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  • Day 41

    Tynset - Hummelfjell Camping

    July 10, 2023 in Norway ⋅ ⛅ 23 °C

    Am Abend zuvor schlafe ich schnell ein. Allerdings werde ich um 2:00 Uhr wach und kann für 2-3 Stunden nicht schlafen. Außerdem müssen es vier Mücken in mein Zelt geschafft haben. Alle fliegen nur träge und man sieht ihnen von außen an, dass sie gut getankt haben. Ich erledige eine nach der anderen. Am Morgen weckt mich die Sonne, die das Zelt schon unangenehm aufwärmt. Ich koche einen Kaffee, Frühstück besorge ich mir später im Supermarkt. Ich packe mein Zeug und um kurz nach neun verlasse ich den Campingplatz. Gleich gegenüber ist der Sportladen, wo ich nach neuen Schuhen schauen möchte. Der Sportladen ist nicht klein, dennoch gibt es nicht ein einziges Paar in meiner Größe. Beim Pizza essen gestern Abend habe ich noch ein Sport Outlet gesehen. Aber dort finde ich nur unmotivierte Mitarbeiter und alle möglichen Schuhe in viel zu kleinen Größen vor. Einen Sportladen gibt es noch. Hier werde ich freundlich bedient, ich probiere drei Paar in Größe 48. Alle sind zu klein. Mittlerweile ist es schon 11:00 Uhr und es wird immer wärmer. Ich gehe noch einmal zurück zum Supermarkt neben dem ersten Sportgeschäft und kaufe mir etwas Gebäck, ein Sandwich für später und was zu trinken. Dann mache ich mich auf den Weg auf die Straße.

    Die Straße ist mäßig befahren. Auf der anderen Seite des Tals gibt es noch eine breitere Straße, wo der Hauptverkehr entlang führt. Die ersten hundert Meter gehe ich noch auf einem Fußweg, dann geht es am linken Rand der Straße weiter. So richtig Lust habe ich auf die heutige Etappe nicht. Ich werde den ganzen Tag diese Straße entlang gehen und dazu bin ich erst sehr spät losgekommen. Aber gleichzeitig bin ich froh, dass ich hier keine Probleme mit Fliegen oder anderen stechenden Viechern habe.

    Nach 5 km mache ich schon meine erste Pause. Ich hab mir vorgenommen, das meinen Füßen zur Liebe zu machen. Nach 10 km mache ich schon die zweite Pause. Ich bin echt müde bin und merke, dass mir wieder mal ein paar Stunden Schlaf fehlen. Meinen Rucksack lehne ich an einen Holzstoß unweit der Straße und dann lege ich mich auf meine Isomatte. Tatsächlich gelingt es mir, immer wieder etwas einzunicken. Fast eine Stunde mache ich hier Pause.

    Das Wetter ist wunderschön. Die Sonne scheint und es weht immer wieder ein kräftiger Wind, was es richtig angenehm macht. Beim Weitergehen werde ich langsam etwas wacher. Was mir hier beim Gehen auf der Straße auffällt, ist, dass die Autos unglaublich viel Rücksicht auf mich nehmen. Obwohl auch ich versuche, so wenig Platz wie möglich am Straßenrand einzunehmen, fahren hier ausnahmslos alle entgegenkommenden Autos komplett auf die andere Straßenseite, das häufig mehrere Meter Platz zwischen uns bleiben. In Deutschland neigen die Autofahrer doch deutlich häufiger dazu, einem aggressiv verstehen zu geben, dass man als Radfahrer oder Fußgänger nichts auf der Straße verloren hat. Für LKWs verlasse ich die Straße ganz, was mir immer wieder mit Handzeichen oder Lichthupe gedankt wird.

    Während ich Kilometer für Kilometer der Straße durch die Kiefernwälder folge, die man bei dem Wetter heute richtig riechen kann, telefoniere ich mit meinem Vater. Wir hatten zwar schon einige Sprachnachrichten ausgetauscht, aber mal live miteinander zu sprechen, ist doch deutlich schöner. Und ich freue mich, seinen Eindruck bestätigen zu können, dass ich seit einigen Tagen tatsächlich mit mehr Leichtigkeit unterwegs bin.

