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  • Day 299

    Nias - Vertraut und doch so fremd 1

    July 7, 2019 in Indonesia ⋅ ⛅ 27 °C

    Unsere Villa Warna Warni.
    Mittlerweile sind es drei Häuser - dank Michi und Nono alle kunterbunt.
    Obwohl ich eigentlich schon weiß, wie es sich hier lebt, bin ich auch dieses Mal wieder von einigen Dingen irritiert:

    Waschbecken. Wieso zur Hölle gibt es nirgends Waschbecken? Es bedarf einiger Angewöhnung, mit derselben Kelle zu duschen, Zähne zu putzen, die Toilette und den Mund zu spülen, Hände und Dinge wie Pinsel oder Kaffeetassen zu waschen.

    Linksverkehr. Wie oft haben wir in den letzten neun Monaten eigentlich die Straßenseite gewechselt?

    Beten. Vor und nach dem Essen. Ein sehr schönes gemeinsames Ritual. Wenn man es mal vergisst und direkt losfuttert, erntet man direkt warnende Blicke.

    Schmatzen. Während des Essens. Anfangs lustig, nach ein paar Wochen nervtötend.

    Schwitzen. Die hohe Luftfeuchtigkeit gepaart mit der Äquatorsonne und dem scharfen Essen treibt einem ununterbrochen den Schweiß ins Gesicht. Ein Zustand, an den man sich als Mitteleuropäer wohl nie gewöhnt. Die Niasser hingegen merken es gar nicht richtig, für sie ist Schwitzen Normalzustand.

    Reis. In Massen. Morgens. Mittags. Abends. Eine Unterscheidung in Frühstück, Mittag- und Abendessen gibt es in der indonesischen Sprache nicht. Es heißt ganz einfach „makan“.

    Chili. In Massen. Morgens. Mittags. Abends. Siehe Punkt „Schwitzen“.

    Mit den Händen essen. Wie zur Hölle kann man denn bitte mit den Händen Reis essen? Nein, ohne Fladenbrot als Löffelersatz. Einfach nur mit den Fingern.

    Das dröhnende Geräusch der Kokosnussreibemaschine. Zwischen Faszination über das geraspelte weiße Gold, das da herausgearbeitet wird und der Angst, dass im nächsten Augenblick ein Kinderfinger geraspelt wird.

    Das markerschütternde Quieken der Schweine. Wenn sie gefüttert werden (bzw. wenn sie - wie fast jede Nacht - beim Nachbarn geschlachtet werden).

    Das Wett-Krähen der Hähne, die den Tag oft schon um drei Uhr nachts einläuten.

    DJ Aisha. Die Kinder gehen krass dazu ab.

    „Tidak apa apa“ - kein Problem. Eigentlich toll, wenn alles kein Problem ist und man immer alles machen darf. Manchmal aber auch echt irritierend. Zum Beispiel wenn man auf die Frage: „Soll ich dir helfen?“ die Antwort: „ Kein Problem“ bekommt. Heißt das jetzt Ja oder Nein? Oder „Soll ich dir etwas aus der Stadt mitbringen?“ - „Tidak apa apa.“

    Spülen. In der Hocke auf dem Boden neben dem Brunnen.

    Das glirrende Geräusch des Nachbar-Schmiedes in aller Herrgottsfrüh.

    Handeln. Um alles. Sogar wenn der eigene Bruder der Verkäufer ist.

    Tante Tini. Lustigerweise sagt man hier zu Frauen, denen man Respekt zeigen will, Tante.

    Spontan. Die normale Vorlaufzeit für Einladungen zu einer Hochzeit beispielsweise beträgt 1-3 Tage. Genau so spontan muss man auch mit Planungen, die die Arbeit im Kinderheim angehen, sein.

