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  • Day 3

    Kibbuz Ma'agan Michael

    May 5, 2019 in Israel ⋅ ☀️ 22 °C

    Unglücklicherweise sind meine Aufzeichnungen des etwa 3-stündigen Kibbuzbesuchs gelöscht, der unerwartet authentisch und schnörkellos war.

    Ich hatte mit übertriebener Touristen-Show und Pseudo-Traditionen gerechnet, die uns verdeutlichen, wie toll das Leben im Kibbuz sei.
    Ich wurde positiv überrascht:

    Unsere Führerin ist 50 Jahre alt, im Kibbuz aufgewachsen und kann einen guten Überblick über das Leben früher und heute geben.

    Natürlich entstand die Idee des Kibbuz durch kommunistisch geprägte Einwanderer, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Not heraus in Gemeinschaft und ohne eigene Mittel Raum zum Leben in den kargen Felslandschaften geschaffen haben.

    Die Gemeinschaft Ma'agan Michael begann mit 30 Leuten.
    Heute leben hier 2. 000 Menschen, von denen 900 dem Kibbuz angehören. Das Dorf hat eine Fläche von etwa 2 x 3 km. Hinzu kommen etwa 600 km² Land.
    Der Boden ist vom Staat geliehen, ohne dass der Kibbuz eine Miete zahlen muss. Alle 40 Jahre wird aber neu geprüft, ob die Nutzung gemäß Absprache verläuft.

    Um dem Kibbuz beizutreten, gab es früher langjährige Probeverfahren, um sicherzustellen, dass das potenzielle Mitglied sich auch gut einfügt. Heute kann der Eintritt aufgrund der jetzt schon schwer zu verwaltenden Größe nur noch durch Heirat erfolgen. Wobei man nicht eintreten muss, nur weil man heiratet.

    Unterschieden wird zwischen richtigen Mitgliedern und bloßen Bewohnern.

    Niemand wird gezwungen, dem Kibbuz beizutreten oder in ihm zu bleiben, allerdings verzichtet er dann natürlich auch auf die Vorteile der sozialen Sicherung, freien Unterkunft etc.

    Speziell dieser Kibbuz scheint wirtschaftlich gut da zu stehen. Er erwirtschaftet einen millionenschweren Jahresumsatz aus der Produktion von Plastikteilen für verschiedene Industrien inklusive der Rüstung. Hinzu kommen Einnahmen aus dem Agrarsegement.
    Den Mitgliedern steht neben dem Grundeinkommen eine jährliche zusätzliche Gewinnausschüttung zu, die gleichmäßig auf alle verteilt wird.

    Eine 4-köpfige Familie bekommt derzeit etwa 2.500 Euro, was vielleicht wenig klingt, aber dafür ist die Unterkunft frei bis auf den Strom. Früher waren auch die Grundnahrungsmittel umsonst, aber durch zu viel Verschwendung wurde das geändert.

    Es gilt absolute Freiheit in Glaubensdingen und tatsächlich herrscht keine Religion vor. Der Staat subventioniert für Juden nur einen mehrmonatigen Aufenthalt, den Anders- oder Nichtgläubige selbst bezahlen müssen.

    In früheren Zeiten blieben Kinder bereits als Babys von den Eltern getrennt und wurden zusammen in einem Haus untergebracht. Zwar gab es wechselnde Aufsichtspersonen, doch kaum Kontakt zu den Eltern. Die Mutter wurde nur gerufen, wenn es wirklich nicht anders ging.

    Unser Guide selbst beschreibt das damalige - und auch ihr - Leben der Kinder als Aufwachsen wie ein Rudel Wölfe.
    Dieses Bild wiederholt sie mehr als einmal und scheint nicht wirklich glücklich darüber.
    Natürlich brachte dieses Leben für Kinder alle möglichen Freiheiten mit sich, wenn es darum ging, Blödsinn anzustellen, aber auch nahezu unlimitierte Grausamkeiten untereinander. Musste ein Bisschen an den Herrn der Fliegen denken.

    Nachdem sich die wirtschaftliche Lage stabilisierte, wurde das System umgestellt, sodass die Kinder heute mindestens bis zum 13. Lebensjahr bei den Eltern wohnen, danach können sie selbst entscheiden.
    Interessanter Punkt: als diese Änderung vorgeschlagen wurde, gab es zunächst viel Gegenwehr sowohl bei Eltern als auch Kindern, denen der Gedanke, als Familie zusammenzuleben, unheimlich war.

    Müssen Entscheidungen getroffen werden, gibt es keine fest gelegte Mehrheit. Die erforderlichen Stimmen hängen vom Thema ab.

    Verbrechen sind selten. Wenn, dann wird z.B. Diebstahl mit Verweis aus dem Kibbuz behandelt. Bei Gewalt wird auch die Polizei gerufen.

    Arbeiten im Kibbuz können wechseln. Kinder beginnen ab 14 Jahren, mitzuhelfen.
    Es gibt auch Künstler, wobei sich diese zumindest die Hälfte der Zeit auch an anderen Arbeiten beteiligen und schon darauf geachtet wird, dass sie nicht nur mit den Füßen im Sand malen, sondern sich wirklich künstlerisch betätigen.

    Ansonsten gibt es fast alles: Grund- und weiterführende Schulen, deren Ausbildung auch ausreicht um später an höhere Schulen und ins Studium zu wechseln.
    Es gibt Ärzte und ein Krankenhaus.

    Man kann als Mitglied des Kibbuz auch außerhalb arbeiten, gibt dann ggf. einen Teil des Einkommens wieder ab.

    Frauen arbeiten bis 64, Männer bis 67. Es gibt für jedes Mitglied zur Rente einen luxuriösen Alterswohnsitz, welcher bei Tod wieder an die Gemeinschaft zurück geht. un

    Je moderner das Leben und je größer die Gemeinschaft, desto mehr neue Probleme und Situationen gibt es, und alle versuchen von vorn, Lösungen zu finden. So ist zum Beispiel noch offen, wie man damit umgeht, wenn die bloßen Bewohner, die keine Mitglieder sind, in Rente sind und nicht mehr so viel Beiträge zahlen können.

    Die Zahl der Kibbuzim ist mittlerweile von etwa 600 auf 120 geschrumpft, was nicht weiter überrascht. Je höher der Standard, desto größer der Wunsch nach Unabhängigkeit.

    Auch unser Guide ist nicht traurig, dass sie mittlerweile nicht mehr jeden im Dorf mit Namen kennt, so ist die gefühlte Kontrolle durch andere weniger intensiv.
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