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- Day 4
- Wednesday, June 11, 2025 at 10:00 AM
- 🌬 16 °C
- Altitude: 19 m
GermanyStralsund54°18’57” N 13°5’25” E
Vom Scharfrichterhaus zur Orgelweihe

Wir machten uns auf den Weg zum nächsten Platz vor der Kirche an der Papenstraße, wo im Mittelalter die Hinrichtungen stattfanden. Dort befindet sich das Scharfrichterhaus, ein historisches Gebäude an der Ecke Filterstraße/Papenstraße, das als einziges erhaltenes Scharfrichterhaus im Ostseeraum gilt. Es wurde im 13. Jahrhundert erbaut und diente über Jahrhunderte als Wohn- und Arbeitsstätte der städtischen Scharfrichter. Der letzte Scharfrichter Stralsunds, Christian Hermann Wentzel, lebte und arbeitete hier bis zu seinem Tod im Jahr 1841. Die letzte öffentliche Hinrichtung in Stralsund fand am 26. April 1855 auf dem Alten Markt statt.
Der Gebäudekomplex besteht aus zwei Teilen: einem zweigeschossigen Wohnhaus (Filterstraße 2b) und einem dreigeschossigen Turmhaus (Filterstraße 2a), das 1412 an das Wohnhaus angebaut wurde. Das Turmhaus diente als Gefängnis und Folterkeller. Trotz späterer Umbauten sind die mittelalterlichen Strukturen erhalten geblieben, einschließlich der Gewölbekeller und des Schaugiebels am Turmhaus. Heute ist das Scharfrichterhaus ein denkmalgeschütztes Gebäude im UNESCO-Welterbegebiet der historischen Altstadt von Stralsund. Es wird seit 1990 schrittweise saniert und kann auf Anfrage besichtigt werden.
"Wisst ihr eigentlich, warum der Giebel vom Scharfrichterhaus nicht zum Platz zeigt?“, fragte Harald, unser priesterlicher Führer mit dem roten Umhang, und stellte sich mit verschränkten Armen vor das düstere Gebäude an der Papenstraße.
Wir schauten alle wie sonntags in die Waschmaschine – mit höflichem Interesse, aber null Plan. Schulterzucken ringsum.
„Na? Weil der Scharfrichter gesellschaftlich geächtet war – sein Haus sollte nicht glänzen, sondern funktionieren. Giebel zeigt zur Filterstraße, wo damals der Verkehr lief, nicht zum Platz – der war eh zu heikel für so ’nen Job.“
Als wir vor dem ehrwürdigen Scharfrichterhaus standen, wurde Harald plötzlich geheimnisvoll, zog ein vergilbtes Bild aus seiner Kutte und sagte mit einem verschmitzten Grinsen: „Wisst ihr, hier in Stralsund im Mittelalter konnte man nicht nur für Diebstahl oder Mord auf den Galgen wandern – Ehebruch war mindestens genauso gefährlich. Mancher bekam sogar einen Solo-Auftritt an der Schandpfahl-Show.“ Er zwinkerte einem verheirateten Mann aus unserer Gruppe zu und flüsterte: „Sag mal, hättest du da ’nein‘ sagen können?“
Der Mann grinste breit, während Harald das Bild herumreichte – es zeigte eine ziemlich freizügige, wunderbar proportionierte junge Frau.
„Das, meine Lieben, ist Anna von… nun ja, nennen wir sie mal die Versuchung in Person!“
Dann erzählte Harald ein richtiges Skandal-Drama, das sich hier zugetragen haben soll: Ein reicher Kaufmann wurde beim Ehebruch ertappt – und zwar redlich erwischt. Das Gericht verurteilte ihn zum Tod am Galgen. Doch seine schöne Geliebte, die Anna, setzte all ihre Charmeoffensive in Bewegung. Sie flehte, weinte, und versprach, alles zu tun, damit er verschont wird. Das Gericht, ganz im Mittelalter-Modus zwischen Strenge und Unterhaltung, gab ihm tatsächlich eine letzte Chance – aber nur unter strengen Auflagen und mit ganz viel Misstrauen.
„Der Kaufmann“, lachte Harald, „hat versucht, sich rauszureden: ‚Ich hab’s doch nur gemacht, um mein Liebesleben aufzupeppen!‘“
Wir lachten alle herzlich, während Harald dann noch zwinkerte: „Also, ihr Lieben, denkt daran: Im Mittelalter konnte ein Seitensprung nicht nur das Liebesleben, sondern auch das Leben insgesamt beenden – der Scharfrichter war streng."
