Satellite
Show on map
  • Day 16

    St. Petersburg - Venedig des Nordens?

    July 22, 2019 in Russia ⋅ ☀️ 24 °C

    Eigentlich braucht St. Petersburg einen separaten Reisebericht. Immerhin würden wir eine Woche hier bleiben und viel erleben, auch viel verrücktes und einzigartiges. Ich versuche mich deshalb auf ein paar persönliche Details zu beschränken.
    Wir verließen Tsarskoie Selo und machten uns auf den Weg, zum Flughafen Pulkovo um Lars abzuholen. Julie hatte uns ein paar Tipps gegeben und gewarnt. Eine 5 Millionen Stadt hat auch einen entsprechenden Flughafen. Dessen Besonderheit bestand darin, dass man am Flughafen zum Abholen nur 15 Minuten halten durfte und sollte man diese Zeit überschreiten, hohe Strafgebühren fällig würden. Wir erreichten den Flughafen auf einer fünfspurigen Straße (in eine Richtung fünf Spuren). Am Rande parkten überall Autos, auch das hatte uns Julie erklärt. Die warteten alle, bis der Abzuholende anrief, stiegen dann in ihr Auto und schafften so, nicht mehr als fünfzehn Minuten zum Abholen zu benötigen. Reinfahren, Ticket ziehen, einladen, raus fahren. Fertig. Zunächst wussten wir nicht wirklich, welcher der Terminals überhaupt die Ankunft sein sollte. Wir fuhren auf eine Art Parkplatz, wo uns zugleich relativ eigenartige Männer Parkgebühren abknöpfen und zum Gate fahren wollten. Wir verneinten, stellten uns dumm, versuchten uns erklären zu lassen...und konnten den Parkplatz ohne Gebühren wieder verlassen. Dann fuhren wir das Ankunftsgebäude an, zogen ein Ticket, und nun?? Wir hatten keinen Kontakt zu Lars, der aber schon hätte gelandet sein müssen und nur 15 Minuten Zeit. Dieses Unterfangen schien sinnlos, einen Dauerparkplatz fanden wir nicht, oder gab es nicht. Also wieder aus, aber auch das war nicht so einfach, nur mit Hilfe einer Aufsichtsperson gelang es uns schließlich, das Ticket wieder in den dafür vorgesehen Automaten einzuführen und das Gelände wieder zu verlassen. Das ging also auch nicht. Wir drehten die komplette Runde noch einmal...und stellten uns zu den anderen an den Straßenrand. Und warteten. Wir versuchten Lars SMS zu senden. um ihm zu sagen, er solle sich nach Ankunft melden, stellten aber ziemlich bald fest, dass es ihm wahrscheinlich genau so ging, wie uns am ersten Tag, und er keinen Empfang haben würde. Nach einer ausreichende Wartezeit beschlossen wir, dass Oma bei Detleff bleiben und Rosa und ich uns zu Fuß zum Ankunftsterminal aufmachen würden. Gesagt. Getan. Wir liefen über Fußwege, Wiesen und die fünfspurige Zufahrtsstraße in sengender Hitze zum Terminal. Rundherum tausende Menschen. Wir waren uns sicher, ihn nie zu finden. Plötzlich hörte ich deutsche Stimmen und fragte deren Besitzer, ob sie mit der Maschine 14.30 aus Berlin gekommen und pünktlich gelandet seien. Sie bejahten und damit war klar. Er musste gelandet und auch schon durch die Kontrollen gekommen sein. Ich drehe mich um: Und plötzlich steht er da. Wie immer in aller Ruhe. Er hätte auch noch länger auf uns gewartet. Eine große Wiedersehensfreude und Erleichterung, vor allem bei mir. Ich hatte ein bisschen das Gefühl, die Verantwortung nun einmal abgeben und mich anlehnen zu können.

