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  • Day 216

    Playa Gigante 1

    April 15, 2019 in Nicaragua ⋅ ⛅ 31 °C

    Wo Ochsen voll beladene Karren ziehen.

    Wo im Kühlschrank keine einzige Plastikverpackung zu finden ist.

    Wo Pferde und Hunde frei herum laufen, Ferkel dagegen Gassi geführt werden.

    Wo Pura Vida einfach nur gelebt anstatt wie in Costa Rica gehyped wird.

    Wo so ziemlich alle Gerichte Mais als Grundlage haben.

    Wo Wasserkanister, Holzbalken, Stühle und vieles mehr auf Pferden transportiert werden.

    Wo Kühe Vorfahrt auf der Straße haben.

    Wo vor jedem Haus mindestens eine Hängematte hängt.

    Wo Jungs mit Lassos Kühe treiben.

    Wo man die Wäsche per Hand auf dem Waschbrett im Garten wäscht.

    Wo die Antwort auf so ziemlich alles „tranquilo“ lautet.

    Wo in feinster Handarbeit Fischernetze repariert werden.

    Wo dreimal täglich Gallo Pinto (Reis mit Bohnen) gegessen wird.

    Wo Fische an Leinen zum Trocknen aufgehängt werden.

    Wo man stets das Meer rauschen hört.

    Wo Brüllaffen durch den Garten streifen.

    Wo alle paar Tage der Strom für viele Stunden ausfällt.

    Wo meine geliebte Frangipani-Blüte Nationalblume ist.

    Wo man noch an einem menschenleeren Strand joggen kann.

    Wo man um 21 Uhr ins Bett geht und um 5 Uhr aufsteht.

    Wo Lachen die kurzfristige Lösung für alles ist.

    Wo der wunderschöne Nationalvogel Guardabarranco morgens zu Besuch kommt.

    Wo die Frauen kochen, putzen, waschen, einkaufen und die Männer Fischer sind.

    Wo abwechselnd Reggaeton, Salsa, Bachata und Reggae aus überdimensional großen Boxen scheppert.

    Wo Dienstags und Sonntags der Gemüsewagen mit ohrenbetäubenden Megafon-Ansagen über das aktuelle Angebot durchs Dorf fährt.

    Wo das Konzept der Großfamilie gelebt wird.

    Wo die Haustüren stets offen stehen.

    Wo einmal am Tag der bunte Oldtimer Bus vorbeituckert.

    Wo „buena onda“ (Good Vibes) höchste Priorität hat.

    Wo ich in den kommenden fünf Wochen ein Stück meines Herzleins verlieren werde.

    El Gigante.

    Ein kleines Fischerdorf an der südlichen Pazifikküste Nicaraguas.

    Am Tag nach meinem Geburtstag in Costa Rica kommen Felix und ich hier am Playa Gigante an.
    Die ersten drei Tage wohnen wir zusammen im „Brio“- Hotel und genießen die außergewöhnliche Atmosphäre, die die Manager Natalie und Adam dort kreieren.

    Und dann beginnt meine Zeit in der einheimischen Familie Espinoza.
    Für mich ist das der Start einer kulturellen und sprachlichen Immersion. Felix hingegen zieht nach Popoyo um, um dort den Traum eines jeden Surfers zu leben, was bedeutet, mehr Stunden des Tages im Wasser als an Land zu verbringen.

    Es liegt nun also eine Zeit vor uns, in der Felix und ich an verschiedenen Orten leben und uns gelegentlich für einen gemeinsamen Ausflug treffen oder uns gegenseitig besuchen.

    Nach siebeneinhalb Monaten des Aufeinanderklebens fühlt es sich ungewohnt an, ohne den Partner zu sein. Aber genau dies ist auch das Schöne dieser örtlichen Trennung: Mal wieder für sich alleine sein. Beobachten, wie Andere einen als Einzelperson wahrnehmen. Ohne Kompromisse seine Interessen und Hobbies ausleben können. Eigene Entscheidungen treffen müssen.
    Den Partner vermissen. Vorfreude auf ein Treffen spüren.

    Was für ein aufregender neuer Abschnitt unserer Endless-Summer-Reise!

