche Portion Wahnsinn später war daraus eine kleine Oase der Ruhe geworden.

    Zum Abendessen gesellte sich dann noch eine amerikanische Reisegruppe zu mir, inklusive Dreigängemenü (wie immer) und Gesprächsunterricht (endlich wieder praktisches Englisch!). Der Reiseleiter sprach über die morgige Etappe, und ich verstand – sagen wir mal – fast alles! Fast wie früher im Schulunterricht, nur dass diesmal niemand schummelte. Ich war stolz wie Bolle.

    Im Garten entspann sich später noch ein netter Plausch mit ein paar Teilnehmern – Michigan, Florida, und ja, irgendwie alle in Diensten einer deutschen Firma. Morgen fahren sie ein Stück mit dem Bus, werden kurz vor Santiago rausgeworfen und wandern dann den Rest zur Kathedrale. Ich denke mir: Kann man so machen – ich persönlich bleibe dann doch lieber bei meinem altbewährten Fußmarsch.

    Die Nacht? Nennen wir sie… akustisch spannend. Das Dach des Hotels führte offenbar ein Eigenleben, das sich irgendwo zwischen Walzertakt und blechernem Knarzen bewegte. Frühstück gab’s gegen acht, die Amis waren da schon verschwunden, und ich genoss in aller Stille meinen ersten Kaffee des Tages.

    Der Himmel? Strahlend blau. Die App? Still. Kein Regen in Sicht – weder heute noch morgen. Nur der Wind meinte es gut mit mir und pustete fröhlich über die Felder. Ich war bereit.

    Heute war ein besonderer Tag: Mein Weg würde mit dem berühmten Camino Francés verschmelzen – der Pilger-Highway unter den Jakobswegen. Und mit ihm auch der Camino Primitivo. Das bedeutete: Schluss mit Einsamkeit! Vielleicht würde ich auch alte Bekannte wiedertreffen, die sich damals in Gijón für die Abzweigung entschieden hatten.

    Der erste Wegweiser zeigte: Noch 48 km bis Santiago. Ich peilte heute etwa 20 km an, was bedeutete, dass ich am Ende des Tages zum ersten Mal sagen konnte: „Nur noch ein kleines Stück.“

    An einer Gabelung bog ich jedoch nicht wie die Mehrheit ab, sondern wählte die alternative Route – direkt auf Santiago zu. Der Schock folgte sofort: Der nächste Wegstein zeigte plötzlich nur noch 40 km an. Mein Puls schnellte nach oben. Und dann auch noch diese Hiobsbotschaft von der App: 8 km Straße. Am Stück. Ohne Aussicht auf Schatten oder Abenteuer.

    Straßen, das habe ich mittlerweile gelernt, sind Pilgerschreck Nummer eins. Schräg abfallend, monoton, kein Vogelgezwitscher, sondern höchstens der Klang von Reifen auf Asphalt. Ich zählte die Kilometer rückwärts: 37… 35… 33…

    Irgendwann hatte ich genug und bog einfach ab – hinein in einen Waldweg. Drei Kilometer Umweg? Geschenkt! Alles ist besser als Asphalt. Plötzlich war sie wieder da, diese Camino-Magie: Vogelgezwitscher, der Duft feuchter Erde, das Plätschern eines kleinen Bachs. Und dann, als hätte das Universum mitgehört, lag da ein Schwein im Schatten, als wolle es sagen: „Du hast gestern gefragt, hier bin ich.“ Ich nickte anerkennend.

    Nach einigen Kilometern Zivilisation light – ein paar Häuser, ein bisschen Tiergeruch, aber keine Autos. Der Wald wurde zum Eukalyptus-Hain, und ich näherte mich der Schnittstelle zum offiziellen Weg. Und da war er, der Pilger-Highway: Menschen in Bewegung, Rucksäcke mit Landesflaggen, Gesprächsfetzen auf Spanisch, Französisch, Koreanisch – und mittendrin ein deutsches Ich mit großen Augen und noch größerem Hunger.

    Ein Café wie aus dem Bilderbuch war meine Rettung. Kaffee, O-Saft, zwei überdimensionale Bocadillos – ich fühlte mich wie ein König auf Wanderschaft.

    Der Rest des Tages? Angenehm. Keine Höhenmeter, viel Schatten, viel Gesellschaft. Ich begegnete zwei Frauen mit einer mir unbekannten Flagge am Rucksack – Chile, wie sich herausstellte. Ich überlegte kurz, ob ein anderes Santiago vielleicht näher gelegen hätte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder.

    Cafés gab’s nun im Kilometer-Takt, Hungersnöte ausgeschlossen. Und plötzlich waren sie wieder da: meine vier kanadischen Bekannten. Wir nächtigten im gleichen Ort – wer weiß, ob wir später noch auf ein Abschlussbier zusammenfinden.