    Wir sind dann in die Stadt hinein gefahren. Unser Appartement (Oksana Appartements) liegt in der Rubinsteinstraße direkt am Newski Prospekt. Das Appartement ist wirklich reizend, in einem Hinterhof und damit vollkommen ruhig gelegen, unmittelbar vor der Tür sind mehrere Supermärkte, sogar eine Markthalle, wie wir später bemerken und auch die Metro. Den Newski hinunter ist man schnell an der Newa und im historischen Zentrum. Man muss allerdings gut zu Fuß sein. Ich werde nicht jedes Detail der Stadt beschreiben, nur ein paar besondere Feststellungen notieren.

    Wir haben eine Stadtrundfahrt mit einem dieser Hopp on -Hopp off Busse gemacht - immer lohnenswert, weil man damit erst einmal einen Überblick bekommt. Wir haben uns natürlich den Panzerkreuzer Aurora angeschaut - ich konnte kaum glauben, dass ich persönlich vor dem Schrecken meiner früheren Russischstunden stand - sind in der Peter und Paul -Festung ausgestiegen und haben eine schöne Runde darin gedreht. (Es war so heiß in der Stadt, eine Menge Leute badeten zu Fuße der Festung in der Newa obwohl der Fluß nicht wirklich einladend aussah und auch ziemlich schmutzig sein soll.) Von den Mauern der Festung hat man einen herrlichen Blick über die Stadt. Mich hat die Erkenntnis erstaunt, das Petersburg keine historisch gewachsene Stadt ist, sondern Zar Peter sie auf dem Reißbrett in die Mündung des Deltas der Newa geplant und bauen lassen hat. So sind fast alle Bauten im 18./ 19. Jahrhundert entstanden und bilden fast eine Kulisse. Sie ist auch Russlands "Fenster zum Westen" und damit fast westeuropäisch. Das wahre Russland findet man dort nicht. Aber die Stadt ist wunderschön und in jedem Fall eine Reise wert.

    Als wir in der Stadt waren wurde gerade eine Zeremonie zur Ehren der Weihe eines restaurierten Schiffes mit allem Pomp geplant . Die Schiffe der Marine wurden auf der Newa gereiht und geschmückt und an einem Tag flog die gesamte russische Militärstaffel über uns einen Probeflug für das große Event. Ich gebe zu, das war ein absoluter Zittermoment. Solche Militärparaden kennen wir sonst nur aus dem Fernsehen. Insbesondere die Abschlussformation aus fünf Flugzeugen, die mit ihrem Kondenzstreifen die russische Flagge abbildeten waren doch eher furchteinflößend als beruhigend.

    Besonders schön fanden wir Neu Holland, eine kleine Insel mit Backsteinbauten in einem Wasserdreieck aus drei Kanälen. Die Insel war lange Zeit militärisches Sperrgebiet und ist jetzt der schönste Platz der Stadt für Kreative, Kunsthandwerk, ausgefallene Lokale und vor allem für die Kinder der Stadt (die ansonsten wenig Platz zum Spielen haben). Es steht dort ein unfassbar riesiges Schiffsskelett aus Holz, das auf mehreren Etage für alle Art der Kletterfreude taugt. Inmitten der Insel liegt ein künstlicher See neben einem schwimmenden Holzsteg mit Liegestühlen. Auf dem See riesige Seerosenblätter aus Kunststoff zum Paddeln und Toben. Unnötig zu erwähnen, dass wir uns dort so unheimlich wohl gefühlt haben und fast einen ganzen Tag geblieben sind.

    Einen Nachmittag lang habe ich mich ganz allein auf die Socken gemacht um ERARTA zu entdecken. Russische Kunst der Gegenwart von 1945 bis heute. Es ist eine private Sammlung und die ist sowohl in dem Gebäude hervorragend aufgehoben, als auch hervorragend präsentiert. Ich habe mir einen Überblick über die Dauerausstellung auf drei Etage verschafft. Besonders beeindruckend waren sogenannte U-Space - fünf an der Zahl - interaktive Installationen zu bestimmten Themen. Dafür musste man sich anmelden und konnte nur in Gruppen hinein. Das habe ich mir nicht getraut, aber ich muss wieder hin. Um dahin zu kommen habe ich tatsächlich den O-Bus, den sogenannten Oberleitungsbus genutzt. Die gab es auch in der DDR - ich glaubte sie abgeschafft. Besonders beeindruckt hat mich, dass tatsächlich in jedem Bus eine Art Kontrolleurin oder Schaffnerin sitzt, die einem ein Ticket verkauft und auch die Tickets kontrolliert. Ich fand sie, nachdem ich vergebens, auf ein Zeichen des Fahrers, einen Automaten im Bus gesucht hatte. Innerlich musste ich lachen. So schafft man Vollbeschäftigung. Aber die Frau war unheimlich nett und zeigte mir nicht nur die richtige Haltestelle sondern auch Richtung und Weg, den ich nach dem Aussteigen gehen musste.

