• Day 8

    Draußen kalt, innen warm

    March 30 in Iceland ⋅ 🌧 5 °C

    Das erste Mal seit meiner Ankunft weckt mich der Wecker um 6:30 Uhr und holt mich zum Glück aus einem offenbar sehr anstrengenden Traum - ich bin klatschnass geschwitzt und mein Herz rast. Ich erinnere mich nicht, aber vielleicht war es ja die unbändige Vorfreude auf meinen Ausflug heute.
    Ganz bestimmt.

    Die Fahrt zur Blue Lagoon ist selbst schon ein kleines Highlight an sich: Die Straße ist an manchen Stellen gesperrt und muss umgeleitet werden, weil der vulkanische Boden tiefe Risse zeigt, aus denen es dampft und qualmt. Man lebt auf einem Pulverfass hier. Aber keinen scheint es zu beunruhigen.

    Mein gebuchter Zeitslot für die Lagune ist um 8, ich komme im wilden Schneegestöber an und freue mich auf das 38 Grad warme Wasser und ein bisschen Entspannung. Am Check-in werde ich gefragt, ob ich heute allein anreise. Ich bejahe die Frage und denke noch, es sei höflicher Smalltalk. Dann werde ich gefragt, weil ich allein anreise, ob ich gesundheitliche Einschränkungen habe. Ich zögere. Noch immer fühlt es sich komisch an, es laut auszusprechen, aber ich entscheide mich für die Wahrheit und erzähle von meinem Schwindel der gerade im Wasser eher schlimmer wird, und der manchmal plötzlichen Erschöpfung in den Beinen. Hier kann ich es gut austesten. Kennt mich ja niemand. Ich werde freundlich von einer medizinischen Person abgeholt und bekomme eine Einweisung. Und ein knallorangenes Armband um. Das leuchtet auch unter Wasser und durch den dichten Wasserdampf so deutlich, dass die Lifeguards mich problemlos sehen können. Island mal wieder...Ich sage noch, dass ich gar nicht so viel Aufmerksamkeit möchte und sie antwortet mir, dass das okay sei, dass heute trotzdem gut auf mich aufgepasst würde. Mir kommen dir Tränen. Die meinen es ernst mit ihrer Menschenliebe hier.

    Ich schmeiße mich in einen flauschigen Bademantel und zittere mich in die 1 Grad kalten 5 Meter bis zum Einstieg. Ob des Temperaturunterschieds gibt es viel Wasserdampf. Es ist noch recht leer, weil ich mit Öffnung das Bad betrete. The perks of being an early bird. Außerdem sieht und hört man von den anderen Menschen kaum etwas. Der Wasserdampf dämpft alles ab. Ich fühle mich wie in Watte, als wäre ich in einer riesigen Wolke. Teilweise ist es wie in einem White-Out. Man sieht nichts mehr um sich herum.
    Ich tauche ab und wate ein bisschen durchs hüfthohe Wasser. Hier lässt es sich aushalten. Nach einiger Zeit merke ich, dass meine Haare anfangen zu gefrieren.

    An der Bar im Wasser hole ich mir eine Schlammmaske fürs Gesicht. Meine Haut hat die letzten Monate ganz schön unter mangelnder Fürsorge gelitten. Erst lasse ich sie verbrennen und dann jetzt hier erfrieren. So behandelt man nun wirklich nicht sein Lieblingsorgan! Die Manuka Therapie in Neuseeland, hat da Einiges gerettet, aber die habe ich für den Island Trip unterbrochen. Ich schäme mich und übe Versöhnung.