    Gegen 15:00 Uhr war ich da. Empfangen wurde ich von einer Dame, die ein so flüssiges Englisch sprach, dass ich kurz dachte, ich sei wieder in Michigan. Stellte sich raus: Sie stammt aus Texas. Sie bot sogar Wäscheservice an – Jackpot!
    Morgen ist es also soweit: Ich werde Santiago erreichen. Doch bevor ich über das Kopfsteinpflaster in die Altstadt laufe, führt der Weg noch über den Monte do Gozo – jenen Hügel, von dem aus man zum ersten Mal die Türme der Kathedrale sehen kann. Ein magischer Moment, sagen viele. Mal sehen, wie sich das für mich anfühlt.

    Dann: die letzten Meter durch die Stadt, der Platz vor der Kathedrale, wahrscheinlich mit Gänsehaut und einem dicken Kloß im Hals. Danach geht’s erstmal zur Unterkunft, dann frisch machen und weiter ins Pilgerbüro – meine Compostela abholen, den Beweis dafür, dass ich all diese Kilometer tatsächlich gegangen bin. Und irgendwann, ganz ohne Rucksack, noch einmal zurück zur Kathedrale – diesmal hineingehen, staunen, vielleicht still werden.

    Und um 19 Uhr dann der Pilgergottesdienst. Ein letzter, feierlicher Schritt dieses Weges – bevor der Abend vermutlich mit einem Glas Wein, guten Geschichten und bekannten Gesichtern endet.
    Ein letztes Kapitel also – aber noch ist es nicht geschrieben. Der Bericht für morgen kommt. Spät, wahrscheinlich. Aber er kommt. Versprochen.
    Und falls ihr morgen Nachmittag kurz Zeit habt – denkt an mich. Ich werde irgendwo in Santiago stehen, den Kopf im Nacken, die Augen zur Kathedrale gerichtet. Und ja, wahrscheinlich mit feuchten Augen. Weil all das, was hinter mir liegt, dann plötzlich ganz nah ist.
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  • Day 27

    Tag 27 - Countdown nach Santiago

    May 22 in Spain ⋅ ☁️ 18 °C

    Der Abend beginnt wie so viele auf dem Camino – mit einem leisen „Ich hätte gern das Menü del Día, bitte“ in ein fast leeres Restaurant. Ich sitze da, noch etwas verloren zwischen Servietten, Brotkorb und einem sehr neugierig blickenden Kellner, als sich mein französischer Weggefährte dazugesellt. Wir prosten uns zu, und kaum haben wir zwei Sätze gewechselt, da gesellt sich internationale Verstärkung dazu: vier Kanadier, die er vor ein paar Tagen aufgelesen hat wie Muscheln am Strand.

    Gemeinsam wird gegessen, gelacht und ein wenig gefachsimpelt – über den Camino, Urlaub, und natürlich den Fußball auf dem riesigen Fernseher an der Wand. Ein Abend wie gemacht für das Pilgerherz. Und während draußen die Nacht über den Ort fällt, merke ich wieder einmal: Was mir am meisten fehlen wird, sind diese Begegnungen. Menschen aus aller Welt, die sich zufällig zu einer Art Mini-Familie auf Zeit zusammenfinden.

    Der nächste Morgen beginnt klassisch. Frühstück mit Toast, Spiegelei und Bacon in einem Café am Markt – ein kleiner Luxus zwischen Wanderstock und Waschsalon. Dann geht’s weiter zum Kloster, wo ich pünktlich um zehn vor zehn an der Pforte stehe. Und – Überraschung – ich bin der erste. Ein Mönch öffnet, begrüßt mich mit einem Lächeln, das irgendwo zwischen verschlafen und erfreut schwankt, und erklärt mir mit Liebe zum Detail den Weg durch das Kloster.

    Ich schlendere als Alleinbesucher durch die dicken, klammen Mauern, umgeben von Stille und jahrhundertealtem Stein. Die deutsche Beschilderung hilft mir, nicht nur Wände anzustarren, sondern auch ein bisschen Geschichte mitzunehmen. Wäre da nur nicht diese klamme Kälte – das Kloster konserviert die Temperatur wie eine überambitionierte Kühltruhe. Kein Wunder, dass der einfache Schlafsack für die Herberge hier als “leichtsinnig” gilt.

    Gegen 11 Uhr verlasse ich die heiligen Hallen und starte meine heutige Etappe – eine der letzten. Der Gedanke, dass in zwei Tagen alles vorbei ist, legt sich wie ein feines Tuch aus Wehmut über den Morgen. Gleichzeitig spüre ich: Mein Körper ist müde. Die täglichen Kilometer, die Höhenmeter, das ständige „Weiter“ – es hat Spuren hinterlassen.

    Aber heute keine Straße! Stattdessen sofort Natur, Wälder, weicher Boden unter den Füßen. Und dann fehlt mir plötzlich das Meer. Dieses stetige Blau der ersten Wochen, das salzige Rauschen, die Strände… Alles wirkte damals so endlos. Jetzt rückt Santiago näher, und mit jedem Wegweiser schmilzt der Abstand: 58 km, 57 km… Und mit der nächsten Steigung ist auch die Kälte endgültig weg – ich dampfe wie ein Pilger-Saunakessel.

    Ein Bild kommt mir in den Sinn: frühmorgens an der Rezeption eines Albergues, wo sich Rucksäcke und Koffer stapeln, versehen mit kleinen Zetteln, Ortsnamen, Datumsangaben und dem gelben Logo der spanischen Post. Offenbar wird hier das Gepäck verschickt wie Weihnachtsgeschenke – Etappe für Etappe. Wer sagt, die Spanier seien nicht erfinderisch?