    Ganz groß geschrieben wird das Thema Sicherheit. Gleich, ob man ein Museum besucht, die U-Bahn betritt oder auf einen Bahnhof will, überall Taschenkontrollen, Ganzkörperscreenings, überall Kameras auf Straßen und Plätzen. Man fühlt sich tatsächlich unheimlich sicher, wenn man kein Problem damit hat, überall beobachtet zu sein. Man muss sich ja mit seiner Einreisegenehmigung ohnehin überall dort registrieren, wo man länger als sieben Tage verweilt.

    Was möchte ich noch erwähnen: Natürlich haben wir alle die klassischen Petersburger dostoprimetschatelnosti besucht. Vom Winterpalast, über die Eremitage, die Auferstehungskirche, die Isaakkathedrale....und so weiter und so fort. Museen haben wir nur wenige gesehen. Eben das oben genannte. Oma war im Puschkin Museum und musste vor Rührung weinen, in Puschkins Arbeitszimmer zu stehen. Dann waren wir beiden noch im Dostojewski Museum. Auch das - hervorragend aufbereitet. Im Arbeitszimmer von Dostojewskis Frau hingen drei Postkarten. Eine davon war aus Dresden - Canalettoblick. In Dostojewskis Arbeitszimmer hing eine Reproduktion der Sixtinischen Madonna. Heimatgefühl. Dostojewski war in Dresden zur Kur und hat wohl oft vor der Madonna gestanden, deshalb hat seine Frau eine Reproduktion mitbringen lassen und ihm geschenkt.
    In der Nähe unseres Appartements war die Markthalle der Stadt. Davor saßen hunderte Mütterchen, denen man ansah, dass sie ein schweres Leben und offenbar wenig Geld hatten. Sie verkauften Gurken und Tomaten, Pilze und Beeren, praktisch jede Art von Gemüse und Obst aus dem heimischen Garten oder Wald. Oma und ich hatten uns vorgenommen, eigentlich nur dort Obst und Gemüse zu kaufen. Spätestens beim zweiten Einkauf, als wir plötzlich feststellten, dass jedes noch so kleine Säckchen Gurken oder Tomaten, jede Knoblauchzehe oder Zwiebel genau wie ein Eimerchen mit Pfifferlingen für uns immer zum Preis von 200 Rubel (knapp 3 Euro) über den Tisch gehen sollten, begann uns die Sache nicht mehr geheuer zu sein. Der Preis war für die Pfifferlinge ja angemessen, aber für fünf winzige Gürkchen?? Wir ließen das dann lieber sein und bedienten uns im Supermarktregal mit Gemüsewaage.

