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  • Day 4

    Run or R.I.P

    April 23, 2019 in Bosnia and Herzegovina ⋅ ☁️ 13 °C

    Meine Nacht im Hostel war schrecklich. Nach den ganzen 4-Sterne-Hotels bin ich doch empfindlicher als ich dachte. Meine erste Tat heute früh dementsprechend: Der Kauf von Ohropax! So sollte das 4-Sterne-Hotel- Gefühl wiederkehren. Nein, das klingt jetzt alles schlimmer als es ist - das Hostel ist sauber, die Betten bequem, die Lage optimal und die Leute super. Aber natürlich gibt es immer wieder Deppen die keine Rücksicht nehmen.
    Der Tag heute stand ganz unter dem Motto: Sarajevo und Sarajevos Geschichte kennenlernen. So beteiligte ich mich heute an zwei Stadtführungen, eine hinsichtlich Sarajevos Geschichte und die andere hinsichtlich Sarajevos dunkler Jahre. Aber bevor ich überhaupt aufnahmefähig war, frühstückte ich. Ich verweigerte das kostenfreie Frühstück im Hostel und beglückte mich selbst mit einem Börek, gefüllt mit Käse und Jogurtsoße. Ja! Das ist krass, ich weiß. Aber man isst hier auch Cevapi zum Frühstück - was soll man da machen - ich pass mich natürlich an. Zum Nachtisch gab es gleich noch Baklava (Schokolade und Feige/Nuss) obendrauf - wenn voll, dann aber auch richtig. Die ‚alte Stadt‘ ist toll, erstaunlich - ein Bazar wie ich ihn nicht erwartet habe, zumindest nicht in Sarajevo. Ich erinnerte mich an Dubai zurück, nur war alles viel ruhiger, keiner schrie herum, alles glitzerte - eine sehr friedliche Stimmung! Mein erster Eindruck war wirklich äußerst positiv und ich verstand sofort, warum alle so begeistert von Sarajevo waren. Und dann ging die Stadtführung los und plötzlich verstand ich warum Sarajevo so ist wie sie ist.

    Sarajevo entstand im 15. Jahrhundert und gehörte dann über 400 Jahre zum osmanischen Reich, was natürlich die Parallen zur Türkei, Griechenland etc. sowie diese hohe Zahl an Moslems erklärt. In Sarajevo sind 85% der Bevölkerung islamisch. ‚Ost meets West’ trifft es genau auf den Punkt. Abschließend war das Land unter Ungarischer-Österreichischer Regierung. Das führte zu einer gewissen Modernität: Casinos, die Tram, einfach Fortschritt in allen Bereichen - all das bescherte der Westen bis zum Jahre 1914, das Jahr in dem Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet wurde. Dieser Anschlag gilt nicht als Grund, sondern als Auslöser des ersten Weltkrieges.
    Das was mir auch gar nicht so bewusst war, ist das Ausmaß des Bosnienkrieges. Jugoslawien drohte zu zerfallen, denn nachdem Slowenien die Unabhängigkeit erklärte, so folgte Bosnien. Das Problem war jedoch, dass genauso wie heute drei Ethnien in Bosnien vertreten sind: Bosniaks, Serben und Kroaten. Die Serben wollten den Verbleib in Jugoslawien, die Bosniaks die Unabhängigkeit und somit kam es zum Konflikt. Sarajevo wurde in dieser Zeit besetzt - 44 Monate lang war diese Stadt gefangen, täglich beschossen und bebombt, von der Elektrizität und Wasserversorgung komplett abgeschottet. Sarajevo ist umringt von Bergen, optimal für tägliche Bombenanschläge und Sniper. Die Bürger verharrten im Keller - allesamt! Die Möbel wurden zersägt und als Brennstoff genutzt. Schüler wurden 2h am Tag provisorisch im Keller unterrichtet - 44 Monate lang. Dass das überhaupt möglich war so lange, ist mir tatsächlich ein Rätsel. Das einzige was die Menschen am Leben hielt, war die Hoffnung, dass es bald vorbei ist. Und das erklärt auch diese friedliche Stimmung heute. Die Menschen wollen kein Krieg. Sie wollen leben, in Frieden. Sie wollen auch nicht darüber reden, der Schmerz sitzt zu tief - über 11.000 verloren allein in Sarajevo ihr Leben, 100.000 während des Krieges und 2 Millionen sind geflüchtet. Auch heute sieht man in Sarajevo Granatenlöcher in vielen Gebäuden. Es ist wirklich schrecklich sich das vorzustellen. Es ist schrecklich sich vorstellen zu müssen 44 Monate im Keller zu leben und nicht zu wissen, wann all das ein Ende hat. Und: Das ist alles noch gar nicht so lange her!
    Der Konflikt zwischen den drei Ethnien ist noch nicht vorbei, sondern Gegenstand des heutigen Alltags. Dieses Land hat doch tatsächlich drei Präsidenten: Einen Serben, einen Kroaten und einen Bosniak. Abgestimmt werden kann nur einstimmig - daher passiert nichts im Land, keine Änderung, kein Fortschritt. Zur Gesellschaft gehört man auch nur wenn man einer dieser Ethnien zugehörig ist, sonst gehört man zu ‚den anderen‘.
    Das ist auch der Grund warum Bosnien nicht zur EU gehört und dies auch nicht in den nächsten 20 Jahren tun wird.

    All diese Ausführungen haben mich schockiert und dennoch war ich so glücklich darüber, wie mit dem Thema und all dem Leid umgegangen wird. Die Leute lassen los und schauen nach vorn - und das ist toll und merkt mal an der allgemeinen Stimmung. Der grausame Krieg ist keine 30 Jahre her und doch herrscht so viel positive Energie in diesem Land.

    Nach diesen mitreißenden Stunden brauchte ich erstmal was zu essen und 1-5 Bier. Dies tat ich mit Leuten aus dem Hostel und war froh, all das nochmal so verarbeiten zu können.
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