    Weiter geht’s – 56 km. Der Countdown läuft. Der Weg schlängelt sich durch ein paar Dörfer, dann wieder in den Wald. Vielleicht wirken die Tage auf euch zu Hause inzwischen ein bisschen monoton: Frühstück, Weg, Bekanntschaften, Abendessen – repeat. Aber genau so ist es hier. Und was mal als Reisebericht für euch gedacht war, ist längst mein persönliches Tagebuch geworden. Ohne diese Zeilen wüsste ich kaum noch, wie es in Bilbao eigentlich war. Oder wann ich das letzte Mal Tintenfisch gegessen habe.

    Ich bin nun vier Wochen unterwegs – durch Dörfer mit Kühen, Pferden, Eseln. Aber kein einziger Schweinestall weit und breit. Und doch gibt’s überall Schweinefleisch. Wo kommt das alles her? Mysteriös.

    Noch 52 km. Der Weg stößt wieder auf Asphalt, aber immerhin gibt’s heute einen Seitenstreifen für Wanderer. Bei einer Kreuzung – Erlösung: ein Café! Kurze Pause, Cola, weiter. Wieder Abzweigung von der Straße, wieder Natur. Noch 51 km.

    Gegen 14 Uhr meldet sich dann der Magen. Also noch ein Kaffee – und dann ein spätes Mittagessen. Menü del Día, wie sollte es anders sein. Vorspeise: Salat mit Schinken und Käse. Hauptgang: Hase. Zum Trinken eine Cola, zum Abschluss ein Espresso. Alles zusammen für unschlagbare 14 Euro. Daheim wär das locker doppelt so teuer – und nur halb so gut.

    Gestärkt, zufrieden, ein kleines bisschen im Fresskoma, mache ich mich auf den letzten Kilometer. Mein Etappenziel empfängt mich mit einem schönen Zimmer und einem weichen Bett. Ich lasse mich fallen und denke: Noch zwei Tage. Noch 50 Kilometer. Und ich bin noch nicht bereit, dass es endet.
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  • Day 26

    Tag 26 – Asphalt, Asphalt, Asphalt

    May 21 in Spain ⋅ ☁️ 17 °C

    Der Abend begann mit einem Menü und endete mit einem Schnaps – besser kann ein Camino-Tag kaum ausklingen. Mein französischer Weggefährte sorgte wie immer für gute Laune, und zwei Damen aus China (die inzwischen in Barcelona wohnen) rundeten die internationale Tischgesellschaft charmant ab. Der Schnaps war offenbar stark genug, dass ich fest wie ein Stein schlief. Ziel erreicht.

    Nach einem ordentlichen Frühstück in der Unterkunft machte ich mich gegen zehn Uhr auf den Weg. Noch drei, vier Tage bis Santiago – da mischt sich langsam Wehmut in den Rucksack. Das Wetter allerdings zeigt sich unbeeindruckt von Emotionen und beginnt beim Loslaufen direkt zu nieseln. So viel zum Thema „keine Regenwahrscheinlichkeit“. Ich lobe mir meinen alten Schirm, der heute seine große Comeback-Tour feiert.

    Statt den offiziellen Camino zurückzuwandern, entscheide ich mich für eine Alternativroute – vielleicht etwas kürzer, bestimmt mit weniger Höhenmetern. Sagte ich mir. Nach ein paar Schritten begrüßt mich ein Schild mit der magischen Zahl: 83 km bis Santiago. Und wenig später ein alter Herr mit Stock, der mir freudestrahlend mitteilt, dass ein Franzose vor mir läuft. Wer das wohl ist.

    Ich trotte also los – Natur, Stille, Vogelgezwitscher. Nur der Brötchen-Express stört kurzzeitig die Idylle. Und dann: Holzduft! Ich könnte schwören, die Bäume winken mir zu.

    Wenig später führen mich gelbe Pfeile auf eine Art Wanderweg. Weit und breit keine Menschenseele, aber dafür ein Schild mit Hundewarnung. Google verrät, dass es sich um ein Hundetrainingsgelände handeln soll. Na wunderbar. Ich bewaffne mich mit einem Stock und schleiche los wie ein Neandertaler. Nur mit mehr Softshell und weniger Hunger.

    Plötzlich ein Schäferhund – zwei Meter vor mir bleibt er stehen. Ich ignoriere ihn, er folgt mir. Erst nach 30 Metern verliert er das Interesse. Ich atme erst wieder durch, als ich auf die ersten Pilger des Tages treffe.

    Gegen Kilometer 8 treffe ich meinen Franzosen wieder. „Bis Mitternacht am Ziel!“, scherzt er. Vor uns: eine Bergkette. Sehr hoch. Sehr echt. Und sehr unerfreulich. Die nächsten Kilometer sind ein einziger Serpentinenkampf. Aber wie immer gilt: oben wartet die Aussicht. Und sie ist herrlich.