    Der Zeitpunkt meiner Ankunft in Gigante ist ein ganz Besonderer: Semana Santa (die Osterwoche), oder auch Semana Loca (verrückte Woche) wie die Nicas sagen. Warum loca?
    Weil eine Woche lang gefeiert wird, als gäbe es keinen Morgen mehr.
    An den sonst menschenleeren Stränden rund um Gigante werden Busladungen voller feierwütiger Städtler ausgespuckt, auf den Gassen verkaufen fliegende Händler allerlei Kram und
    Snacks, Musik (natürlich Reggaeton) dröhnt aus allen Richtungen und das Meer ist gesprenkelt von bunten Punkten. Das Baden in Kleidern hat jedoch nichts mit der Religion zu tun (die Mehrheit ist christlich), sondern die Nicas sind eitel was ihr Aussehen betrifft und schämen sich, ihren eventuell nicht perfekten Körper zur Schau zu stellen.
    Das wird mir erst so recht klar, als ich in meinem Bikini und mit meiner neuen Freundin Rachel durch die tosende bunte Menge am Strand spaziere und mich alle angaffen.
    Rachel ist die Tochter von Juan, dem Chef meiner Spanischschule „El Pie de Gigante“, wo ich jeden Morgen Unterricht bei meiner überaus lustigen Lehrerin Marcela habe.
    Rachel studiert Journalismus an der Uni Managua. In stundenlangen Gesprächen berichtet sie mir über die Proteste und die Ungerechtigkeiten, die sich letztes Jahr in Nicaragua ereignet haben. Ganz schön anspruchsvoller Einstieg in meine Spanischkarriere hier in Gigante :).
    Sie berichtet davon, wie sie und viele ihrer Kommilitonen im April 2018 Demonstrationen organisiert haben gegen die Kürzung der Gelder für Pensionäre. Wie sie sich für das Recht der Senioren erhoben haben. Wie sie von der Regierung unter Daniel Ortega niedergeschmettert wurden. Wie die Proteste außer Kontrolle gerieten. Wie Polizisten auf Demonstranten schossen. Wie Studenten verhaftet wurden, nur weil sie ihre Stimme erhoben haben. Wie Journalisten ins Ausland flohen, weil sie um ihr Leben fürchteten. Wie auf den Straßen Managuas, Leons und Masayas Blutvergiessen an der Tagesordnung war.
    Beim Erzählen steigen ihr Tränen der Trauer und der Wut in die Augen. Genau in diesen, eigentlich fröhlichen Ostertagen, eskalierte vor einem Jahr die Situation und damit brach auch der Tourismus in Nicaragua zusammen, was vielen Einheimischen die Lebensgrundlage kostete.

    Es ist fesselnd, berührend und ergreifend, diese Geschichten aus dem Munde einer direkt Beteiligten zu hören.

    Mit Rachel, ihren zwei Schwestern und ihrem Papa Juan erlebe ich dann auch am eigenen Körper, wie „loca“ die Semana Santa wirklich ist. Am Samstag der Osterwoche
    tanze ich als einzige Touristin inmitten wild gewordener, hüftschwungerprobter Nicas die Nacht hindurch. Geschlagene acht Stunden trainiere ich meine Oberschenkel- und Pomuskeln, denn zu Reggaeton gehts „Abajo Abajo“ in die Knie bis man ganz unten ankommt. Nachdem man da unten dann ein bisschen seinen Hintern gewackelt hat, gehts dann ganz langsam wieder „Arriba, Arriba!“ Damit das auch alle schön im Gleichtakt tun können, bellt der DJ die Kommandos heiter durch sein Mikrofon. Mit jedem „Nica libre“ komme ich ein bisschen besser in die Latina-Moves rein und tanze auf diesem Sand-Dancefloor, bis die Sonne mir entgegenlacht.

    Wer mir ebenso entgegenlacht, ist meine Gastmama, als ich völlig fertig um sieben Uhr morgens mit tausend Kilo schweren Beinen daheim einlaufe.

    Wo für sie der Tag schon lang begonnen hat, falle ich ins Bett und träume von „Abajo, Abajo! Arriba, Arriba!“

    Ein bisschen stolz bin ich dann am nächsten Tag, als Juan erzählt, dass ihn viele Locals gefragt haben, wer diese „chela“ (Weiße) sei, die er auf die Fiesta mitgebracht habe und dass sie noch nie eine chela so latinamässig tanzen sehen haben.

    Ich freue mich sehr über dieses Kompliment. Als ich dann jedoch die Kinder anschaue, die auf einer extra für die Semana Santa aufgebauten Bühne am Strand spontane Dancemoves hinlegen, realisiere ich schnell wieder, wie viele Universen zwischen einer deutschen und einer Latinohüfte liegen.

    Wie gut, dass ich noch einige Wochen in diesem Latinoland Zeit habe, mir den ein oder anderen heißen Dancemove abzuschauen :)
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