• Im Keller der Erinnerung

    June 8 in Germany ⋅ 🌧 16 °C

    Ein Pappschild, ausgeschnitten mit der Nagelschere, beschriftet mit Edding: "DDR-Museum →". Der Pfeil zeigte nach unten – in den Keller. Drei Euro Eintritt, bar. Kein QR-Code, keine App, kein Vorverkauf. So beginnt Geschichte manchmal: ganz unspektakulär.

    „Mal sehen, was da kommt“, sagte ich zu Margriet.
    Sie nickte und lächelte mich neugierig und verschmitzt an. Wie immer, wenn es ernst wurde.

    Wir wurden von Franzi begrüßt, Anfang zwanzig, freundliches Lächeln, offen und selbstbewusst. Sie war die inoffizielle Museumsführerin. Wahrscheinlich auch Kassenwartin, Kuratorin und Reinigungsdienst. Multitasking ist gelebte DDR-Tradition, dachte ich.

    Der erste Eindruck war zurückhaltend, aber was dann kam, überraschte uns beide: Die Ausstellung war liebevoll, dicht, detailreich. Kein staatlich gefördertes Erinnerungszentrum, sondern ein Keller voll Geschichte, gebaut aus Privatspenden, Dachbodenfunden und Erinnerungen.

    Ein vollständig eingerichtetes DDR-Wohnzimmer, komplett mit Schrankwand, Röhrenfernseher, Spitzendeckchen und – natürlich – einem gerahmten Bild von Erich Honecker.

    „War der in jedem Wohnzimmer?“, fragte Margriet, während sie sich in den Ohrensessel darunter sinken ließ.
    Ich musste lachen. „Nein, eher in jedem Klassenzimmer. Wohnzimmer waren eher mit Ölgemälden, Drucken oder nichts. Honecker war eher… Unterrichtsstoff.“

    Ich deutete auf ein Regal mit Originalwaren: Sandmännchen-Spielzeug, Meißner Porzellan (Margriet erkannte dies sofort und war in Versuchung, um es ;0)...), die Schrankwand mit eingebautem Schnapsdepot. Viele Dinge kannte ich. Einige hatte ich selbst lange Zeit. Margriet staunte. Franzi hörte zu. Ich erzählte von der Schule, vom Altpapier-Sammeln, das belohnt wurde wie ein kleiner Raubzug. Von Matheunterricht mit Zirkelkasten und vom Fahnenappell mit Pionierhalstuch. Jung- und Thälmannpionier-Uniformen hingen dort, fein säuberlich gebügelt. Mit Ausweisen. Ich erkannte das Blau, das Rot. Es war, als ob jemand in meiner Erinnerung gekramt hätte.

    „Ich fand meine Kindheit gut“, sagte ich irgendwann. Nicht verteidigend. Einfach nur so.

    Dann stießen wir auf den Konsum oder den HO, eine kleine Ladenkulisse.„Konsum oder HO?“, fragte Margriet, als wir vor dem kleinen Miniaturladen standen.
    Ich überlegte kurz. „Beides. Aber nicht das Gleiche.“
    Dann erklärte ich ihr, dass der Konsum die günstige Schwester war – Brot, Milch, Kartoffeln. HO war für den besonderen Tag: Apfelsinen, Schokolade aus Bulgarien, Seife mit Duft.
    Ohne es abzusprechen, spielten Margriet und ich „Kaufladen“.
    Sie hinterm Tresen, ich davor. Ich fragte nach Bananen.
    Sie: „Heute nicht.“
    Ich: „Kaffee?“
    Sie: „Auch nicht.“
    Ich: „Was haben Sie denn?“
    Sie: „Marmelade. Apfel. Ohne Apfel.“

    Wir lachten beide Tränen. Franzi beobachtete uns dabei, sie lachte herzlich mit.

    Im Nebenraum hingen NVA- und Polizeiuniformen. Margriet zögerte keine Sekunde. Sie griff sich die grüne Uniformjacke, setzte sich an den originalen Schreibtisch, griff zum grauen DDR-Telefon und sah mich mit strenger Miene an.
    „Papier, bitte. Und zwar sortiert.“
    Die Uniform stand ihr verdächtig gut.

    Ich zückte sofort mein Handy für ein Foto – dieser Moment war zu gut. Und beim Auslösen konnte ich mir den Spruch nicht verkneifen:

    „Weißt du, Margriet – man könnte glatt meinen, du hast die Uniform mit deinen 85 Jahren einfach nie abgelegt. Weil du sie nicht vermissen wolltest.“

    Sie lachte, ihre Augen blitzten.
    „Du bist ein Teufel - das wäre dann aber eine sehr lange Schicht.“
    Ich speicherte das Foto unter dem Namen „Margriet, Abschnittsbevollmächtigte a.D.“ (a.D. - außer Dienst ;0)...)

    Die Ausstellung war keine Abrechnung, kein erhobener Zeigefinger. Sie war Erinnerung zum Anfassen – ohne Pathos, aber mit Herz. Man spürte den Willen, nichts zu vergessen, aber auch nichts zu beschönigen.

    Wir verabschiedeten uns von Franzi und ihrem Freund, der zum Schluß dazu kam. Wir wünschten ihnen viel Erfolg mit der Erweiterung – vielleicht ein Schulraum mit Wandkarte. Sie notierte es sich ernsthaft.

    Draußen erschien die Sonne kurz. Margriet streifte die Jacke ab.
    „Weißt du, ich war nie in der DDR. Und doch hatte ich heute das Gefühl, ich wäre ein bisschen dort gewesen.“
    Ich nickte. „Warst du auch."
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