    Dann geht’s zurück auf die Straße. Eigentlich kein Problem – dachte ich. Leider verläuft der Weg die nächsten fünf Kilometer auf ebendieser. Ich fühle mich wie ein Anhalter ohne Daumen.

    Gegen halb zwei dann das Wunder: ein Dorf! Ein Café! Und sogar ein freier Stuhl. Ich bestelle alles, was in der Küche nicht angebunden ist, und ziehe gestärkt weiter. Leider wieder – genau: Straße. Ich beginne, über den Sinn alternativer Routen zu philosophieren. Hätte ich diese Etappe an meinem ersten Tag gehabt – ich hätte gedacht, der Camino sei ein geheimes Asphaltprojekt der EU.

    Aber dann – Erlösung! Der Weg biegt ab, ein Hohlweg, Natur, Hoffnung! Leider nur für fünf Minuten. Zurück zur Straße. Camino, was tust du mir an?

    Erst drei Kilometer vor dem Ziel darf ich endgültig auf Feldwege ausweichen. Ich lobe jede Bodenwelle und jeden Kieselstein persönlich, bis ich um 16:45 Uhr in Sobrado ankomme – einem hübschen Ort mit Marktplatz, Kloster und (wichtig!) einer Dusche.

    Und dann kommt die Zahl des Tages: 60 Kilometer. Mehr ist es nicht mehr bis Santiago. Nur noch zwei, drei Wandertage – eine kurze Strecke für die Beine, aber ein ziemlich großer Schritt fürs Herz.

    Morgen stehen entspannte zwölf Kilometer auf dem Programm. Ich werde mir das Kloster anschauen, einen Kaffee zu viel trinken – und mich innerlich auf den Moment vorbereiten, in dem da vorne irgendwo eine Kathedrale auftaucht. Noch 60 km. Und kein Meter davon war umsonst.
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  • Day 25

    Tag 25 - Wald, Wiese, Wunder

    May 20 in Spain ⋅ ⛅ 20 °C

    Heute startet der Tag etwas früher – und zwar mit einer Art Improvisationsfrühstück: ein paar Weintrauben, Orangensaft und ein Croissant vom Supermarkt nebenan. Haute Cuisine sieht anders aus, aber immerhin steht der Pilger schon um Punkt 8:00 Uhr fertig gesattelt auf der Straße. Und zwar allein. Die Stadt schläft noch. Keine Autos, keine Menschen, nicht mal ein streunender Hund. Willkommen in „Spanien vor neun Uhr“.

    In einer Gasse dann das erste Lebenszeichen: eine Gruppe spanischer Pilger – offensichtlich so orientierungslos wie ich vor meinem ersten Kaffee. Ich, der Deutsche, darf heute den Einheimischen den Weg zeigen. Ein Moment für das Pilgeralbum.

    Kaum bin ich aus der Stadt raus, beginnt die grüne Herrlichkeit. Vereinzelte Häuschen, aber ansonsten Natur, Natur, Natur. Und dann: eine dieser Erkenntnisse, die einem auf dem Camino so ganz nebenbei einfallen. Ab heute brauche ich zwei Stempel pro Tag – Santiago rückt näher! 100 Kilometer noch. Jetzt wird’s offiziell: Endspurt!

    Der Tag verläuft erst mal ruhig. Die Sonne lässt sich Zeit, die Cafés lassen sich nicht blicken – angeblich führt der heutige Weg durch einen Nationalpark. Viel Wald, viel grün, wenig Koffein. Dafür Souvenirverkäufer an Brücken, die Jakobsmuscheln, Wanderstöcke und Pilger-Plunder feilbieten. Man merkt: Das Ziel naht, und mit ihm der Kommerz.

    Dann eine Szene, die den Fußballstolz weckt: Ich rette eine spanische Pilgerin vor dem falschen Weg. Deutschland – Spanien: 2:0. Gemeinsam wandern wir weiter. Sie ist Ärztin von Fuerteventura, ihr Name eine kryptische kanarische Wortschöpfung, selbst für Spanier kaum auszusprechen.
    Wenig später schließen wir Mike an – Team „Camino-Bande“ ist kurzzeitig komplett.

    In einem Kaffee trennen sich unsere Wege. Mike und ich genießen noch eine Pause, dann geht’s für mich allein weiter. Die Sonne kommt raus, die Laune steigt, der Schirm überlegt, ob er sich jetzt endlich zur Ruhe setzen darf. Vielleicht in Rente schicken, aber ganz trennen möchte ich mich noch nicht.

    Der Weg führt mal über Straßen, mal über Feldwege, ab und zu begegnet mir ein Duft, der weniger „Pinienwald bei Sonnenuntergang“ ist und mehr „Hallo, Kuh“. Botanisch betrachtet ist heute alles auf Wachstum gepolt – wäre ich ein Farn, würde ich vermutlich Blüten treiben.

    Irgendwann winkt mich eine Bank heran. Also: Schuhe aus, Socken aus, Seele baumeln lassen. In der Zeit marschiert halb Spanien an mir vorbei. Darunter auch meine Ärztin, Barbara und Lisa aus Stuttgart, und Mike. Nur von Rene und Sabine keine Spur.

