Island 2025

March - April 2025
A 11-day adventure by Ä Read more

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    „Þetta reddast!“ - Wird schon klappen

    March 23 in Iceland ⋅ ☁️ 2 °C

    Der Wecker klingelt morgens um 4 und ich werde aus schönen Träumen von einem Picknick in einem Wald an einem Sommertag gerissen. Als hätte mein Verstand noch einen letzten Versuch gewagt, alle Dinge, die ich so mag (Sommer, Wälder, draußen essen) noch einmal vor mir vorbeiziehen zu lassen, bevor ich mich dann dahin aufmache, wo es aktuell nichts davon gibt.

    Es ist noch keine 5 Uhr morgens und der Flughafen platzt aus allen Nähten. Als ich mich ganz entspannt am baggage drop off anstellen will, guckt der Mitarbeiter auf meine Boardkarte und ruft durch die Halle zu seiner Kollegin, über die riesige Schlange hinweg "Mimi, ich hab hier noch eine!". Er dreht sich zu mir und sagt "Sie sind spät dran (ich denke "story of my life, Bruder"), gehen Sie nach vorne, sobald der Koffer weg ist, ab zum Gate. An der Sicherheit sieht's heute noch schlimmer aus." Wiebke wäre das nicht passiert. Die hätte gemütlich hier gestanden, an einem leeren Schalter, und ihren ersten Kaffee getrunken. Und dann den zweiten am Gate.
    Aber weil ich schon mal einen Flug verpasst habe, obwohl ich schon am Flughafen und hinter der Sicherheit war, einfach weil ich zu lange und ausgiebig Kaffee getrunken habe, will ich wenigstens aus manchen Fehlern lernen. Heute gibt es keinen Kaffee.

    Stattdessen mache ich alle eingeplanten Höhenmeter für diesen Tag schon am Abflughafen dank defekter Rolltreppen und Aufzüge.

    Im Flieger gibt es dann für mich wie immer Fensterplatz. Neben mir nimmt eine Frau Platz, die aussieht, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen, Haare in alle Richtungen, knallroter Kopf. Sie krallt sich an, naja, eigentlich unser beider Armlehne fest und starrt nach vorne. Weil ich dieses Bild von mir selbst noch vor ein paar Jahren kenne, lange vor all den Flugstunden und Entspannungstechniken, biete ich ihr an, für Sie ansprechbar zu sein. Ihr Mann freut sich noch mehr als sie selbst und so nimmt sie beim Start unser beider Hände, ich erkläre jedes Geräusch, gebe mein Wissen über Physik von meiner Mutter und der Sendung mit der Maus wieder und wir atmen zusammen 4-7-8. Es ist schön zu sehen, dass es ihr nicht mehr so scheiße geht und ich endlich was zurückgeben kann von dem Rückflug aus Kuba, als es mir 11 Stunden lang ähnlich ging und sich eine fremde Person so um mich kümmerte.
    Bei der Landung lasse ich sie ans Fenster und lenke sie noch ein bisschen mit meiner eigene spannendste Erkenntnis, die mir bei jedem Flug über einen Ozean hilft: unser Airbus A330 hat ein Gleitverhältnis von 15:1, also pro 1000 m Höhenverlust kommt er 15 km weit. Bei einer normalen Reiseflughöhe von 12.000 m macht das bei kompletten Ausfall beider Triebwerke mit unserem aktuellen Rückenwind noch knappe 200km. Der Wahnsinn. Nach der Landung bedankt sie sich herzlich bei mir. Unsere Wege trennen sich. Bis sie mir auf dem Parkplatz vor dem Flughafen wieder begegnet, mit ihrem Mann auf mich zukommt, und sagt, das sie mich gesucht hätten weil sie mich gern zum Essen einladen wollen. Als ich dankend ablehnen will und sage, dass ich an Karma glaube und mich freue, wenn sie dafür einfach jemand anderem weiterhilft, sagt sie nur, dass sie darauf bestehe und ich jetzt ihre Nummer einspeichern solle. Ok. Ich will mir nicht gleich die erste Isländerin zur Feindin machen. ☺️

