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  • Day 5

    Drama auf der Pilgerreise

    July 5, 2019 in Bulgaria ⋅ ☀️ 15 °C

    Nicht wie geplant um 7, aber um 8 Uhr breche ich von der Hütte „Rila-Seen“ auf. Mit den Höhenmetern steigt auch meine Stimmung, schon um 10 Uhr erreiche ich den 7-Seen-Blick. Mein Tagesziel ist das berühmte Rila-Kloster. Der Anstieg geht über Felsformationen, zuerst scheint die Sonne, für den Nachmittag aber sind Gewitter angesagt. Kurz nachdem ich den höchsten Punkt von über 2600 Metern überwunden habe, ein wunderbarer Anblick: Ganz tief unten im Tal, 1500 Höhenmeter tiefer als ich und eingebettet in dichten Wald wie ein Nest leuchtet das Rila-Kloster empor. Nach einer Rast in der Mittagsstunde auf dem Grat, von dem sich ein schmaler Weg in das Tal hinuntermeandert, beginne ich den Abstieg.
    Bereits nach einigen hundert Metern verliert sich oder verliere ich den Weg. „Nun, es geht ja immer nur nach unten, das schaffe ich auch so“, denke ich. Zunächst wohlgemut suche ich mir Abhänge, die nicht ganz so steil aussehen und gehe sie hinab. Bald merke ich, wie schwierig das ist, ich komme nur sehr langsam voran. Ich finde das Bett eines Sturzbaches, in dem das Wasser jetzt, im Hochsommer, nur unter der obersten Steindecke fließt, das aber an der Oberfläche trocken ist. Jeder Schritt muss ganz bewusst gesetzt werden, ab und zu rutscht ein Stein weg und ich falle. Etwa zwei Stunden steige ich in diesem Bett hinab. Ertrag: einige hundert Meter. Dann wird dieses Flussbett so steil, dass an ein Weitergehen nicht zu denken ist. Ich verlasse das Bett und kämpfe mich durch Wiesen, die knie- z.T. auch hüfthoch die Abhänge bedecken. Auch diese haben ein Gefälle von schätzungsweise 60 bis 80 Prozent; ständig rutsche ich auf dem Grass aus, einmal fällt mein großer Rucksack, den ich vor Erschöpfung abgelegt hatte, 20 Meter in ein anderes Flusstal hinunter, mit schon fast letzter Kraft steige ich zu ihm hinab. Der anfangs eher scherzhafte Gedanke mir von außen Hilfe zu holen, wird hier konkret. Ein Gewitter, das nicht allzu lange dauert geht über mir nieder, ich bin nass, der Boden um mich herum ebenso. Langsam kündigt sich der Abend an. Ich hatte gelesen, dass auch in Bulgarien die Notrufnummer 112 lautet. Ich wähle sie. Eine Frau, die mich nicht versteht, legt zweimal auf. Ich bleibe beharrlich, rufe an, spreche russisch: „Das ist kein Spaß. Ich brauche Hilfe.“ Das versteht sie. Sie verbindet mich mit dem Notfallteam, das für diesen Teil des Landes zuständig ist. Ich spreche mit verschiedenen Männern, mal russisch, mal englisch, gebe meine Koordinaten, Längen- und Breitengrad, durch und sage, man solle einen Hubschrauber schicken, solange die Sonne noch nicht untergegangen ist. Ich bin gut sichtbar, oberhalb der Baumgrenze. Dann ist der Akku meines Handys leer. Ich warte eine knappe Stunde, hoffe darauf, am Himmel einen Hubschrauber zu entdecken. Nichts. Ich habe keine Ahnung, ob irgendwelche Hilfsmaßnahmen eingeleitet wurden oder ob ich mir selbst überlassen bleibe. Ich kämpfe mich weiter in äußerst langsamen Schritten über die Abhänge, verliere jedoch kaum an Höhe, weil ein Abstieg aufgrund der Steilheit nicht möglich ist. Nach einer Weile fällt mir ein, dass ich mein Handy eventuell über mein Laptop aufladen kann. Ich versuche es, es funktioniert. Wieder rufe ich die 112 an. Mir wird gesagt, dass sich ein Rettungsteam auf den Weg gemacht hat. Es seien erfahrene Leute, sie würden mich finden, ich solle bleiben wo ich bin. Ich schöpfe Hoffnung. Mit dem letzten Licht des Tages geht ein weiterer Regen über mir nieder, in ihm erkenne ich einen Regenbogen - Tränen laufen über mein Gesicht, ich denke an Gottes Zusage, uns Menschen nicht alleine zu lassen und an den Regenbogen als Zeichen dieses Versprechens. „Danke, Gott“, stoße ich aus. Per WhatsApp informiere ich meinen Freund Boris Suskopf, selbst Notfallarzt, und bitte ihn mit Angabe meiner Standortkoordinaten zu veranlassen, dass mich ein Rettungshubschrauber aus dem Berg holt, wenn er bis zum nächsten Morgen um 10 Uhr nichts von mir gehört hat. Er nimmt sich der Sache an, erkundigt sich bei mir nach meiner Versicherung u.a.. An einen eigenständigen Abstieg ist in der Nacht überhaupt nicht mehr zu denken. Ich bin durchnässt, schlottere vor Kälte. Da höre ich zum ersten Mal von ganz weit entfernt Pfeifen. Ich brülle: „Here, I am here. Ja zdes’.“ Nach einer guten weiteren Stunde, es ist etwa 23 Uhr, leuchten die Lampen des Rettungsteams einige hundert Meter unter mir auf, ich torkele auf sie zu. Voller Dankbarkeit begrüße ich die Rettungsmänner. Sie freuen sich mit mir, geben mir Wasser zu trinken, Kekse zu essen („Energie“) und schütteln mir alle die Hand. Vier sind es an der Zahl - gut gebaute Kerls, in roter Signalkleidung, ausgerüstet mit Stöcken, Lampen, einer Machete, Essen und anderem. Nach einer gemeinsamen Rast, mitten in der Nacht, hoch auf diesem Berg, rüsten sie mich ebenfalls mit Wanderstöcken und einer Lampe aus, nehmen mir den großen Rucksack ab und wir begeben uns auf den Abstieg. Sie stimmen mir zu, dass ohne den Weg, den ich ganz zu Beginn des Abstiegs verloren hatte, ein Hinunterkommen praktisch unmöglich ist. Nach einer halben Stunde erreichen wir den Weg. Auf ihm steigen wir anderthalb weitere Stunden hinab. Es ist überaus mühsam, meine Oberschenkelmuskeln schmerzen bei jedem Schritt, aber ich weiß, dass ich gerettet bin. Um kurz vor ein Uhr morgens erreichen wir das Rilakloster. Wir feiern unsere Ankunft - wieder mit Wasser, Keksen, Lachen, Fotos und viel guter Laune. Ich möchte ihnen hundert Euro geben, doch der Einsatzleiter lehnt ab. Die Abrechnung erfolgt über meine Versicherung. Mit einem Jeep fahren sie mich zu einem nahe gelegenen Hotel, dann verabschieden wir uns. Dankbar liege ich gegen 3 Uhr im Bett - dankbar gegenüber dem bulgarischen Rettungsteam, meinem Freund Boris, der bis zu diesem Zeitpunkt sich immer wieder bei mir erkundigt, wie es mir geht, und gegenüber Gott, der sein Versprechen an Noah auch mir gegenüber gehalten hat. Danke!!!
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