    Zur Feier des Tages gibt’s zwei Highlights auf einmal: Ich knacke die 600-km-Marke und sehe das erste „Noch 100 km“-Schild. Na, wenn das kein Anlass für ein Bocadillo de Chorizo ist! Das klingt edler als „Salamibrötchen“ und schmeckt auch so.

    Doch dann: Das große Camino-Paradox. Die letzten fünf Kilometer. Immer. Immer ziehen sie sich wie ein zäher Kaugummi auf warmem Asphalt. Und als wäre das nicht genug, biegt mein Weg von der Straße ab – in einen harmlos wirkenden Feldweg. Haha. Falle!

    Nach einem Kilometer endet dieser Weg in einer Wiese. Mitten im Wald. Brombeergestrüpp überall. Ich fühle mich wie bei „Blair Witch Camino Edition“. Das Handy meldet Stromsparmodus. Ich murmele nur noch „bitte bleib an“.

    Ich versuche es links. Dann rechts. Schließlich entdecke ich einen Eukalyptuswald, durch den sich halbwegs ein Pfad schlängelt. Erleichtert erreiche ich wieder eine Straße – nur um festzustellen, dass der Weg erneut in den Wald abbiegt. Ich überlege kurz, ob ich protestierend auf der Straße sitzen bleibe, entscheide mich dann aber für tapferes Weitergehen. Diesmal ist zumindest einigermaßen ein Pfad erkennbar. Wahrscheinlich bin ich der erste Mensch in diesem Jahrtausend, der hier langläuft.

    Endlich: Wieder Asphalt. Mein Herz beruhigt sich. Noch 800 Meter. Dann die Belohnung: Dusche, Essen, Bett.

    Doch der Camino hat noch einen letzten Lacher parat. Wer sitzt da völlig entspannt im Liegestuhl im Garten meiner Unterkunft? Mein verschollener Franzose! Ich hatte ihn längst abgeschrieben – und da sitzt er, als wäre er nie weg gewesen. Irgendwo im Nirgendwo, fernab vom Hauptweg. Manchmal glaube ich, der Camino ist ein alter Trickser. Und ich bin sein Lieblingspublikum.
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  • Day 25

    Läuft bei mir – 600 km

    May 20 in Spain ⋅ ⛅ 20 °C

    Trommelwirbel und Konfettiregen, bitte! Mit meinen mittlerweile 600 Kilometern auf dem Camino del Norte könnte ich locker von Zwickau bis an jede Ecke Deutschlands marschieren – egal ob Bratwurst in Nürnberg, Labskaus in Hamburg oder Weißbier in München. Stattdessen schleppe ich meine müden Füße weiter durch Nordspanien, verhandle täglich mit hügeligen Landschaften, steinigen Pfaden und dem Wettergott persönlich. Aber hey: Wer braucht schon die Zugspitze, wenn er den Camino rauf und runter spaziert?Read more

  • Day 24

    Tag 24 - Kurze Hose, große Suppe

    May 19 in Spain ⋅ ☁️ 17 °C

    Die letzte Nacht verbrachte ich in einer dieser klassischen Herbergen, wie sie der Camino in schöner Regelmäßigkeit bereithält – mit Schlafsaal, Gemeinschaftsbad und Deko aus der Kategorie „irgendwas mit Muscheln“. Den Schlafsaal habe ich mir aber erspart. Ich bin ja kein Monster. Es gibt keinen Grund, Unschuldige nachts mit meiner persönlichen Sinfonie aus Schnarchen und Zähneknirschen zu terrorisieren.

    Kurz vor dem Abendessen dann der erste Adrenalinschub des Tages – und das noch vor dem ersten Glas Wein! Meine Restaurant-App, normalerweise ein zuverlässiger Begleiter, meldet plötzlich um 18:50 Uhr: „Restaurant schließt um 19:00 Uhr!“ Ich springe erschrocken auf – meine lange Hose ist noch in der Wäsche, also renne ich in Shorts durch den Ort Richtung Restaurant. Dort angekommen, die große Erleichterung: Nichts sieht so aus, als wolle hier jemand gleich die Stühle hochstellen. Im Gegenteil: Pilger trudeln ein, viele ebenfalls in kurzen Hosen, und an der Tür hängt ein Schild, das verkündet, dass das Abendessen ab 19:00 Uhr serviert wird. Ich atme durch, setze mich erleichtert an die Bar und bestelle ein Glas Weißwein. Punkt 19:00 Uhr gibt der Wirt dann das Startsignal, und wie aus dem Nichts öffnet sich eine dieser magischen Camino-Türen – dahinter ein großer Saal mit gedeckten Tischen. Ich denke nur: Danke, Camino. Mal wieder gut inszeniert.

    Das Essen ist klassisch-herbergisch: Drei Gänge, viel Suppe, wenig Glamour. Die Vorsuppe kommt in Schüsseln, die andernorts problemlos als Planschbecken durchgehen würden. Man isst, man lacht, man kommt ins Gespräch. Ich lerne Barbara und Lisa aus Stuttgart kennen. Später stoßen auch Sabine, Rene und Mike dazu. Die Pilgerfamilie ist fast vollständig. Nur Rene macht Sorgen: Vor dem Restaurant auf der Treppe ausgerutscht, jetzt schmerzt der Fuß. Camino, sei gnädig!

