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  • Neues aus dem Abwechslungsreich

    December 16, 2018 in Chile ⋅ ☀️ 25 °C

    Meine lieben virtuellen Begleiter!
    Es ist mal wieder Zeit für einen Lagebericht. Meine Zeit in Chile neigt sich dem Ende zu und so versuche ich nun, eine Resümee der letzten Wochen zu ziehen.
    Objektiv steht da zu Buche:
    - Zwei Kurztrips nach Valparaíso (eine großartige Hafenstadt, in die ich mich ein klein wenig aufgrund ihres entspannten, lateinamerikanischen Flairs und ihres rustikalen, bunten, schmutzig-lauten Charmes verliebt habe)
    - Ganz ganz viel auf dem Uni-Campus verbrachte Zeit, in der ich versucht habe, die im Gras und auf den Bänken sitzenden Studenten mit Schokolade zum Ausfüllen meines Fragebogens zu bringen.
    - Zwei überlebte Erdbeben! 😊
    - Viele Gespräche, unter anderem mit dem Direktor eines internationalen Psychologie-Forschungs-Instituts sowie mit einer Psychologin des Ministeriums für Gesundheit aber auch mit ganz normalen Leuten über Psychotherapie und psychische Störungen in Chile, das chilenische Gesundheitssystem und ganz allgemein über dieses abwechslungsreiche Land.

    Die Folge: Ich werde immer vorsichtiger mit allgemeinen Aussagen über Chile. Und ein umfassendes, generelles Bild von Santiago, geschweige denn des ganzen Landes zu zeichnen, fällt mir immer schwerer. Viel zu vielseitig sind nicht nur die Landschaften sondern auch die Menschen, Gegenden und Einstellungen. Man könnte also meinen, die großen Unterschiede seien etwas, was das unfassbar langgezogene Land (siehe Bild) eint. Leider ist aber das Gegenteil der Fall: die Unterschiede werden vielerorts nicht zelebriert, sondern führen zu Auseinandersetzungen sowie Ab- und Ausgrenzungen. Rechts gegen Links, Stadt gegen Land, Schwarz gegen Weiß, Reich gegen Arm und Privat gegen Öffentlich (und jeweils umgekehrt) sind nur ein paar Beispiele des Kategoriendenkens, welches leider nicht selten vorkommt.

    Auf ein Beispiel für einen der vielen Konfliktherde möchte ich etwas detaillierter eingehen, da es insbesondere in den letzten Wochen in den Vordergrund gerückt ist und somit auch meine Zeit hier geprägt hat. Es ist der Konflikt um die indigenen Wurzeln des Landes: die Mapuche. Sie sind das einzige indigene Volk, dass sich gegen die Kolonialisierung der Spanier wehren konnte. Das bedeutet konkret: über 300 Jahre durchgehenden Widerstand und Krieg gegen die Eroberer. Dieser Kampfeswille ist etwas, das fest in der Identität der Mapuche verwurzelt ist und auch heute noch immer wieder zum Vorschein kommt. Denn der aktuelle Präsident Piñera versucht immer wieder, das Volk aus ihren seit Jahrhunderten bestehenden Territorien im Süden zu vertreiben. Dazu wendet er ein noch aus Diktatur-Zeiten vorhandenes „Anti-Terrorismus“-Gesetz an und schickt bis unter die Zähne bewaffnete Truppen (ähnlich des Dschungel-Kommandos in Kolumbien) in die Gebiete. Die Antwort der Mapuche ist logischerweise die gleiche, die sie schon immer kennen: bewaffnete Gegenwehr. So liefern sich die Fronten seit Jahren einen Kampf, der immer wieder auch unschuldige trifft. So haben zum Beispiel vor längerem eine Gruppe Mapuche-Kämpfer ein Familienhaus in Brand gesetzt, weil es wohl in ihrem Territorium stand und nicht von Mapuche bewohnt war. Das Militärkommando stand hingegen vor kurzem im Fokus, weil ein unschuldiger Mapuche-Angehöriger von einer Polizei-Kugel getötet wurde. Sein Tod und die schwammige Aufklärung der Polizei und der Regierung (normalerweise trägt das Militär immer Kameras auf den Helmen, um die Aktionen im Nachhinein auswerten zu können, gerade bei besagtem Vorfall waren aber zufällig ALLE Kameras aus oder kaputt…) lösten vor knapp einem Monat zahlreiche, mehrere Tage andauernde Proteste aus, die jeweils von einem unverhältnismäßigen Militäraufgebot gewaltsam aufgelöst wurden. Ein Mal habe ich mir eine der Demonstrationen angesehen: die Leute hörten sich friedlich verschiedene Ansprachen an, tanzten zu indigenen Rhythmen und skandierten Parolen auf Mapudungun (die Sprache der Mapuche), bis die Polizei eine Warnung abgab, man habe sich nun aufzulösen und dann 20 Sekunden (!!) später, als die Menge nicht sofort reagierte, mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken gegen die Demonstranten vorging, sodass die darauffolgenden „Asesino (Mörder)“-Rufe bald in panische Schreie übergingen. Dabei agierten sie so unspezifisch und weitgreifend, dass auch ich meinen sicher geglaubten Platz rennend verlassen musste, um vor der Wolke Tränengas und den willkürlich auf die Leute eindreschenden Männern in Grün zu fliehen. Bis dato hatte ich immer die Meinung vertreten, dass zu jeder Gewalt-Eskalation immer zwei Seiten gehören und die Dinge nie so einseitig sind, wie es die jeweiligen Fronten berichten. Diese Meinung musste ich nach dem Gesehenen leider verwerfen. Später tauchten dann im Internet nach und nach Bilder von brennenden Autos, eingeschlagenen Fensterscheiben und blutigen Szenen in der Innenstadt Santiagos auf. Seitdem findet man in jeder Straße den Namen und das Gesicht des ermordeten Mapuche „Camilo Catrillanca“ in Form von Graffitis und Plakaten. Häufig erinnern diese nur an den Verstorbenen und wollen ein Bewusstsein für die Polizeigewalt schaffen, oft finden sich darunter aber auch Aufrufe zu Gewalt und Gegenwehr.