    Neu war auch die Erkenntnis, dass Singer (Nähmaschinen) ursprünglich ihren Firmensitz in St. Petersburg hatten. Seit 1919 waren verschiedene Verlage in dem Gebäude am Newski-Prospekt untergebracht, heute St. Petersburgs bekannteste und größte (leider aber auch überfüllteste) Buchhandlung.
    An einem der Abende haben wir Julie und Viktor und Katja zum Essen eingeladen. Wir haben in einem russichen Supermarkt eingekauft und Oma hat deutsch gekocht. Reis mit Gulasch, dazu Salat. Julie und ihr Mann haben Süßes und Torte und Wein und viele russische Spezialitäten mitgebracht. Wir hatten einen so wundervollen Abend zusammen. Es war genau so, wie man sich Gastfreundschaft oder Freundschaft auf Russisch vorstellt, nur das wir in St. Petersburg in einem Appartement im Zentrum der Stadt die Gastgeber waren. Globalisierung halt. Wir hatten gemeinsam so viel Freude und die Kinder auch.
    Ein besonderes Erlebnis war der Besuch im Zirkus in St. Petersburg und dessen neues Programm "Im Epizentrum der Welt". (Ein Schelm, wer böses dabei denkt!) Nein, ich denke nichts böses. Ich mag den Stolz der Russen über alle Maßen und sie haben allen Grund dazu. Der Circus Ciniselli (Russisch: Цирк Чинизелли) war der erste als fester Steinbau errichtete Zirkus in Russland. Er liegt am Ufer des Newa-Armes Fontanka - so heißt auch die Straße. Das Programm, das wir gesehen haben, ist eine Nachwehe der Fußball WM. Es beginnt mir der Anreise zahlreicher internationaler Gäste im Flugzeug die sich dann als Artisten, Clowns, Dompteure und Dresseure erweisen. Fünf Clowns, die wieder das Publikum auf verschiedene Art mit Ton- und Videotechnik einbeziehen und wirklich Spaß machen. Es war faszinierend im eigentlichen Sinne dieses Wortes, das man ja kaum noch verwendet. Insbesondere die Dressur der Tiger (ja, es gab auch weiße Tiger!), Pferde und Hunde. Ich weiß, das ist politisch nicht korrekt, aber ich war irgendwie glücklich, meiner Tochter etwas zeigen zu können, das auch ich als Kind im Zirkus gesehen hatte. Eindeutig: Ich bin und werde deshalb kein Freund von Tierdressuren! Aber ich habe mich gefühlt wie ein Kind. Großartig auch die Artisten, das Ambiente, am Schluss fielen dreifach überlebensgroße Gummifußbälle aus dem Manegenhimmel ins Publikum - gesichert natürlich - mit denen das Publikum spielen konnte.
    Abreisetag: Bevor es soweit ist, muss ich noch schnell die Parkplatzgeschichte erzählen. Ursprünglich sollte unser Detleff in einem Hinterhof auf einem Parkplatz stehen, der zum Appartement gehört. Natürlich hatten die Vermieter die Rechnung ohne Detleff gemacht, denn so ein Wohnmobil ist natürlich traditionell etwas größer und passt also nicht durch eine Durchfahrt in einen Hinterhof. Direkt neben "unserem" Haus war ein bewachter Parkplatz, es lag also nahe, den Wachmann nach einem Deal zu fragen und vielleicht eine Woche zu günstigen Konditionen dort stehen zu können. Fehlanzeige. Der Wachmann war nicht der Besitzer (natürlich!) und konnte mit uns keinen Deal machen. Wir mussten also auf der Straße stehen und hatten (wie immer) Glück! Just im Moment unserer Suche wurde dort ein (übrigens kostenloser) Platz frei und wir konnten uns mit einigem Hin- und Hermanövrieren dort einparken. Blieb noch die Furcht, es könnte jemand unserem Detleff etwas antun. Also bat ich den Parkplatzbewacher (mit ein paar diskret zugesteckten Rubel) doch einmal ab und an und vor allem nachts ein Auge auf unsere Maschina zu werfen. Er nahm das mit Freuden an (übrigens nicht das Geld, das wollte er zunächst nicht haben!) Er nahm seine Aufgabe ungeheuer ernst und fragte uns von da an jeden Tag, ob Maschina ok? Vor unserer Abreise habe ich ihm auf einer Tafel Dankesschokolade noch einmal ein paar Rubel zugeschoben und ihn sichtbar glücklich gemacht.
    Am Sonntag morgen sind wir sehr früh aufgestanden, Lars hatte 6 Uhr den Transfer zum Flughafen und wir wollten möglichst vor dem großen Verkehr aus der Stadt raus sein. Morgens um 6 standen wir also in der Rubinsteina und stellten fest, dass diese Stadt offenbar nie schlief. Mitten in der Straße standen zwei Mädchen mit Pferden und auf einem Auto saß ein junger Mann und spielte mit seinem Klappmesser. Auch sonst war die Straße voll und wir waren ziemlich froh, dass wir zügig auswärts fahren und in die Natur zurückkehren konnten.
    Read more