    Die Nacht verläuft ruhig. Der Morgen eher nicht. Der Blick aus dem Fenster lässt Schlimmes ahnen: Wolken so tief, dass man sie eigentlich mit dem Toaster aufwärmen könnte. Es ist kalt. Und grau. Und… brrr. Immerhin: Die Wetter-App verspricht Trockenheit. Wir werden sehen.

    Nach dem Frühstück (Toast, Marmelade, Kaffee, und das in genau dieser Reihenfolge) geht’s los. Sabine und Rene sind schon auf der Piste. Ich trotte hinterher. 21 Kilometer stehen heute an – kein Höhenmassaker, eher ein entspannter Spaziergang durch den feuchten Frühling Nordspaniens. Nur meine Hände sind eiskalt, das Thermometer zeigt magere 10 Grad. Mai in Spanien – hatte ich mir wärmer vorgestellt.

    Zunächst geht’s über kleine Feld- und Waldwege. Und wie so oft bin ich plötzlich allein. Keine Pilger weit und breit. Nur Vögel, ein paar bellende Hunde und irgendwo ein plätschernder Bach. Der perfekte Soundtrack für meine persönliche Camino-Trance.

    Gegen halb elf kämpft sich die Sonne durch die Wolken. Ein paar warme Strahlen streicheln meine Jacke. Vom nächtlichen Regen dampfen die Felder. Die Natur zaubert eine Bilderbuchkulisse. Dann: der nächste Hohlweg – diese wundervollen, mit Pflanzen überwachsenen Pfade, die aussehen wie grüne Tunnel in eine andere Welt. Ich liebe sie.

    Kurz darauf wieder eine Begegnung der besonderen Art: die Autobahn A8 – mein persönlicher Schatten auf dem Weg nach Santiago. Immer wieder kreuzt sie meinen Weg, als wolle sie mir zurufen: „Na, schon müde? Ich bin schneller!“ Ich bleibe stur: Nein, danke. Ich lauf zu Fuß. Bin schließlich auf Pilgerreise, nicht auf der Flucht.

    Erstmals lese ich heute „Santiago“ auf einem Verkehrsschild. Ein bisschen Gänsehaut, ein bisschen Ehrfurcht – und ein bisschen Panik: Es wird ernst.

    Ein Stück weiter komme ich zu einem steinernen Kreuz, das Pilger mit Fotos und Erinnerungen geschmückt haben. Eine davon, noch ganz frisch, trifft mich besonders: Eine Frau erinnert an ihre Mutter, die vor genau einem Jahr gestorben ist. Ein stiller Moment. Der Camino schenkt nicht nur Ausblicke, sondern auch Einblicke.

    In einem kleinen Dorf erwartet mich dann ein Café – ein Geschenk des Himmels! Frischer Kaffee, Orangensaft, ein Stück Tortilla. Ich bin wieder Mensch.

    Weiter geht’s Richtung Vilalba. Der Weg bleibt angenehm: kaum Steigungen, schöne Landschaft, und vor allem – keine Autos! Irgendwo unterwegs treffe ich Hendrik aus Stuttgart. Für ihn ist es Tag 18. Er ist von Irun aus gestartet und läuft Etappen, bei denen selbst der Duracell-Hase einen Burnout bekäme. 30, manchmal 40 Kilometer. Einmal sogar 49! Ich krieg schon bei der Zahl Muskelkater. Aber: Jeder geht seinen eigenen Camino. Manche gemächlich, manche im Schnellgang. Hauptsache, man kommt an – irgendwann.

    Als sich der Himmel wieder verdunkelt, gebe ich Gas. Noch vier Kilometer. Ein paar Tropfen fallen, aber ich erreiche um 15:30 Uhr trocken die Unterkunft. Sie hat alles, was ich heute brauche: Bett, Dusche, Waschmaschine – und ein Restaurant gegenüber, das sogar geöffnet hat. Ein Camino-Wunder!

    Heute Abend geht’s früh ins Bett. Denn morgen steht die längste Etappe meiner Reise an: 30 Kilometer. Wenn das mal gut geht…
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  • Day 23

    Tag 23 - Drei Pilger und ein Kuhstall

    May 18 in Spain ⋅ 🌧 16 °C

    Der Morgen beginnt wie ein gut geöltes Uhrwerk: aufstehen, Zähne putzen, packen – alles wie gehabt. Nur das Frühstück fällt heute unter die Rubrik „kleines Abenteuer vor dem ersten Kaffee“, denn es wartet 400 Meter entfernt im Restaurant. Dort gibt’s dann einen Kaffee, ein Glas O-Saft und ein Stück Käsekuchen – minimalistisch, aber sättigend. Gourmet-Frühstück auf Pilgerart.

    Dann geht’s los, aber nicht ohne einen letzten sehnsuchtsvollen Blick ins Tal. Der Nebel liegt noch wie ein flauschiger Schal in den Mulden, während die Bergspitzen neugierig hervorlugen – als wollten sie schauen, ob die Pilger schon wach sind. Ich bin es. Und wie.