    Auf dem Weg zum Airport Shuttle gehe ich auf den Bus zu, vor dem ein Mann steht und mich angrinst. Er ruft mir entgegen "Hellooooo, there you are!!"
    Ich gucke mich ein bisschen irritiert um, aber sehe niemanden weit und breit.
    Und dann frage ich "You mean me?"
    Er "Yes, yes, we've waited for you."
    Und ich "Oh no! The bus waited for me??"
    Und er "No, Iceland has waited for you." ☺️🥰
    Was ist denn hier nur los mit den Menschen?
    Mich beschleicht ein ähnliches Gefühl wie bei unserer Ankunft in Chile, als wir uns -trotz unserer verloren gegangenen Koffer und mitternächtlichen Hundekontrollen beim Zoll- instant zu Hause fühlten.
    Auf der Fahrt in die Stadt entdecke ich dann zum Glück doch ein paar Tannen, immerhin. Es wird aufgeforstet, nachdem die Wikinger alle Bäume auf der Insel für ihre Boote abgeholzt haben. Ansonsten könnte diese Landschaft an den Harz in 10 Jahren erinnern.

    Die Insel ist sehr dünn besiedelt, hat insgesamt nur knapp so viele Einwohnende wie Bonn, Wuppertal oder Münster. Und mehr Schafe als Einwohnende. Hier in Reykjavik sind die Gebäude niedrig, man sieht viel Himmel. Es ist ganz leise, wenige Autos (die haben aber dafür allesamt Spikes an den Reifen, was wiederum wenn mal eins fährt recht laut ist). Und obwohl das Wetter hier an der Mehrzahl der Tage dunkel und grau ist, die Winter lang und die Supermärkte entsprechend voll mit hochdosierten Vitamin D Tabletten sind (und überall Skyr!! Hier werde ich kein Problem haben, auf meine 100 Gramm Protein zu kommen), erscheinen mir die Menschen ausgeglichen, gelöst, man hört viel Lachen auf der Straße, in Läden. Überall stehen Menschen und unterhalten sich, man kennt sich. Sie begegnen auch mir fürsorglich, zugewandt und strahlen eine ehrliche Offenheit aus. Wie schon in einem der Posts von der Weltreise, gilt vielleicht mal wieder die einfache Formel "wenige Menschen auf viel Platz gleich friedliche Entspanntheit". Die Stimmung ist einladend.

    Es gibt überall kleine Galerien, Cafés und... Läden, in denen man sich dicke Funktionskleidung leihen kann. So erkennt man die meist asiatischen oder spanischsprachigen Touris, die diese tragen, schon aus der Ferne, denn es ist immer dieselbe Kombi aus Skihose und Skijacke in der immergleichen Farbe. ☺️

    Vor dem Einchecken im Hotel möchte ich einen Tee und was Regionales frühstücken. Wiebke ist mittlerweile in Wuppertal bei Mine zum Frühstück angekommen und ich bin natürlich ein bisschen neidisch von ihrer Erzählung. Ich gehe in ein Café, in dem es gemütlich aussieht und bis nach draußen nach Zimtschnecken riecht. Dort lese ich "The Reykjavik Grapevine", ein kostenloses englischsprachiges Magazin, das sich mit isländischer Kultur, Kunst, Musik, Kulinarik, Gesellschaft und eigentlich allen aktuellen Themen beschäftigt. Darin lerne ich, dass ich an einem Lammeintopf und an getrocknetem Fisch nicht vorbeikommen werde (und auch eigentlich gar nicht will). Nationalgerichte müssen ja probiert werden, egal, ob sie Fleisch oder was auch immer enthalten. So will es auch nach der Weltreise weiterhin das Reisegesetz. Kommt also auf meine Liste. Ansonsten entscheide ich, für die nächsten Tage keine der spannenden Touren zu Gletschern, der Fahrten mit Schneemobilen, der Schnorcheltrips zwischen tektonischen Platten zu buchen, sondern einfach anzukommen, zu sein, zu entspannen. Und natürlich zu essen. ☺️

    Ich werde, weil ich allein am Tisch sitze, von der Bedienung gefragt, ob ich auf jemanden warte, und dass ich mich sonst, falls ich Interesse hätte, auch an den "social table" setzen könne. Da seien Menschen, die Lust haben, zu quatschen, aber selbst keine*n Gesprächspartner*in. Was für eine schöne Idee, der Vereinsamung in Städten zu begegnen. Ich stelle fest, dass ich gerade zwar allein, aber keineswegs einsam bin und lehne dankend ab. Außerdem lausche ich gerade sehr gespannt einem Gespräch am Nachbartisch, offenbar von zwei Expats, denn sie unterhalten sich auf Englisch, in höchsten Tönen über die isländische Politik. Das inspiriert mich, darüber ein bisschen zu lesen.