    Meine Zeit hier in der Villa Warna Warni ist zwar anstrengend, aber tut dem Herzchen sehr gut. Hier kennt man mich, hier habe ich eine Aufgabe, mache etwas Sinnvolles. Hier werde ich in Liebe bezahlt und bin ein Teil eines extrem gut funktionierenden Systems. Eines sauber geölten Großfamiliengetriebes, in dem jeder genau weiß, was er wann zu tun hat. Am allermeisten begeistert mich, wie gut die Kinder erzogen sind. Sie sind überaus höflich, respektvoll, sagen immer zu allem Danke und Entschuldigung (sogar, wenn ich wo dagegenlaufe. Sie entschuldigen sich sozusagen für meine Blödheit ;).
    In der Freizeit der Kinder knüpfen wir Freundschaftsbändchen, falten Origami, spielen Tischtennis und UNO, singen oder sitzen einfach vor dem Haus auf dem Boden und quatschen. Oder glotzen auf die Straße. Oder tun nix.

    Besonders schön finde ich auch den „jalan jalan“ (Spaziergang) durch unseren villaeigenen Garten.
    Grün. Bananenstauden, Tapiocapflanzen, Chilibäumchen, Kokosnusspalmen. Alles grün. Bis runter zum Reisfeld. Und auch hier: Grün soweit das Auge reicht.
    Die pure Schönheit der Reisfelder hat mich schon oft in ihren Bann gezogen und auch dieses Mal breitet sich in mir unmittelbar eine innere Ruhe aus. Die dünnen, langen Pflänzchen, die in verwunderlich beruhigender Art in ordentlichen Reihen stehen und bei jedem Windzug sachte rascheln.
    Gekonnt huschen Deli und Aris auf den sumpfigen Wegen zwischen den bewässerten Feldern hin und her, pfeifen auf Grashalmen und zeigen uns die leeren Reis-Ähren.
    „Normally you can hear the people screaming to chase away the birds. But now we don’t hear anyone.”
    Joli erklärt, dass die diesjährigen Reispflanzen kaputt sind. In ganz Südnias wird die Reisernte äußerst schlecht ausfallen, da in den Ähren schlichtweg nichts drin ist. Niemand weiß genau, woher das kommt. Es könnte an der Temperatur liegen oder an der Luftfeuchtigkeit. Keiner weiß es genau, aber es ist für viele Niasser Bauern ein Genickbruch. Sie leben vom Reis und müssen nun schauen, wo sie ihr „täglich Brot“ herbekommen. Auch in unserer Villa muss mehr Reis zugekauft werden. Pro Jahr gibt es drei Reisernten, wobei auf unseren Feldern insgesamt 17 - 25 Säcke Reis produziert werden. In mühevoller und schweißtreibender Arbeit. Wieder einmal mehr wird mir bewusst, wieviel Zeit, Schweiß und sich zwischen die Zehen festsaugende Blutegel in dem Reis stecken, den wir einfach so ganz bequem zuhause vom Regal kaufen. Und wieder einmal mehr nehme ich mir vor, zuhause ausschließlich fair gehandelten Reis zu kaufen, damit die Arbeiter vor Ort wenigstens annähernd für das belohnt werden, was sie leisten.

    Auf dem Weg durch den Garten zurück zur Villa erhasche ich ein Näschen des mittlerweile so vertrauten Geruches nach Chili, Knoblauch und Ingwer. Juli kocht. Hmmmm mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Vor allem weil ich weiß, dass ein Großteil unseres Abendessens genau aus diesem Garten stammt.

    Ach wie schön ist es, hier auf Nias zu sein. Es sind so viele Kleinigkeiten, die diesen Ort und seine Menschen zu meiner zweiten Heimat machen.
    Dschungelgeräusche zum Einschlafen. Sonnenaufgang über Kokosnusspalmen. Mit der Sonne leben. Das ausgiebige, sinnliche Bet- und Singritual vor dem Schlafen.

