• Das Alaska des Ostens

    9 Jun, Jerman ⋅ ⛅ 12 °C

    Abfahrt 6:30 Uhr. Während sich halb Deutschland noch am Kopf kratzt und fragt, ob Montag überhaupt erlaubt sein sollte, sitzen Margriet und ich schon im Auto. Ziel: Milow.
    Mission: Frühstück, Kajak, Abenteuer.

    Die Mecklenburgische Seenplatte ist wie ein stilles Versprechen – ein Landstrich, der atmet. Über 1.000 Seen, durchzogen von Flüssen und Kanälen, verstreut zwischen Buchenwäldern, Schilfgürteln und sanften Hügeln. Hier scheint das Wasser fast genauso viel Raum einzunehmen wie das Land – ein glitzerndes Labyrinth, in dem sich die Natur ihre eigene Ordnung schafft.

    Entlang der Ufer wachsen mächtige Erlen und knorrige Weiden, die sich tief über das Wasser beugen, als wollten sie in ihr eigenes Spiegelbild eintauchen. Zwischen den Schilfrohren schwirren Libellen wie kleine, schillernde Hubschrauber. Graureiher stehen reglos am Rand, als hätten sie die Zeit angehalten. Und wenn man ganz still ist, hört man das leise Tropfen von Wasser, das von Paddeln fällt – oder das ferne Trommeln eines Spechts im Wald.

    Was diese Gegend so besonders macht, ist ihre Stille – eine Stille, die nicht leer, sondern lebendig ist. Kein Lärm, keine Eile, kein Verkehr. Nur das leise Gurgeln des Wassers, das Rauschen der Blätter, das Quaken der Frösche. Und darüber ein weiter Himmel, der abends in allen Farben glüht.

    Kein Wunder, dass man hier auch von einer „Wildnis aus Wasser“ spricht – ungezähmt, aber sanft. Ein Ort, an dem die Gedanken langsamer werden und der Blick weiter.

    „Pack und Paddel“ heißt der Ort unserer heutigen Taten – ein Kanuverleih, geführt von Hendrik van Strik, der laut Namen entweder ein niederländischer Krimiheld oder wirklich Holländer ist. Ich spreche ihn darauf an.
    Er lacht: „Bin ich immer noch.“
    Margriet ebenfalls. Holländischer Gleichklang in Mecklenburg – plötzlich war alles Käse und Königshaus ;0)...

    Vor dem Paddeln gibt’s Frühstück: Croissant, Rührei mit Speck, Filterkaffee. Die Portionen sind großzügig, der Dialekt eindeutig: Berliner. Neben uns ein Zeltmeer – aus jedem Reißverschluss krabbelt langsam ein Mensch. Eine Kolonie Zipfelmützen in freier Entfaltung. Der Tag beginnt.

    Wir steigen ins Kajak. Margriet vorne, Kapitänin. Ich hinten, Steuerfrau.
    „Schwimmwesten?“
    „Brauchen wir nicht“, sagt Margriet. Ich nicke. „Wir sind schwimmfähig und würdevoll.“

    Die Tour geht über fünf Seen – insgesamt 16 Kilometer. Hendrik sagt, der Wind könne unangenehm werden. Ich winke ab. Noch bin ich tapfer. Noch.

    Schon der erste Verbindungskanal ist ein Traum. Stille. Seerosen. Froschgequake. Es ist, als ob uns die Landschaft sagen will: „Nicht stören, ihr seid hier nur zu Gast.“

    Wir gleiten durch das sogenannte „Alaska des Ostens“. Die Weite, die Ruhe, die Schilfhütten am Ufer – ich kann Hendrik verstehen, dass er hier geblieben ist. Seit über 30 Jahren.
    „Es gibt schlechtere Entscheidungen im Leben“, sagt er.
    „Zum Beispiel die, bei Wind zu paddeln“, denke ich – noch leise.

    Wir begegnen Tobi, 45, aus dem Schwabenländle. Er ist mit Zelt und Kajak unterwegs, wir fragten ihn, ob er uns beim Vorbeifahren filmen kann. Als ich ihm erzähle, dass Margriet 85 ist, bleibt ihm fast das Paddel stehen.
    „Mein Ziel: so alt will ich auch mal werden. Mit dieser Kondition.“
    Margriet strahlt wie ein Kirchturm im Abendlicht.

    Nach dem vierten See machen wir eine längere Pause an einem Fischereihof (dazu mehr in der Fotostrecke). Der Rückweg aber... wird zum Drachenritt.
    Der Wind kommt von vorn. Die Wellen klatschen gegen den Bug. Wir arbeiten uns Meter für Meter zurück – Arme, Schultern, Wille. Kapitulieren ist keine Option.

    In einer Schleuse wird es fast literarisch. Zwei Berliner Pärchen in Motorbooten diskutieren eine Beinahe-Katastrophe aus der vorherigen Schleuse:
    „Die ham da dit Tau festgemacht, ja? Und dann ham se die nich losjekriegt. Und die eine – du glaubst es nich – zückt einfach so 'ne Machete!“
    „’Ne Machete?!“
    „Jenauso! Zack! Durchs Tau! Ich sach dir, wie im Kino. Das Boot hing schon schief, Bärbel! Schief! Wie ’n Kahn inner Badewanne!“

    Wir warteten still im Kajak – Margriet schaute mich an, ich schaute zurück. Es war wie eine Live-Lesung aus einem Roman von Juli Zeh´s "Übermenschen".

    Dann wieder die Frau aus dem Boot, diesmal lauter:
    „Und ick hab mir nur jedacht: Wo hat die die Machete her?! Wat hat die, dit Ding im BH jehabt?!“ Zwischendurch kratzt sie sich am Kopf und richtet ihre pinkfarbenen Crogs.

    Das zweite Boot, bislang ruhig, meldete sich auch zu Wort.
    „Naja, Hauptsache, se hat dit Tau jekappt und nich den Kopp von jemandem, wa?!
    Es ist alles so absurd konkret, dass es nur wahr sein kann.
    Wir ließen sie ziehen. Wirklich – das war ihre Bühne.

    Als wir allein und als letztes durch die Schleuse glitten, sagte ich zu Margriet:
    „Das ist Berlinerisch. Das kannste du dir nicht ausdenken.“

    Sie grinste.
    „Ich glaube, ich habe nichts verstanden.“

    Kurz nach der Schleuse, stehen auf einer Brücke Schaulustige. Ich rufe nach oben:
    „Applaus wäre jetzt angemessen!“
    Und siehe da: sie klatschen. Rufen. Jubeln.
    Margriet lacht herzhaft. Die letzten Kilometer trotzen wir dem Wind wie echte Seebären – grimmig, entschlossen, mit leicht brennenden Schultern.

    Als wir wieder ankommen, sagt Hendrik nur:
    „Chapeau. Das haben nicht viele in diesem Alter durchgezogen.“

    Ich sehe zu Margriet.
    „Du warst der Hammer.“
    Sie blinzelt gegen die Sonne.
    „Ich weiß.“
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