    Gleichstellung ist hier allgemein ein großes Thema: seit Jahren ist Island Spitzenreiter im Global Gender Gap Report, das Parlament besteht zu fast 50% aus Frauen, die seit kürzlich nicht mehr amtierende Premierministerin Katrin Jakobsdottir war ganz herrlich links-grün-versifft, feministisch, progressiv und sehr beliebt in der Bevölkerung für ihre Politik, es gibt ein Gleichstellungsgesetz, das die Beweispflicht umkehrt: die arbeitgebende Seite muss nachweisen, dass gleiche Arbeit gleichen Lohn bedeutet.
    Ich bin jetzt schon verliebt in dieses Land (und habe nur mal ganz kurz die Deutsche Schule, bzw die DSD Schulen gegoogelt. Ganz kurz nur.) 🥰

    Nach dem Einchecken erhole ich mich vom Reisetag. Und erkunde das Spa. Es gibt neben schönen Saunen einen riesigen Outdoor Pool, der dampft und bei Nacht wohl, so wird mir gesagt, die entspannteste Möglichkeit sei, die Nordlichter auf sich herabrieseln zu lassen. We shall see. Heute nicht. Heute komme ich an und schlafe. Mit Oropax. Denn hier in Island muss mal wohl im Hotel explizit darum bitten, bei Nordlichtern nicht geweckt zu werden.

    Ein kleiner Abendspaziergang führt mich zur Kirche und durch die beschauliche Innenstadt, von der man aus fast allen Querstraßen nach links und rechts das Meer sehen kann. Ich suche mir ein paar Restaurants raus, in denen ich die regionale Küche ausprobieren möchte.

    Erkenntnis des ersten Tages:

    Ich liebe Menschen.

    Leitungswasser auf Reisen trinken können ohne Chlorgeschmack macht mal wieder richtig Freude.

    Gute Funktionskleidung ebenso - nicht eine Zelle an mir friert bei 2 Grad (#merinorules).

    Die Erdnussbutter für meine Bananen gibt es hier nur in ungeröstet. Doch kein Land, in dem ich leben möchte.

    Meine Liebe zu Skandinavien zieht mich seit 2004 immer wieder in den Norden und ich bin ganz verwundert, dass ich kein einziges Wort dieser Sprache verstehe. Ein eher ungewohntes Erlebnis und deshalb gleich spannend. Zeit, ein bisschen was zu lernen.

    Ein paar schöne Ausdrücke, die ich die nächsten Tage mal versuchen werde unterzubringen.

    1. „Þetta reddast!“
    Bedeutung: „Es wird sich schon richten“ / „Wird schon klappen“
    Ein echtes isländisches Lebensmotto – erinnert an das Kölsche Grundgesetz.

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    2. Rúntur
    Bedeutung: Die traditionelle nächtliche Autofahrt durch die Stadt – meist am Wochenende. Einfach rumfahren, Musik hören, Leute sehen. Durch Wiebke (und Laura Larsson im Podcast) habe ich gelernt und seitdem heißt das bei uns OKF (Orts-Kontroll-Fahrt). Aber Rúntur klingt irgendwie nach mehr Abenteuer.

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    3. Sólarfrí
    Bedeutung: „Sonnenfrei“ – ein freier Tag, den manche Schulen geben, wenn überraschend schönes Wetter ist. Weil gutes Wetter gefeiert werden muss! Ich liebs.

