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  • Day 236

    Playa Gigante 3

    May 5, 2019 in Nicaragua ⋅ ⛅ 32 °C

    Ich wohne nun schon seit einiger Zeit in El Gigante bei meiner Gastmama Maria Helena und ihrer Familie. Die ersten zwei Wochen hatte ich einen amerikanischen Gastbruder. Branden und ich haben uns jedoch selbst die Regel auferlegt, im Hause Espinoza kein Englisch zu sprechen. So kämpften wir uns bei Frühstück, Mittag- und Abendessen auf spanisch durch, auch wenn es oft sooooo viel leichter auf Englisch gewesen wäre.

    Branden war für mich wirklich wie ein „Hermano“, vor allem wenn wir zusammen mit unserer mamacita am Esstisch saßen und von unseren Erlebnissen des Tages erzählten. Abends sind wir oft zusammen ins Dorf gelaufen, um dort in einer der an einer Hand abzählbaren Bars ein kühles Toña (das Nica National Bier) zu trinken. Meist ging es ins Juntos oder in das Giants Foot Surf Camp. Der Giants Foot, auf Spanisch „Pie de Gigante“ ist eine Felsformation am südlichen Ende des Playa Gigante, von der aus man einen spektakulären Blick auf die Küste hat. Mit Branden, Rachel, der Tochter von Juan (Chef meiner Spanischschule) und Will, dem Surflehrer der Spanischschule habe ich den Pie de Gigante eines Abends bestiegen, um von oben den Sonnenuntergang über dem weiten Meer zu bestaunen. Gibt es was Schöneres, als das zauberhafte Verschwinden der Sonne hinterm Horizont?

    Mittlerweile ist mein Hermano Branden jedoch wieder in die USA zurückgekehrt und ich bin die einzige „chela“ im Hause Espinoza. Ein kleiner FunFact am Rande: das Wort chele beziehungsweise chela (wie Nicas die Weißhäutigen nennen) kommt von leche (Milch).

    Aber Einzelkind bin ich noch lange nicht, da ich ja noch meine Nica-Gastbrüder Andres und Chepe habe. Chepe ist ein fauler Teenager, der mich als seine große coole Schwester sieht, die ihn immer wieder mit in die Bars nimmt und ihm ein Bier kauft. Da ich berufsmäßig ganz genau weiß, wie man mit solchen muffligen Teenagern umgeht, gewinne ich recht schnell sein Vertrauen und er nimmt es mir nicht übel, dass ich ihm täglich ins Gewissen rede, wie wichtig Schule und Lernen sind. Andres ist Fischer und bringt jeden Tag frischestes Seafood nach Hause. Von Red Snapper über Muscheln und Calamari bis zu Garnelen und Lobster ist alles dabei. Mittags hänge ich manchmal mit ihm und seinen Kumpels ab, die in aufwendigster Kleinarbeit die Netze reparieren. Sie erklären mir, dass jetzt, da der Winter anfängt (Winter bei 30 Grad - dass ich nicht lache!) die Langusten-Saison beginnt. Und schwupp, kocht die Mama am Abend Lobstersuppe. Die Mama und das Kochen ist eh ein Thema für sich. Darüber könnte ich einen ganz eigenen Bericht schreiben. Dreimal täglich kocht sie für mich - ich wohne quasi in einem All-in Hotel :) Sie kocht unglaublich lecker und zaubert die kreativsten Vegetarischen Gerichte. Zu meinen Favorits gehören: Bohnensuppe mit Ei, Rote Beete Salat mit Tomaten, Gemüsesuppe mit Milch, Senfgemüse mit Tortilla und Repucheta (frittierte Tortilla mit Bohnenmus, Creme frêche und geraspeltem Käse drauf).
    Des Öfteren kochen wir auch zusammen, zum Beispiel bringt sie mir bei, wie man Nacatamal zubereitet. Das ist sowas wie das Nationalgericht und besteht aus Reis, Hühnchen in Soße, Gemüse, Maismehlmasse und Minzblätter - alles in einer ganz speziellen Art in Bananenblätter eingewickelt und als grünes Paket in heißem Wasser gegart. Manchmal organisieren die Lehrer meiner Spanischschule einen Kochsession für alle Schüler. Diese findet dann bei Maria Helena statt, da sie eine große Küche hat, gesellig ist und es liebt, wenn was los ist in ihrem Haus. So auch an diesem Morgen - die sechs Schüler, die außer mir gerade an der Schule sind, kommen zu „mir“ heim und wir lernen, wie man Enchiladas kocht. Das sind gefüllte und frittierte Maismehl-Teigtaschen.

    Meine Mamacita hat einen Holzofen im Garten, deshalb ist sie erstens bekannt für ihr selbstgebackenes Brot (was wir eines Mittags auch zusammen machen und die Mama sich kaputtlacht über meine Brezeln) und zweitens für ihre Bohnen. Zweimal pro Woche kocht sie über dem Holz einen riesigen Topf Bohnen mit speziellen Gewürzen ab, verpackt diese dann in kleine Plastiktüten und verkauft sie an die Dorfbewohner. Meine Mama ist quasi die Bohnenbeauftragte des Dorfes. Es wird mir wohl immer in Erinnerung bleiben, wie mehrmals täglich jemand durchs Gartentor hoch zum
    Haus läuft und fragt: „Hay frijoles?”
    Zudem ist Maria Helena auch Eisbeauftragte. Sie ist eine der wenigen im Dorf, die einen Filter fürs Hahnenwasser hat. In die gleichen Plastiktüten wie die Bohnen füllt sie also auch Wasser und legt die Beutel dann in den Gefrierschrank. „Hay hielo?”
    So läuft das hier. Jeder im Dorf hat seine Aufgabe.