    Apropos Schlafen: Michi und Nono haben unglaublich viel Zeit und Liebe in die Renovierung der Villa gesteckt, so auch in die oberen beiden Zimmer des zweiten Hauses. Dort schlafen Volunteers, Gäste und auch wir, wenn wir vor Ort sind. Felix und ich gestalten die Räume weiter, statten sie mit Betten, Moskitonetzen und einem prall gefüllten Materialschrank für die Volunteers aus. Außerdem stellen wir einen Volunteerguide zusammen, der zukünftigen Freiwilligen helfen soll, sich auf Nias und in der Villa Warna Warni zurecht zu finden. Besonders betonen wir dabei die Kulturellen Unterschiede, die sogar uns nach acht Jahren Nias-Erfahrung immer wieder an unsere Grenzen bringen.

    Zum Beispiel, dass der älteste Sohn eine übermächtige Stellung hat (beim Todesfall des Vaters geht alles Hab und Gut an den ältesten Sohn und nichts an die Frau) und Johan aufgrund dessen nie bei den normalen Haushalts-Tätigkeiten in der Villa helfen wird. Auch wenn das mit unserem deutschen Gerechtigkeitsempfinden nicht vereinbar ist: man muss akzeptieren, dass die anderen Kinder Johans Teller spülen und seine Hosen waschen.
    Anderes Beispiel: Es ist unglaublich schwierig, neue Mädchen in das Kinderheim zu bekommen. Das liegt nicht daran, dass etwa alle Niasser Mädchen eh schon zur Schule gehen können. Nein, davon sind wir weit entfernt. Es liegt daran, dass die Familien ihre Mädchen nur ungern gehen lassen, da sie diese für gutes Geld an zukünftige Ehemänner „verkaufen“ können. Harinatal berichtete uns, wie er seiner Schwiegermama in spe jeden Tag Hühner brachte und ihr alle möglichen Dienste erwies, um den Preis für seine Nattie etwas zu drücken.

    Ein sehr krasser Unterschied ist auch, wie extrem gläubig die Niasser sind. Die Mehrheit sind Katholiken. Jedoch von der Sorte „Händchen halten in der Öffentlichkeit ist obszön, Sex vor der Ehe geht gar nicht und Verhüten ist auch nicht drin.“ Nach dem verheerenden Tsunami 2005 arbeitete Joli für „Surf-Aid“ und sollte in diesem Rahmen Aufklärungsarbeit in den Dörfern Nias‘ leisten. Als er dies jedoch tat, bekam er vom ersten Dorfchef direkt eine Strafe auferlegt und musste zwei Säcke Reis und ein Schwein bezahlen.

    Nias ist wirklich eine andere Welt. Ich habe selten so einen Ort erlebt, der noch kaum von der westlichen Konsum- und Kapitalismuswelt beeinflusst ist, an dem die wenigsten Menschen ein Bankkonto haben, an dem Traditionen fast schon über den Gesetzen stehen, an dem die Dorfgemeinschaft einen extrem hohen Stellenwert hat, an dem in Kokosnüssen und Schweinen bezahlt wird, an dem Hähne gehegt und gepflegt werden, an dem das Ansehen im Dorf so wichtig ist, dass man sich tief verschuldet, weil man lieber hunderte Menschen, die man nicht einmal kennt, zu seiner Hochzeit einlädt, als dass man nur wenige Gäste hat, was nicht gerade für einen guten Ruf spricht.

    Und mitten in diese stark traditionsbehaftete Kultur platzten vor acht Jahren ein paar deutsche Studenten und haben es geschafft, über tausende Kilometer hinweg eine Kooperation aufzubauen und das Kinderheim Villa Warna Warni zu erbauen. Unfassbar. Immer wieder, wenn ich das selbst von außen betrachte, wundere ich mich, wie wir das eigentlich geschafft haben. Wie wir da jetzt mitten in der bunten Villa sitzen können und sogar ich als Frau ein Meeting mit vier Männern anleiten darf.

    Ein Elefantenanteil am Gelingen dieses Projektes liegt ganz klar bei Joli. Mit seiner weltoffenen Art, seiner Kooperationsbereitschaft, seiner tief verwurzelten sozialen Ader und seinen unendlichen Ideen leistet er Tag für Tag grandiose Dinge und hält den Laden am Laufen.

    Welch Privileg, einen solchen Menschen seinen Freund und Partner nennen zu dürfen!
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