    Und so chille ich mich mit einer ansehnlichen dunkelgrauen Maske an den Rand der Lagune, weil ich selbst durch den dichten Qualm bemerke, dass die Lifeguards schon immer ein genaues Auge auf mich und mein leuchtendes Armband haben. Und als ich da so liege, meine Gedanken treiben lasse in schöne Tagträume und dem Wasserdampf dabei zuschaue, wie er immer neue Luftschlösser baut, höre ich eine Stimme aus dem Off "Are you feeling alive?" Ich drehe mich um und sehe eine Life guard, die sich dick eingepackt wie sie ist, neben mich gesetzt hat. Ich denke so bei mir, diese Frage ist jetzt auch schon übertrieben, immerhin habe ich die Augen offen und atme deutlich Dunst aus. Sie scheint meine Gedanken gelesen zu haben, grinst mich an und meint "I mean because your hair is freezing while you are almost readily cooked". Ich muss lachen und antworte, dass ich mich in der Tat sehr lebendig fühle. Und ob Isländer*innen überhaupt Kälte empfinden können oder ob ihnen dafür das Gen fehle. Wir kommen in ein sehr nettes Gespräch. Ich frage sie, wann sie sich denn so lebendig fühle und schwupps sind wir bei Musik. Sie sei Singer-Sonwriterin, habe gerade ihr drittes Album rausgebracht und sei abends bei einem kleinen Konzert in einem Buchladen. Der Botschafter von Polen sei auch in der Band. Aha. 😂 Ich könne ja vorbeischauen. Ich frage sie nach ihrem Lieblingslied für meine Playlist, die ich von der Weltreise einfach weiterführe und die schon gut gefüllt ist mit Lieblingssongs von fremden Menschen und Geschichten dazu. Sie tippt mir einen ihrer eigenen Songs bei Spotify ein und erzählt eine emotionale Geschichte über persönliches Wachstum, mentale Struggle und Zuversicht. Mal wieder bin ich sehr berührt davon, wie Menschen sich öffnen. Ich frage sie noch, ob sie Foto Nummer 3 von mir aufnehmen würde. Sie macht zur Sicherheit auch noch Foto Nummer 4.

    Immer im Wechsel zwischen Entspannung im Bademantel mit Tee und Ausblick und bis zum Hals im wohlig warmen Pool, verbringe ich noch ein paar Stunden hier, bis ich genug habe und mich aufmache zurück.

    Derweil tobt draußen buchstäblich ein Schneegestöber. Es ist teilweise so weiß um mich herum, dass ich anhalten muss, weil ich nichts mehr erkenne. Die Fahrbahn ist trotz Spikes glatt und das Sliden in den Kurven macht auch nur so semi viel Spaß beim teilweise fehlenden Absperrungen zum Abgrund. Nacheinander fallen im Auto einige Systeme aus, weil die Sensoren vereist sind. Das Auto struggelt spürbar ohne Spurhalteassistent, Abstandshalter und allgemein mit dem Untergrund. Die Anzeige leuchtet und blinkt wie ein Weihnachtsbaum. Ich entscheide, die nächste Haltebucht zu wählen und eine Pause zu machen. Mit warmem Popo dank Sitzheizung, fahre ich den Sitz nach hinten, mache mir Entspannungsmusik an und ziehe mir die Mütze über die Augen. Ein perfekter Ort für eine Panikattacke, so mitten im Nirgendwo, lange schon kein anderes Auto mehr gesehen, kommt es mir in den Sinn. Schnell summe ich "Willst du einen Schneemann baaaaauuuuueeeeeen? Oder vielleicht was andres baaaauuuueeen?", frage mich, was Olaf jetzt tun würde und versuche mich zu entspannen. Es klappt. Um mich herum geht die Welt unter. Nach einer halben Stunde Powernap sieht sie schon wieder besser aus. Allgemein eine gute life lesson...

    Bevor ich weiterfahre, rufe ich Miri an, um mein furchtbares erste-Welt-Dilemma zu besprechen und zu sortieren. Das letzte Jahr bringt mich umweltmäßig zielsicher in die Hölle. Ich glaube, auf dem Klimawandel steht ab jetzt auf einer goldenen Plakette "sponsored by Anne Laws". Da hilft auch keine Kompensation mehr. Immerhin stelle ich mir aber noch Fragen. Wie: Fliege ich also am Mittwoch nach Olso, treffe Karoline und starte mit ihr einen zweiten Versuch auf Nordlichter in Tromsø? Oder müssen es vielleicht auch nicht drei weitere Flüge in vier Tagen sein?
    Laut Kathrins Theorie ist bei der Wahl der Person, die man um Rat fragt, schon unterbewusst die eigene Entscheidung getroffen, weil man in der Regel abschätzen kann, was die Person einem raten wird. Deshalb rufe ich nicht Karoline an...
    Miri hat wie immer eine klare, ganz uneigennützige und sehr absehbare Haltung dazu und empfiehlt mir, doch einfach statt nach Norwegen, zu ihr nach Münster/Osnabrück zu fliegen. 🙈 Nicht umsonst gebe es da schließlich auch einen wunderschönen Flughafen. Nordlichter? Sie habe noch so ein paar Leuchtsterne, die könne sie mir übers Gästebett tackern. Wäre ja immerhin heller, als das, was ich da in Island gesehen hätte. Sie hat nicht Unrecht. Und Bananen und Pistazien würde sie auch genug kaufen. Wir könnten Ted Lasso weiterschauen, das sie exklusiv nur schaut, wenn ich neben ihr sitze. Und sie würde mir auch zur Wahl stellen, was ich uns dann von HelloFresh zum Abendessen kochen darf. 😂 Ach, ich weiß, warum ich sie immer wieder so gerne um Rat frage. Die Dinge werden so eindeutig und klar. Warum gucke ich mir statt irgendwelcher Himmelslichter in der Ferne nicht lieber meine eigenen Menschen-Lichter an, die ich in meiner Nähe lieb habe? Außerdem muss ich dringend gekuschelt werden. Ein besserer Plan.