    Kaum auf dem Weg, da stehen sie vor mir wie bestellt und nicht abgeholt: Sabine und René. Unsere kleine Pilgercombo ist also wieder vereint. Gemeinsam geht’s durch duftende Eukalyptuswälder bis zur nächsten Kleinstadt – Kathedrale inklusive. In einem Straßencafé tanken wir neue Energie. Während die beiden danach weitertrödeln, will ich noch schnell in die Kirche. Und dann? Ja dann, sagt das Schicksal: „Jetzt wird’s lustig.“

    Denn: Von Sabine und René – keine Spur mehr. Dafür zwei mögliche Wege: einer kurz und steil, einer lang und flacher. Wir hatten uns eindeutig für die steile Variante entschieden – meine App aber wohl für den anderen. Nach einigen hundert Metern Aha-Moment also wieder zurück. Camino, du alter Schlingel!

    Ich laufe also allein, der Weg menschenleer. Fast unheimlich. Vor einer halben Stunde noch Pilgerparade, jetzt stille Wildnis. Camino-Versteckspiel auf Profi-Niveau. Dann beginnt der Anstieg – steil, steiler, Schnappatmung. Zum Glück biegt der Weg in einen Wald ab. Schatten! Kühle! Hoffnung!

    Der Blick nach vorn ist ernüchternd: Es geht immer weiter nach oben. Der Schweiß fließt wie die Bäche in Galizien, aber immerhin: Da sitzt Mike! Mein texanischer Freund im weißen Hemd. Ich frage mich ernsthaft, wie dieser Mann mit 80 Jahren hier hochkommt, während ich überlege, mich einfach als Felsformation auszugeben und liegen zu bleiben.

    Aber dann – endlich! Die verlorenen Schafe in Sicht. René und Sabine kurz vor dem Gipfel. Wir sind jetzt über der Baumgrenze und der Ausblick entschädigt für alles: Ein Panorama wie aus einer Fantasy-Serie. Und die Gipfeljause? Ehrensache.

    Doch kaum bei der Brotzeit, zieht sich der Himmel zusammen wie ein beleidigtes Kind. Donner grollt. Wir erzählen uns noch kichernd unsere besten Gewittergeschichten – was der Himmel offenbar als Einladung versteht. Minuten später: Weltuntergang in Dolby Surround. Wind, Regen, Blitze – das volle Programm.

    Doch siehe da! Wie aus dem Drehbuch erscheint ein Stall auf einer Anhöhe. Wir sprinten (also, pilgergerecht schnell) hinein. Ein freundlicher Hund, einige Kühe, eine Katze mit drei Babys, ein laufendes Radio – man könnte meinen, wir wären eingeladen. Der Sturm tobt draußen, drinnen herrscht fast Wohnzimmeratmosphäre. Fehlt nur noch Popcorn.

    Irgendwann beruhigt sich der Himmel, und genau in dem Moment, als wir wieder loswollen, erscheint Mike – pitschnass, aber lächelnd. Der Camino liebt gutes Timing. Als Trio laufen wir die letzten Kilometer. Es geht bergab – im besten Sinne – und gegen 16 Uhr erreichen wir unser Ziel. Und siehe da: Alle in der gleichen Unterkunft! Heute mit Waschmaschine, Trockner und Restaurant schräg gegenüber. Der Pilgerhimmel auf Erden.

    Kaum bin ich geduscht, öffnet der Himmel erneut seine Schleusen – aber diesmal beobachte ich das Ganze wohlgesittet durchs Fenster. Was für ein Tag. Was für ein Berg. Und was für ein Stall.

    Ab jetzt gibt es übrigens jeden Tag zwei Meilensteine als Foto: den ersten, und den letzten des Tages. Alles dazwischen? Camino-Magie.

    Und morgen? Morgen geht’s weiter. Vielleicht wieder mit Nebel, vielleicht mit Kuh, vielleicht mit Käsekuchen. Wer weiß das schon.
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  • Day 22

    Tag 22 – Vom Loslassen und Weitergehen

    May 17 in Spain ⋅ ☁️ 19 °C

    Mitten im Nirgendwo – dort, wo sich Fuchs und Pilger gute Nacht sagen – lag meine Unterkunft wie eine grüne Oase im galizischen Dschungel. Eine Gastgeberin wie aus dem Bilderbuch, herzlich, fürsorglich und offensichtlich überzeugt davon, dass ich ein verhungernder Wanderer sei. Sie wusch meine Wäsche, trocknete sie liebevoll und stellte mir ein Abendessen hin, das so reichhaltig war, als würde ich mit einer fünfköpfigen Familie durchs Land ziehen. Am nächsten Morgen die gleiche Szene: der Frühstückstisch war derart üppig gedeckt, dass ich mich ernsthaft fragte, ob ich mir nicht ein Lunchpaket für ein kleines Dorf einpacken sollte.
    Ein letzter Blick in die App brachte Ernüchterung: aus geplanten 20 Kilometern waren 25 geworden, und 700 Höhenmeter warteten auf mich wie ein stiller Berg aus Fragezeichen.

