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  • Day 27

    Medellín - Aufbruchsstimmung

    September 10, 2016 in Colombia ⋅ ⛅ 18 °C

    Medellín. Ein Ort, der Backpackern und ihren Eltern schlaflose Nächte bereitet (wenn auch aus völlig verschiedenen Gründen) und die Frequenz besorgter Whatsapp-Nachrichten vervielfacht. Mit ein Grund dafür, warum dieser Beitrag erst erscheint, nachdem ich diese großartige Stadt schon wieder verlassen habe. Der andere Grund war, dass diese Metropole eine ungewöhnliche Sogwirkung auf ihre Besucher aus zu üben scheint. Dieser Umstand mutet reichlich seltsam an.

    Vor gut 20 Jahren zählte Medellín zu den gefährlichsten Städten der Welt: Schießereien, gewaltsame Überfälle und brutale Bandenkriege waren an der Tagesordnung; in manche Barrios (Viertel) wagte sich selbst die Polizei nicht hinein. Unter der Federführung Pablo Escobars avancierte Medellín zur Welthauptstadt der Kokainproduktion. Der einflussreiche Kartellchef wuchs zu einem der reichsten Menschen der Welt heran und suchte seine Macht mit brutalsten Mitteln zu festigen - so rief er zeitweise ein Kopfgeld für jeden getöteten Polizist aus.

    Heute ist das völlig anders und Medellín zählt zu den sichersten, zugänglichsten und modernsten Städten Kolumbiens. In rekordverdächtig kurzer Zeit krempelte sich Medellín völlig um und strahlt eine mitreißende Aufbruchstimmung aus, die auch ihre BesucherInnen in ihren Bann zieht.

    Im Parque Lleras - dem touristischen Hotspot mit unzähligen Bars, Clubs und Restaurants in unmittelbarer Umgebung - landeten wir in einem Geschäft am Rande des Platzes, das ich als Disneyland für Erwachsene bezeichnen möchte. In der gläsernen Theke bot man so ziemlich alles an, was Erwachsene glücklich macht: neben jeglichem erdenklichen Zubehör zum Rauchen und Kiffen standen riesige Nutellagläser; darunter Kondome, Dildos plus dazupassende Batterien, Handschellen sowie anderes Sexspielzeug; eine Reihe weiter fand man Rum- und Schnapsflaschen, darunter Kopfweh- und Magentabletten, sowie Zahnpasta inklusive Bürste, Deodorants und Duschgel. Ein gigantisches Kühlregal gegenüber pries rund 50 Biersorten (zum Teil in 0,75l Glasflaschen) an, gefolgt von einer überwältigenden Auswahl an Chips und anderem Knabberzeug und zuckerhaltigen Fressalien. Ich fand das Ganze extrem amüsant, vor allem weil ein Schild keine 10 m entfernt dazu aufrief, keinen Alkohol am Platz zu konsumieren. Wir schnappten uns ein Sixpack und vernichteten es - rebellisch wie wir sind - im Park neben dem Schild. Dabei trafen wir die exzentrische Französin Cathou, die uns von ihren Erfahrungen in Mexiko erzählte. So wurde sie u.a. von Polizisten verprügelt, die ihr Kokain untergejubelt hatten und besuchte einen Totenkult. Mama, als nächstes fahr ich nach Mexiko (kleiner Scherz).

    Den Abend verbrachten wir in Medellíns Zona Rosa - das hedonistische Zentrum der Stadt - und wunderten uns über die Lebensfreude ihrer EinwohnerInnen. Grundsätzlich fällt auf, das Medellín mehr als andere Orte in Kolumbien an eine europäische Großstadt erinnert. Aus den Bars und Discos dröhnt mehr Techno oder Rock als Salsa und Cumbia und auch modisch scheint man sich mehr an Übersee-Metropolen zu orientieren. Viele Menschen hier sind sehr stolz auf ihre paísa-Identität. Als paísa (wörtlich “ländlich“ bzw “vom Land“) bezeichnen sich die Menschen aus den ländlichen Regionen Antioquía (deren Hauptstadt Medellín ist) und anderen rund ums Kaffee-Dreieck. Ihre Identität gründet sich vor allem auf den ländlichen, von der Höhe und der Landwirtschaft geprägten Lebensstil. Damit verbunden ist ein gewisser Lokalpatriotismus sowie eine latente Indifferenz gegenüber anderen Teilen Kolumbiens.

    Jedenfalls wissen die Menschen in Medellín, wie man das Leben feiert und sich die Nächte um die Ohren schlägt und auch wir hatten einen fantastischen Abend. Am nächsten Tag schlossen wir uns einer Free Walking Tour an, die uns durch das (historische) Zentrum Medellíns führte. María, die quirlige Führerin erzählte mit viel Witz und Leidenschaft von ihrer Stadt und welch beeindruckenden Fortschritt diese in den letzten 2 Jahrzehnten erlebt hat. Als Symbol dieser Transition gilt Medellín's Metro (die einzige in Kolumbien): bestehend aus 2 U-Bahnlinien uns 4 Seilbahngondeln (Cablecars; Medellíns ärmere Viertel schlängeln sich östlich uns westlich die Anden hinauf) verbindet sich die Bewohnerinnen der Stadt nicht nur geografisch. Von den Stationen bis zu den Zügen und Gondeln zeigt sich alles blitzsauber, kein Graffiti, Tag, Gekritzel oder Müll trübt das makellose Erscheinungsbild von Medellíns Metro-Netz. María meinte, Medellíns Bevölkerung nimmt die Sauberkeit und Ordnung in der Metro ernster als in den eigenen 4 Wänden; man merkt, wie dankbar und froh man hier über dieses Verkehrsmittel ist, das als Gallionsfigur von Medellíns Aufstieg gesehen wird.

    Ein weiteres Markenzeichen der Stadt sind die zahlreichen Bronzestatuen von Kolumbiens bekanntesten bildenden Künstler. Fernando Boteros Stil ist so unverwechselbar wie irritierend: das Spiel mit Proportionen und Volumen charakterisiert sein Werk und so finden sich in der Stadt verteilt Pferde mit winzigen Köpfen, beleibte Tauben und Männer mit überdimensionierten Köpfen. Laut María ist jede von diesen Geschenken Boteros an Medellín gut 2 Millionen Dollar wert.

    Die Tour führte uns außerdem vorbei an dem wohl hässlichsten Rathaus der Welt (womöglich fehlt mir auch einfach der Sinn für moderne Architektur), Medellíns Einkaufszentrum und -Straße für gefälschte Waren aller Art, dem belebten Plaza Bolivar sowie dem Parque de Luces (Park der Lichter), der auf einem von Medellíns früher dunkelsten Stadtteilen errichtet wurde. Die 2 Säulen von Medellíns Stadterneuerungsprojekt sind demokratische Architektur und Bildung. Wo früher Gewalt und Elend herrschte , sollen - so die Absicht - sichere öffentliche Räume und niederschwellige Bildungseinrichtungen den Weg des Übergangs ebnen.

    Zu jeder der 11 Stationen hatte María eine Geschichte parat, die sie mit vollem Körpereinsatz preisgab. Sie wies uns immer wieder darauf hin, wie verwundert und erfreut viele EinwohnerInnen Medellíns sind, dass ausländische Gäste ihre Stadt besuchen. Auch mir rief u.a. ein Polizist mit Maschinengewehr und ein Ananasverkäufer ein herzliches ¡Bienvenidos! (Willkommen) hinterher.

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