    Mittlerweile hat sich die angespannte Stimmung gelegt, aber eine Sicht auf Besserung ist nicht wirklich vorhanden, solange beide Parteien auf Gewalt statt auf Diskussion und Kompromisse setzen.

    Trotz allem machen insbesondere die zahlreichen offenen, vorwärts- und linksdenkenden Studenten Hoffnung, die ich im Zuge meiner Datenerhebung kennenlernen durfte. In vielen Gesprächen hat sich dabei gezeigt, dass sich ein Großteil der jungen Generation aktiv für Werte wie Demokratie, Chancengleichheit und Feminismus einsetzt.

    Apropos Datenerhebung: Da war ja was! Ich habe mittlerweile meine angestrebte Anzahl an 120 ausgefüllten Fragebögen erreicht - juhu! Zu den Ergebnissen kann ich noch nichts sagen, da die Auswertung noch in ungewisser Zukunft liegt, aber eine spannende Tendenz, die ich aufgrund des Kommentars einer Bekannten festgestellt habe, möchte ich doch mit euch teilen. Und zwar geht es um das Wissen, das bezüglich psychischer Störungen und Psychotherapie (PT) besteht. Das verrückte: Ein großer Teil der Leute war zwar selbst schon in PT, oder hat zumindest enge Freunde oder Verwandte, die eine PT besuchen, hat aber null Ahnung, was eine psychische Störung ist. Das überrascht, da ja jemand, der bei uns in PT geht, zumindest mal sehr schwerwiegende psychische Probleme hat oder eben in den meisten Fällen an einer leichten bis schweren psychischen Störung leidet. Hier scheint dies nicht der Fall zu sein: Der Psychologe ist nämlich in vielen Fällen weniger ein behandelnder Therapeut, sondern vielmehr ein netter Gesprächspartner, zu dem man mit Problemen gehen kann, mit denen man nicht sein Umfeld stören möchte. So hat mir zum Beispiel besagte Bekannte erzählt, dass sie nach Abschluss der Schule unsicher war, welche Stadt der richtige Ort für ihre Studienwahl sei und daraufhin von vielen Freundinnen den Rat erhielt, mit der Thematik doch einen Psychologen aufzusuchen - aus unserer Sicht eine völlig überzogene Reaktion, aber hier wohl Alltag.
    Nun hoffe ich, dass sich dieser Unterschied auch in den Daten abzeichnet und bin gespannt, auf welche weiteren spannenden Entdeckungen ich dann noch stoße.

    Jetzt bleibt mir noch eine Woche, um meine Sachen zu packen und mich ausführlich von diesem verrückten, interessanten, speziellen Land zu verabschieden. Es wird wohl kein ganz so emotionaler Abschied wie der von Bolivien, aber vor allem aufgrund der in den letzten Wochen entstandenen Freundschaften und den intensiven Erfahrungen, fällt es mir doch ein bisschen schwer, diesen Ort, an dem ich mich schlussendlich zunehmend wohler gefühlt habe, zu verlassen.

    Aber: Für Nostalgie bleibt keine Zeit, denn das nächste Abenteuer steht bevor: Brasilien! Dort (genauer gesagt in Florianopolis) werde ich gemeinsam mit meinem langjährigen Kumpel Lucas, den ich noch in Schulzeiten kennengelernt habe und mittlerweile seit 3 Jahren nicht mehr gesehen habe, und seiner Familie Weihnachten feiern. Kurz vor Neujahr erwartet mich dann ein weiteres langersehntes Wiedertreffen … mit Mama! Allerdings noch nicht in Deutschland, sondern in Rio de Janeiro, wo wir zusammen Silvester verbringen werden und von wo aus wir dann gemeinsam den letzten Abschnitt meiner Südamerika-Reise antreten und gleichzeitig Mama einen Traum erfüllen: eine einmonatige Reise durch Brasilien inklusive Amazonas-Dschungeltour, Iguazu-Wasserfälle, zahlreicher Lagunen und ganz viel Sonne und Strand!

    Ich versuche dann, euch weiterhin auf diesem Wege über meine/unsere Erfahrungen auf dem Laufenden zu halten!

    Auf bald und heiße Grüße aus dem schweißtreibenden Santiago!
    Jan
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