Eine Katze, wie aus dem Theaterverleih – rot-weiß gescheckt, mit Hang zum Dramatischen – schlich währenddessen an Haralds Kutte entlang und nutzte ihn als lebende Kratzsäule. Der Priester schaute seufzend nach unten.
„Das hier ist meine neue Novizin. Hat noch kein Gelübde abgelegt, aber frisst bereits wie eine Klosterküche.“
Wir lachten, aber Harald ging schon weiter – hinein in die Kirche St. Jakobi.
„Ahhh“, raunte Margriet neben mir, „jetzt wird’s feierlich.“
Wir traten in das kühle Kirchenschiff, bestaunten die alte Kanzlei (wirklich noch Original-Mittelalter!) und setzten uns in die Bänke. Doch kaum hatten wir Platz genommen, da schlich – wie aus dem Nichts – ein Bettler hinter dem Altar hervor. Es war Thilo, diesmal mit einfachen Holzschuhen, einfaches Hemd, zu kurze Hose und gierigen Blicken.
Er griff sich einen goldenen Kelch vom Altar – genau in dem Moment, als Anna alias Frau Ketelhot auftauchte.
„Heda! Was tust du da?“ rief sie empört.
„Ich... ich nehm nur, was sowieso niemand mehr benutzt“, stotterte der Bettler.
„Was willst du mit dem Abendmahlskelch? Draus essen?“
„Wär’n Anfang...“
Diese Szene spielt auf das Stralsunder Kirchenbrechen an – ein Ereignis von 1525, als Bürger in der Reformationszeit Kirchen stürmten und plünderten. Auslöser war ein Missverständnis, das in Tumulte und Zerstörungen religiöser Kunst mündete. Frau Ketelhot – historisch überliefert – versuchte tatsächlich, die wütenden Bürger zu beruhigen, scheiterte jedoch.
In diesem Moment trat Harald dazu, hob theatralisch die Hände gen Himmel und rief:
„Oh Herr, du siehst dein Haus geplündert! Und das von einem Holzfüßigen mit einem Löffel in der Tasche!“
Wir lachten – obwohl die Szene bedrückend und historisch bedeutend war. Es war ein seltsames Gefühl: Zwischen Schmunzeln und Gänsehaut. Harald gab immer den Epilog und den Prolog, wenn wir in diese Schauspielkunst eintraten. Auch hier wieder staunten wir, wie schnell man in so einer Szenerie drinnen ist mit so einer gotischen Kulisse – beeindruckend. Wir applaudierten und schauten uns noch die alte wiederhergestellte Orgel an.
Die erste Orgel der Jakobikirche wurde 1741 von Christian Gottlieb Richter erbaut. Der barocke Prospekt stammt von dem Stralsunder Bildhauer Michael Müller. Spätere Umbauten erfolgten durch Ernst Marx (1779–1783) und Friedrich Albert Mehmel (1870–1877), wobei Mehmel das Instrument auf vier Manuale und 68 Register erweiterte. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Orgel weitgehend zerstört und geplündert. Einige Teile, wie die geschnitzten Gehäuseteile, wurden ausgelagert und blieben erhalten.
Zwischen 2018 und 2020 wurde die Orgel von der Orgelwerkstatt Kristian Wegscheider aus Dresden unter Verwendung historischer Teile rekonstruiert. Das Instrument verfügt über 51 Register auf drei Manualen und Pedal und orientiert sich klanglich und technisch am Stil des 18. Jahrhunderts. In das neue Werk wurden Teile der Vorgängerorgeln integriert, darunter die Pedalwindladen von 1741 und etwa 50 Holzpfeifen von Mehmel aus dem Jahr 1877. Der barocke Prospekt wurde in seinem ursprünglichen Zustand von 1741 wiederhergestellt.
Seit ihrer Weihe am 19. September 2020 hat sie sich in zahlreichen Konzerten als klanglich herausragendes Instrument erwiesen.
Dann zogen wir weiter. Das Mittelalter wartete schon hinter der nächsten Ecke.
Dann zogen wir weiter. Das Mittelalter wartete schon hinter der nächsten Ecke.Read more