    Noch bevor ich den Ort verließ, begegnete mir ein bekanntes Gesicht. Er feierte sein Bergfest – ich gestern 500 Kilometer. Wir tauschten Glückwünsche aus, Schulterklopfen unter Weggefährten, die sich nicht viel sagen müssen, weil der Weg ohnehin schon alles erzählt.

    Dann war ich wieder allein mit mir, mit den Gedanken – und mit einem Tag, der schwerer wog als jeder Rucksack. Heute vor genau einem Jahr hat das Herz meiner Mutter aufgehört zu schlagen. Ein Satz, der noch immer schwer über meine Lippen kommt. Ich hatte immer gewusst, dass dieser Moment eines Tages kommen würde – und doch trifft er einen, als hätte niemand einen vorbereitet.
    Und trotzdem fühlt es sich an, als sei es gestern gewesen – das letzte Gespräch, die Nachricht, die Beerdigung. Ich dachte viel an sie heute. Daran, wie viel sie mir bedeutet hat. Ihr Tod ist nicht der Grund, warum ich heute hier gehe – aber vielleicht war er der erste leise Windstoß, der mich in Bewegung setzte.
    Ich suchte unterwegs nach einer kleinen Kirche, nach einer Kapelle, nach einem Ort, an dem ich eine Kerze anzünden konnte. Nur ein Licht, ein stilles Zeichen für all das, was man nicht sagen kann.

    Der Camino fing meine Gedanken auf wie ein guter Freund. Es wurde still um mich – nur Vogelstimmen, das entfernte Brummen eines Traktors. Die Welt sprach in leisen Tönen, genau richtig für diesen Tag. Die Wegweiser hatten sich verändert: statt gelber Pfeile jetzt massive Steinsäulen, die nicht nur die Richtung, sondern auch die verbleibende Strecke zeigten. Galizien meint es ehrlich mit seinen Pilgern.

    Ein Blick in die App ließ nichts Gutes ahnen: Die Höhenmeterlinie schoss wie eine Achterbahn in den Himmel. Und tatsächlich – ein Berg türmte sich vor mir auf, seine Spitze in Wolken gehüllt. Es ging erst steil runter, dann noch steiler wieder rauf. Aber oben: ein Ausblick, der für alles entschädigte. Die Sonne kämpfte sich durch, der Eukalyptus raschelte, und der Weg war trocken – ein kleines Pilgerparadies. Kurz dachte ich, es wäre geschafft. Dann bog der Weg ab – natürlich bergauf.
    Ein Blick auf die Uhr: 8,5 Kilometer. Ein Drittel. Kein Kaffee in Sicht, nur Natur pur. Das Gipfelglück währte nur kurz, der Weg hatte andere Pläne und schickte mich in ein steiles Tal. Dort wartete, wie bestellt, mein 80-jähriger Texaner, erkennbar an seinem langen weißen Hemd, und mit ihm Nicola aus der Schweiz. Gemeinsam meisterten wir die nächsten Höhenmeter. Oben: ein kleines, vielbesuchtes Café, wahrscheinlich das einzige weit und breit.
    Nach einer Pause ging’s wieder los – Nicola und ich meisterten den Abstieg, die Etappe verlangte alles ab: Es ging nie einfach geradeaus. Entweder rauf oder runter – der Camino machte heute keine Gefangenen.

    Im nächsten Dorf geschah dann etwas Kurioses: Ich begegnete Sabine und René. Zwei Namen, die mir vertrauter waren als so mancher Wegweiser – denn seit meiner Ankunft in Bilbao hatte mir meine Komoot-App täglich ihre Reiseberichte ausgespuckt. Ihre Route war immer ein paar Orte voraus, und ich wusste stets, was mich erwartet. Und heute – zack – da saßen sie plötzlich leibhaftig vor mir. Ich sprach sie direkt mit Namen an – ihre Gesichter ein Gemisch aus Verblüffung und leichter Internetparanoia. So ist das, wenn man Influencer ist und dann mitten im galizischen Nirgendwo erkannt wird.
    Wir unterhielten uns über unsere Touren, lachten über die Merkwürdigkeiten des Weges und machten ein gemeinsames Foto, bevor wir gemeinsam aufbrachen. Sie hatten ihr Tagesziel alsbald erreicht, ich noch vier Kilometer vor mir. Wir verabschieden uns entsprechend, und vielleicht sieht man sich ja irgendwo in den kommenden Tagen wieder.
    Mein restlicher Weg beglückt mich mit einer 12%-Steigung, gefolgt von einem ebenbürtig steilen Abstieg.
    Kurz vor Schluss tauchte sie wieder auf: meine alte Bekannte, die Autobahn A8. Ich unterquerte sie wie ein Gruß aus der Zivilisation. Um 17:00 Uhr erreichte ich meine Herberge – erschöpft, aber zufrieden. Nur der Magen meckerte, denn das einzige Restaurant im Ort hatte – natürlich – ausgerechnet heute Ruhetag. Mein Abendessen: zwei Äpfel und eine Banane. Camino-Gourmet auf Sparflamme.

    Aber heute ging es nicht ums Essen. Es ging um Erinnerungen. Um Menschen. Und um die Erkenntnis, dass der Weg nicht nur Landschaft, sondern auch Leben ist.
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