• Scheel, Laternen und ein verlorener Kopf

    June 11 in Germany ⋅ 🌬 17 °C

    Wir schlenderten weiter durch die historischen Straßen Stralsunds, als Harald uns vor dem Scheel-Haus stoppte: „Wer weiß denn heute mal, wer Scheel war?“
    Die Gruppe schweigt, doch plötzlich meldet sich jemand mutig: „Ein Chemiker!“
    „Jawohl!“, nickt Harald, „Johann Friedrich Wilhelm Scheel – Sohn eines Apothekers hier in Stralsund. Ein echter Chemie-Pionier. Ohne ihn hätten wir vielleicht nie erfahren, wie man zum Beispiel Bleiglätte herstellt – aber keine Sorge, die Chemie ist heute harmloser.“ (Kleiner Chemie-Kurzexkurs: Scheel entdeckte u.a. das Blausäure-Salz und half, die Anfänge der modernen Chemie zu legen.)

    Mit frisch gewonnenem Wissen zogen wir weiter zum Johanniskloster – oder was davon noch übrig ist. Ein mittelalterlicher Tausendsassa: gebaut im 14. Jahrhundert, abgefackelt im 17., bombadiert im Zweiten Weltkrieg und dann liebevoll restauriert. Heute ein kultureller Hotspot mit einer Bibliothek, die sogar Bücher vom schwedischen Generalgouverneur beherbergt. Also quasi der VIP-Bereich für Bücherwürmer.

    Gegenüber lag das Beginenhaus – und unser Guide Harald wollte wissen: „Was ist eigentlich ein Beginenhaus?“
    Da meldete sich Margriet, und erklärte souverän: „Früher lebten da unverheiratete Frauen, die nicht Nonne werden wollten.“
    Harald grinste: „Ganz genau! Und das hier ist sozusagen das 19. Jahrhundert-Upgrade – ein Heim für bedürftige Frauen, die keine Lust auf Klosterverschärfung hatten.“
    Wir lehnten uns zurück, die Bänke gegenüber, und waren schon halb im Mittelalter-Modus, als plötzlich Thilo und Anna in ihren neuen mittelalterlichen bürgerlichen Kostümen auftauchten.

    Sie diskutierten lautstark über die schlechten Straßenverhältnisse in Stralsund. Anna schimpfte: „Keine Laternen, überall Schlaglöcher, man weiß gar nicht, ob man auf Kopfsteinpflaster oder Kuhfladen tritt!“
    Thilo rollte mit den Augen: „Der Fürst mit der Laterne macht’s nicht besser!“

    Nun zur Geschichte des Fürsten: Um 1780, als die Straßen noch schiefer gepflastert waren als unser Humor, herrschte in Stralsund Friedrich Wilhelm von Hessenstein. Ein Mann von Rang: Friedrich Wilhelm von Hessenstein – Sohn eines Königs, ohne Krone, aber mit Autorität. Er residierte in Stralsund als Generalgouverneur und nahm seine Aufgabe, die Stadt zu ordnen, sehr ernst. Nun stürzte er eines nachts, so böse... Dies ließ ihn schier verzweifeln: die Stralsunder Bürger gingen nachts einfach so auf die Straße – ohne Laterne!
    Das war ihm zu viel.
    Eines Tages also ließ der Fürst verkünden: „Von nun an ist es jedermann untersagt, sich nach Einbruch der Dunkelheit ohne eine mitgeführte Laterne im öffentlichen Raum zu bewegen. Zuwiderhandlungen werden mit Strafe belegt!“ So stand es im Erlass. Klipp und klar.

    Aber was taten die Stralsunder? Sie murmelten, schmunzelten – und trugen Laternen, aber ohne Licht mit sich – es blieb dunkel in den Straßen. Es folgte prompt ein zweiter Erlass: „Von nun an ist es jedermann untersagt, sich nach Einbruch der Dunkelheit ohne eine mitgeführte, angezündete Laterne im öffentlichen Raum zu bewegen. Zuwiderhandlungen werden mit Strafe belegt!“ Aber was taten die Stralsunder?
    Die Stralsunder wiederum schummelten wieder: Sie entzündeten winzige Kerzen, so schwach, dass man eher dachte, sie hätten Glühwürmchen in der Laterne.
    Wir lachten bei dieser Unterhaltung von Thilo und Anna herzlich. Sie gingen von dannen, und wir auch in eine andere Richtung, folgten unserem Priester Richtung Kniepertor.

    Harald zeigte uns ein Denkmal von dem Freiheitskämpfer Ferdinand von Schill. Der Name klingt groß, und das war er auch – ein preußischer Major und Freiheitskämpfer gegen Napoleon. 1809 versuchte er mit einer kleinen Truppe in Stralsund einen Aufstand – der allerdings nicht so richtig zündete. Ferdinand von Schill war eine der schillerndsten, tragischsten und zugleich berühmtesten Gestalten der deutschen Freiheitskämpfe gegen Napoleon. Sein letzter, dramatischer Auftritt fand 1809 in Stralsund statt – und endete mit seinem Tod. Was danach mit ihm – insbesondere mit seinem Kopf – geschah, gehört zu den düstereren Kapiteln der Geschichte.

    An dieser Stelle schlenderten wir hinter das Denkmal, wo Anna schon im barocken Kostüm auf uns wartete. Sie erzählte flüsternd: „Habt ihr schon gehört? Der Bruder von Napoleon, Jérome, hat ein Kopfgeld von 10.000 sundischen Mark auf Schills Kopf ausgesetzt – und der ist jetzt verschwunden! Was für ein Skandal!“
    Genau in diesem Moment tauchte Thilo auf, trug ein mit Leinentuch bedecktes Fußballgroßes Etwas unter dem Arm. „Der Herr Doktor, haben Sie die Neuigkeiten schon gehört?“ fragte Anna.
    Thilo schüttelte den Kopf. Er lässt sich die Neuigkeiten ausfürlich erklären. Sie fragt ihn nach einer Weile, ob er denn wisse, wo der Kopf sei oder was mit ihm geschehen seien könnte... Der Doktor drehte sich zu uns um und zog das Leinentuch langsam weg – und da lag er: der Kopf des Freiheitskämpfers, in Formaldehyd eingelegt. Ein kollektives Raunen ging durch unsere Gruppe.
    So makaber das war, so humorvoll beendete Harald unseren Rundgang: Mit warmen Worten, Flyern in der Hand – und einem letzten Blick auf das leicht bekleidete Mädchen mit dem frechen Grinsen, das uns schon vom Anfang an begleitet hatte.

    Die drei Schausteller verbeugten sich, wir applaudierten und jubelten – was für eine Zeitreise! Informativ, unterhaltsam, manchmal absurd – aber immer mit dem perfekten Stralsunder Flair...
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