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- May 24, 2025, 11:25pm
- 🌙 13 °C
- Altitude: 259 m
SpainSantiago de Compostela42°52’41” N 8°32’45” W
Tag 29 – Der letzte Tanz

Der Wecker klingelt, die Füße wissen Bescheid: Heute ist der große Tag. Nur noch 25 Kilometer bis Santiago. Gemessen an den knapp 700, die hinter mir liegen, ist das ein besserer Verdauungsspaziergang. Ich bin euphorisch. Aber bevor ich die Pilgerkrone aufsetze, ein kleiner Rückblick auf den gestrigen Abend.
Ute und Robert – die guten Seelen von Tag 13 – sind wieder aufgetaucht. Zwei Orte weiter nur, also verabreden wir uns auf halber Strecke. Man hat sich viel zu erzählen, aber noch mehr Hunger. Leider macht das Restaurant erst um 19:30 Uhr auf. Zeit, in der sich Durst hervorragend in Wein umwandeln lässt. Noch bevor das Brot auf dem Tisch landet, hat der Wein schon seine Wirkung entfaltet. Jeder bestellt, was er kennt oder einfach schön aussieht. Der Tisch biegt sich vor Tapas und wir vor Lachen. Der Abend vergeht wie im Flug.
Als die beiden losmüssen, damit ihnen nicht der Herbergenschlüssel vor der Nase zuschnappt, beschließen wir: Morgen gehen wir gemeinsam die letzte Etappe. Gemeinsam nach Santiago – das fühlt sich gut an.
Ute warnt mich noch, dass sie bei jedem Camino kurz vor der Kathedrale Pipi in den Augen hat. Ich denke: „Oh Gott, das kann ja heiter werden…“
Heute früh dann das volle Camino-Programm: Wecker, Frühstück, Rucksack packen. Um 8:30 Uhr starte ich. Noch 24,6 Kilometer. Ich fliege förmlich los – ein bisschen wie ein Sechsjähriger, der gleich Geschenke bekommt. Nur dass das Geschenk eine gotische Kathedrale ist und es keine Spielsachen gibt.
Nach ein paar Kilometern sammle ich Ute und Robert ein – unser Dream-Team ist komplett. Der Weg führt uns durch alles, was der Camino zu bieten hat: Eukalyptuswälder, Anstiege, Straßen, Kuhduft. Es ist wie eine Greatest Hits-CD des Nordwegs, nur das Meer fehlt.
Ein letzter Kaffeestopp, dann geht es weiter. Wir passieren den Flughafen von Santiago, überqueren noch eine Autobahn und dann: Monte do Gozo – der Aussichtspunkt, von dem man die Kathedrale das erste Mal sehen kann. Ich bleibe überraschend gefasst. Noch.
Doch mit jedem Kilometer wird der Hals enger, der Magen flauer und der Puls schneller. Die Stadt kommt näher, die Geräusche ändern sich. Altstadt. Pflastersteine. Dudelsackspieler.
Und dann biege ich um die letzte Ecke – und da ist sie. Die Kathedrale von Santiago. Majestätisch, ehrfurchtgebietend und so unwirklich nah. Mein Atem stockt, die Schritte werden langsamer, bis ich schließlich mitten auf dem Platz stehe. Ich hatte geglaubt, vorbereitet zu sein. Aber jetzt, in diesem Moment, entlädt sich alles. Die Anstrengung, die Zweifel, die Freude – alles entlädt sich in diesem Moment.
Ich weine. Einfach so. Tränen der Erschöpfung, des Stolzes, der Dankbarkeit. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur dort stehe. Ute geht es ähnlich. Wir umarmen uns. Und selbst Robert, der Fels in der Brandung, hat plötzlich etwas Feuchtes im Blick. Es ist ein Moment, der nicht beschrieben, sondern nur erlebt werden kann.
Der Platz ist voller Menschen – und ein Basketballturnier. Es fehlt eigentlich nur noch ein DJ. Fotos werden gemacht, dann holen wir uns unsere Compostelas ab. Als erfahrene Pilger wissen die beiden genau, wie’s läuft: Wir schnappen uns eine Dänin und melden uns als Vierergruppe an. Papierkram effizient wie nie.
Danach geht’s ins Hotel, duschen, umziehen, Kathedrale besuchen, Tränen trocknen, Messe anschauen. Und dann – letzter Akt: Abendessen mit Ute und Robert. Tapas, Wein, viele Geschichten und noch mehr Lachen. Der perfekte Schlusspunkt.
Gegen elf dann der Abschied. Meine Reise endet heute. Es war intensiv, bewegend, oft schmerzhaft, meistens wunderschön. Ich habe Menschen getroffen, die mir ans Herz gewachsen sind, Erfahrungen gesammelt, die ich nie vergessen werde – und Füße, die dringend Urlaub brauchen.
Morgen geht’s für mich mit dem Flugzeug zurück nach Hause. Zurück in den Alltag, zurück ins normale Leben. Doch irgendetwas wird anders sein. Der Camino hat Spuren hinterlassen – in meinen Füßen, in meinem Kopf, und vor allem im Herzen.Read more