    Ich fühle mich pudelwohl bei Maria Helena und ihrer Familie. Es hat einige Wochen gedauert, bis ich durchschaut habe, wer wirklich zur Familie gehört und wer nur Besuch oder Nachbar ist. Es ist aber auch wirklich verwirrend. Jedes Mal wenn ich heimkomme hängen andere Menschen im Garten herum, immer ist was los. Und dann ist es auch so, dass das mit der Blutsverwandtschaft nicht so ganz streng genommen wird hier. Der „abuelo“, der hier wohnt, ist gar nicht der Opa, sondern einfach nur ein alter Mann, der einsam war und meine Mama ihn deswegen bei sich aufgenommen hat. Chepe ist eigentlich gar nicht Maria Helenas Sohn (wie sie ihn selbst nennt), sondern ihr Enkel. Der „tío“ ist gar nicht wirklich der Onkel, sondern nur ein Nachbar und die schwangere „hija“ ist gar nicht Maria-Helenas Tochter, sondern nur die Freundin ihres Sohnes. Und so weiter und so fort.
    Irgendwie gehören einfach alle zur Familie, die man mag. Und genau das spüre ich auch. Ich bin Teil dieser Familie. Gehe morgens brav zur Schule und mittags, wenn ich nicht gerade am Strand liege, sitze ich mit 2 bis 10 „Familienmitgliedern“ vor dem Haus und schaue auf die Straße. Dabei muss auch nicht zwingendermassen gesprochen werden. Anfangs ein kaum aushaltbarer Zustand für mich. Doch ich komme schnell rein. Einfach sitzen und vor sich hin gucken. Als ein Backpacker auf seinem Motorrad vorbeifährt und uns zuwinkt, wird mir plötzlich klar, dass ich mich endlich auf der anderen Seite befinde: ich bin nicht mehr der Reisende, der bewundert, wie viel Zeit die Einheimischen haben, um da zu sitzen und vor sich hin zu schauen, sondern ich bin mitten drin beim Dasitzen und Hinschauen. Wie eine ganz Professionelle sitze ich da und schau vor mich hin. Ein zartes Gefühl des Stolzes keimt in mir auf.

    Eines Tages kommt Andres ganz aufgeregt vom Fischen zurück. Er streckt mir eine Schüssel mit aufgeschlagenen rohen Eiern entgegen „Huevos de Tortuga“ (Schildkröteneier) verkündet er stolz. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht frägt er, ob ich auch eines will.
    Ich schaue ihn verwirrt an, schüttle den Kopf. Er zuckt die Schultern und schluckt sie dann einfach roh wie sie sind runter. Dabei grinst er so breit, dass ich völlig perplex bin und die Grundsatzdiskussion über Artenschutz und co. gar nicht erst anfangen kann. Andere Länder, andere Sitten.

    Für ein paar Tage wohnt Felix bei meiner Familie. Am deutschen Muttertag kochen wir für die Mamacita Käsespätzle. Was macht man, wenn man keinen Spätzlehobel hat? Genau! Improvisieren! Wir zerschneiden eine Plastikflasche, stechen Löcher unten rein und fertig ist die Spätzlepresse. Maria Helena ist beeindruckt von Felix‘ Schlagfertigkeit beim Teig herstellen und beäugt halb interessiert, halb kritisch die Spätzle-Käse Schichterei. Wo Reis mit Bohnen Alltag ist, kommen einem Nudeln mit Käse halt einfach komisch vor. Der Mama schmeckts richtig gut, die Teenager des Hauses stochern jedoch nur lustlos in ihren Tellern herum, was mich extrem an so manchen MuM-Unterricht in der Schule erinnert. Mein Gastbruder Chepe konzentriert sich ebenfalls hauptsächlich auf den Reis, den er sich zusätzlich zu den Käsespätzle auf den Teller geladen hat.

    Am nächsten Tag versorge ich nicht nur einige meiner Local-Freunde des Dorfes mit Käsespätzle, sondern auch die Lehrer meiner Spanischschule. Wenn das mal kein interkultureller Austausch ist! Meine Lehrerin Marcela bringt mir im Gegenzug selbstgemachte Buñuelos mit - gebackene Teigfladen aus Yucca-Mehl mit Honig.

    Es fühlt sich so gut an. An einem Ort wie diesem zu leben. Einen Alltag zu haben. Jeden Morgen in die Schule zu laufen und hier und da ein paar Einheimische zu grüßen. Geregelte Essenszeiten mit der Mama zu haben. Nicht vorausplanen zu müssen, sondern einfach mal angekommen zu sein. Eine Lieblingsbar zu haben. Alle Wege des Dorfes zu kennen.
    Selbst das mühsame Erlernen der Sprache ist eine sehr willkommene Herausforderung für mein Gehirn.

    Nach acht Monaten der „Heutehiermorgenda“- Reise und des Fremd-Seins ist mein Leben hier in Gigante gerade eine richtige Wohltat.
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