    Dann vertreibe ich mir die Zeit mit etwas mit Musik. Ich hab wieder Lust auf Klassik. Ich höre die vier Jahreszeiten von Vivaldi, allerdings umkomponiert von Max Richter. Normalerweise bin ich kein Fan davon, Klassiker anzufassen und abzuändern. Oder wie Grönemeyer den Kultsong Bochum um eine weitere Strophe ergänzt. Für mich ist das reines Marketing. Aber die vier Jahreszeiten von Max Richter haben ihren ganz eigenen Stil, der mir teilweise sogar besser gefällt als Original. Während ich letztens Filmmusik zu der Kulisse im Fjell gehört habe und das Gefühl hatte, in meinem eigenen Film zu sein, ist das hier gerade eine nicht ganz so spektakuläre Kulisse. Ich stelle mir vor, wie ich eine Stunde lang diese Straße filme und dann zu Stanley gehe, er möge was komponieren, damit es irgendwie spannender wird. Dann müsste man es nur noch in schwarz-weiß machen und es könnte um 20:15 Uhr auf ARTE laufen.

    Tatsächlich bekomme ich durch die Musik neue Energie und ich gehe deutlich zügiger weiter. Bei Kilometer 17 muss ich aber erneut eine Pause machen und meine Füße zumindest für einen kurzen Moment entlasten. 31 km stehen heute auf dem Programm. Zum Glück gibt es bei Kilometer 21 noch einen Supermarkt. Hier gönne ich mir ein Eis, eine Cola, eine Limonade und Schoko-Erdnüsse. Ich setze mich in den Schatten, esse das Eis und lasse mir viel Zeit bei den Getränken. Ich bin richtig platt. Als ich aufstehe, um meinen Müll zum Mülleimer zu bringen, merke ich, wie unrund ich laufe. Ich dehne etwas die Waden und Oberschenkel und mache mich dann wieder auf den Weg, beziehungsweise auf die Straße. Von hier geht es bergauf, nicht steil, aber dauerhaft. Ich brauche echt etwas Disziplin, um wieder in Schwung zu kommen und weiterzugehen. Weil Disziplin allein aber nicht hilft, krame ich die Kopfhörer aus der Hosentasche.

    Seit langem spiele ich mal wieder meine melancholische Norge på langs Playlist, obwohl ich von einer melancholischen Stimmung weit entfernt bin. Das ändert sich aber schnell. Das letzte Mal, an das ich mich in diesem Moment erinnere, dass ich die Playlist bewusst gehört habe, war nach meinem ersten Tag im Gelände. Da, wo ich Probleme hatte, Trinkwasser zu finden. Nach dem Abendessen hatte ich mich vor das Zelt gestellt und mit der Musik in den Ohren zurück auf die Hügel geschaut, die ich bereits geschafft hatte. Das war glaube ich an Tag sieben oder acht. Als ich heute die Lieder meiner Playlist höre, bewegen sie mich auf ähnliche Weise, aber in einer ganz anderen Situation. Die ersten Wochen waren durchzogen von Zweifeln. Durchzogen von kleinen Rückschlägen und Zweifeln, ob mein Rücken mitmacht, meine Knie mitmachen, ob mein Fuß sich wieder erholt, ob zu viel Schnee liegt, ob mein anderer Fuß sich wieder erholt und so weiter. Es war so viel mentaler Ballast und so viel Unsicherheit. Ein Großteil davon scheint seit meinem Tiefpunkt verflogen zu sein. Jetzt gehe ich die Straße entlang, was ich den ganzen Tag als anstrengend empfunden habe, was nicht wirklich Spaß gemacht hat. Bis vor wenigen Metern war es ein reiner Tag, um voran zu kommen. Jetzt genieße ich jeden Schritt. Füße und Beine scheinen im Autopilot zu laufen. Dann muss ich sogar die Straße verlassen und darf einige Kilometer über eine Schotterstraße gehen. Mit der Musik im Ohr erinnere ich mich an die Zeit, als ich die Playlist erstellt habe. Als ich mir vorgestellt habe, wie es sein wird, wenn ich Norge på langs laufe. Und obwohl heute so ein eintöniger Tag war, mit viel Asphalt und vielen Autos ist es jetzt ziemlich genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich kann gerade alles annehmen, wie es ist. Und dabei tief zufrieden sein. Ich habe das Gefühl, dass ich heute zum ersten Mal richtig würdige, was ich bisher geschafft habe. Das tut richtig gut und ist gleichzeitig sehr emotional.

    Von der Schotterstraße geht es auf einem Pfad weiter. Ich quere die Zuggleise, die durch das Tal laufen, gehe durch einen Wald und stehe dann vor einer riesigen alten massiven Hängebrücke. Auf der Brücke mache ich noch eine Pause und sammeln Kräfte für die letzten drei Kilometer. Diese führen jetzt direkt über die Hauptstrasse. Um kurz vor Acht erreiche ich meinen Campingplatz. Klein aber fein und alles etwas in die Jahre gekommen. Einzig nervig: Er liegt direkt an der Hauptstraße. Aber für eine Nacht muss das reichen!
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