    Zurück angekommen überlege ich, ob ich noch in die Buchhandlung zum Konzert von Silja und dem polnischen Botschafter gehe. Und da mein Konzept des Blitz-Karneval so gut funktioniert hat, denke ich, drei Songs können nicht schaden. Und wenn doch, ist es eben ein Abendspaziergang. Nichts muss.

    Während ich also zielstrebig losmarschiere, quatscht mich eine Frau locker an. "Well, you look like a woman on a mission. What's your mission?"
    Ich erzähle ihr von dem Konzert und sie fragt, ob ich Lust auf Begleitung hätte. Ich sage ihr, dass ich mich eigentlich aktuell von Menschen fernhalte und aber jetzt gerade auch furchtbar schlecht im Entscheidung treffen sei. Sie dürfe mit, wenn sie auch in irgendwas richtig schlecht sei. Wie aus der Pistole geschossen sagt sie, sie sei die schlechteste Holländerin der Welt. Ich finde, das ist ein guter Ausgangspunkt für einen unterhaltsamen Abend.

    Wir haben ganz unverhofft eine richtig nette Zeit und reden über Gott und die Welt. Sie war in Island für eine Konferenz, es ist ihr letzter Abend, sie kommt aus Eindhoven, heißt Anouk. Und sie benutzt in kürzester Zeit schon zum zweiten Mal mein zweitliebstes Englisches Wort "serendipity". Ich frage sie, was genau sie denn zur schlechtesten Holländerin mache, die ich jemals treffen werde. Sie sagt, sie hasse Frikandel, Bier, Kibbeling, spreche nur ganz schlechtes Deutsch, möge kein Softeis (ich frage entsetzt "auch nicht mit Disco??" - so heißen die bunten Streusel, in die man das Eis tauchen kann), sie verneint. Nix zu holen. Pommes speciaal gingen. Ich bin erleichtert. Aber laktoseintolerant sei sie, also kein Käse. Ich verabschiede mich innerlich von ihr. Wir haben keine Zukunft, auch nicht für den Abend. Toleranz fängt für mich bei Laktose an. Zum Glück lacht sie über meinen Humor. Als wir beide beim Betreten der Bar unsere Ohrstöpsel rausholen, treffen sich unsere Blicke. Wir müssen grinsen und wissen, worin wir beide so richtig schlecht sind: Lautstärke.

    Die Musik macht Spaß, es sind ein paar isländische Songs und weitestgehend Cover von den 50ern bis zu den 00ern. Anouk besteht darauf, mir ein Getränk auszugeben, dafür dass ich sie mitgenommen habe.
    Sie fragt mich, was ich noch so vorhabe und ich erzähle ihr von meinem Plan, einmal auf einem Isländer zu tölten. Sie grinst nur und sagt "So you're one of those girls..." Ich frage sie, was sie meine. Na, Pferdemädchen! Nein, das bin ich wahrlich nicht, aber sie, wie sich herausstellt. Leidenschaftlich. Undzwar so sehr, dass sie ihren Kindheitstraum erfüllt hat und Tierärztin mit Spezialisierung auf Pferde geworden sei, daher auch die Konferenz. Ich frage sie also ab dann über Islandpferde aus und genieße es, dass das Thema Job überhaupt erst zum Ende des Treffens aufkam. Und dann mit so viel Passion gefüllt ist. Ein guter Radar wie ich finde, wie schnell in einem Gespräch über den Job gefragt wird. Meiner Erfahrung nach, je später, desto schöner das Gespräch.

    An der Bar für die nächste Runde Ingwerlimo komme ich mit einer älteren isländischen Frau über ihr traditionelles Gewand ins Gespräch. Sie hat ordentlich einen sitzen, das merke ich daran, wie sie lallt und außerdem daran, dass sie mir körperlich für eine Isländerin doch sehr nah kommt. In Köln wäre das der normale Abstand für ein Gespräch, aber hier nicht. Sie erzählt von der Konfirmation ihres Enkels, da gehöre das zum guten Ton und zum isländischen Stolz, sich entsprechend zu kleiden. Aha. Dann erzählt sie, dass ihr Sohn ein Teil der Band sei und schon mal mit dem Sänger geknutscht habe, aber das sei völlig ok für sie und sie sei da ganz offen. Ich frage sie, ob das nicht der polnische Botschafter sei. Sie sagt nur "I don't know about these gay things." 😂 Dieser Abend wird einfach immer schräger.

    Als die Songs immer emotionaler werden und nach "The Scientist" auch noch "With or without you" gespielt wird, geben mir die ersten Akkorde von "Iris" von den Goo Goo Dolls den Rest. Zeit, zu gehen. Ich mache mich also auf, Anouk will mit, schließlich haben wir denselben Heimweg. Wir tauschen uns über Musik aus und was sie so in uns bewegt, während wir uns vor der Kirche noch auf das Denkmal setzen und die nächtlichen Lichter bestaunen. Manchmal ist es einfacher, sich einer komplett fremden Person zu öffnen, als seinen besten Freunden. Und festzustellen, dass menschliche Irrungen und Wirrungen am Ende durch alle Zeiten, Generationen und über alle Ländergrenzen hinweg gleich bleiben. Wir verabschieden uns dann auf dem Weg ins Zimmer, ich danke ihr für den Abend und wünsche ihr eine gute Heimreise. Sie sagt "I know you liked how I used the word "serendipity" and when I come to think of it, this aquaintance is the perfect definition". Auf dem Weg ins Bett denke ich daran, wie sich durch den kompletten Tag ein rotes Band von äußerer Kälte und innerer Wärme zog.
    Am allerschönsten daran finde ich, dass ich nichts ausgetauscht habe an Kontaktdaten, das hätte für mich auch den Moment kaputt gemacht. So kann einfach alles genau da, im Moment bleiben.

    Es ist irgendwie schön, nach so vielen Tagen des Rückzugs gleich drei so nette Begegnungen zu haben, die allesamt nur im Hier und Jetzt stattfanden. Das konnte ich sehr genießen. Ich glaube, vor allem WEIL ich mich zuvor so zurückgezogen hatte und ganz bei mir war. Ich brauchte nichts, hatte mich dabei. Und gleichzeitig merke ich die Anstrengung dahinter. Und wie viel schöner es ist, sich in vertraute Gespräche und vertraute Menschen fallenzulassen. Es ist Zeit, nach Hause zu fliegen. Ich vermisse Unmittelbarkeit.

    "Abende werden nicht besser, nur weil sie länger werden." Dasselbe gilt bestimmt auch für Island Urlaube. Sicher gibt es hier noch sooooo viel zu entdecken. Aber ich habe auch einfach schon so viel erlebt, das ich jetzt erstmal wieder verarbeiten kann. Außerdem soll ja noch was übrig bleiben, wenn Wiebke mitkommt.

    Dafür habe ich auch heute wieder an der Lagune einen kleinen Geocache versteckt. So wie bereits an der Kirche. Und an einer schönen Bank mit Ausblick. Wenn wir gemeinsam hierher reisen, freue ich mich schon sehr darauf, wenn sie die kleinen Schätze findet.

    Ich buche also, nicht nur wegen Miris Rat, sondern weil es sich stimmig anfühlt, einen Flug heim. Meine Energie wird zunehmend weniger. Meist kann ich es noch abfangen. Aber ich merke, dass mich allein die Tatsache, einen Mietwagen zu haben, auch innerlich dazu nötigt, ihn zu nutzen. Es ist also an der Zeit, der FOMO ein Ende zu setzen. Und weil ich gerne zumindest eine theoretische Chance auf ein weibliches Cockpit haben möchte, entscheide ich mich, auch wegen des sehr inspirierenden Films, für Iceland Air, die mich nach Frankfurt fliegen werden.
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