    Ich bin gerade bei Schnee erwacht. Also heute kein Sólarfri. 🤷‍♀️
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  • Day 2

    Kein Phallust

    March 24 in Iceland ⋅ 🌧 6 °C

    Seit meiner Kindheit schon komme ich nicht umhin, wenn ich aus dem Fenster schaue und es geschneit hat, in meinem Kopf das Lied "Es schneit, es schneit, kommt alle aus dem Haus" auf Endlosschleife laufen zu lassen. Es geht nur weg, wenn es von Rolf Zuckowskis "Winterkindern" abgelöst wird, und dann ist der Sprung auch nicht weit zu "Last Christmas" und "All I want for Christmas is you." Willkommen in meinem Hirn.
    Mein Tag beginnt also mit Schnee vor der Tür.

    Da die Energie eher gering ist nach dem gestrigen Reisetag - wahrscheinlich bin ich hart im Jetlag von der einen Stunde Zeitverschiebung, von der ich bis eben nichts wusste - beschließe ich, den Tag sehr entspannt angehen zu lassen.

    Beim Frühstück bin ich fast allein, nur am Nebentisch wird über große Lebensthemen diskutiert. Es ist wirklich spannend, was man so mitbekommt, wenn man nicht selbst in ein Gespräch vertieft ist. Ich fühle mich ständig, als würde ich Menschen belauschen, dabei kann ich einfach nur meine Ohren nicht schließen. Für die Zukunft wird mir das eine Lehre sein, weil ich ab jetzt nämlich vor Gesprächen mal kurz abscanne, wer in welcher Konstellation so um mich rum sitzt. 😅 Ich bin also gut unterhalten und nehme mir die nächsten Stunden im Spa - mit Oropax und Schlafmaske. Der Input hat erstmal gereicht.

    Am frühen Nachmittag mache ich mich bei leichtem Schneeregen auf ins Städtchen. Der plötzliche Temperaturabfall von +5 auf +1 Grad zaubert noch viel mehr der Skijacken-Hosen-Kombi auf die Straßen von Reykjavik und ich fühle mich, als wäre ich wieder die Letzte, die checkt, was gerade "in" ist.

    Regenwetter ist Museumswetter und mein innerer feministischer Kompass fällt die Entscheidung zwischen Nationalmuseum (zu anstrengend heute) und Phallus-Museum zielsicher für den sich selbst huldigenden Tempel des Patriachats: Die größte Ausstellung vermeintlicher Männlichkeit weltweit.

    Ein ganzes Museum - nebenbei das meist besuchte Islands - nur für Penisse.

    In der Schlange zur Kasse stehe ich hinter einer Busladung von geliehenen Skijacken-Hosen-Kombis und studiere den Flyer in meiner Hand.
    Ein Vorgeschmack auf die Exponate. Große, kleine, schrumpelige, in Glas gefräst, in Holz geschnitzte Penisse, aus Silber gegossen oder – ich schwöre – als Lampenfuß verarbeitet. Ich werde mehr Schwänze gesehen haben als ein Urologe kurz vor der Rente - oder als Gina Wild. Vielleicht.

    Ich frage mich: Würde es ein Vulvamuseum geben, wäre das dann Kultur oder obszöne Pornografie?
    Und: Bekommen die Penisse hier auch Equal Pay? Wo ist die Frauenquote?

    Natürlich gibt’s auch einen Penis vom Wal. Fast zwei Meter. Symbolisch? Sicher. Und eine Trophäe der toxischen Männlichkeit? Vielleicht. Ich bin gespannt und denke „Klar, Größe zählt – natürlich nur in Museen.“ Ich bekomme langsam Vorfreude. Mein Zynismus dreht auf Hochtouren auf. In meinem Kopf entspinnt sich die folgende Szene: Ich stehe vor dem gigantischen Wal Penis und höre, wie eine Stimme aus dem Off flüstert: „Ja Schatz, ihr seid ungefähr gleich bestückt…“

    Neben einer Gruppe kichernder Jugendlicher stehen auch in der Schlange ein paar sehr ernst dreinblickende ältere Männer, die die hängenden Bilder an der Wand neben uns studieren wie Reliquien.

    Es fühlt sich an, als würde ich Einlass in einen merkwürdigen Gottesdienst erbitten. Nur dass der Altar aus eingelegten Genitalien besteht und der heilige Gral wahrscheinlich Prostata-förmig ist.

    Ende vom Lied ist, dass die Zeitslots der nächsten Stunde leider ausgebucht sind und ich mein Glück wannanders probieren muss.

    Also streife ich, ziemlich enttäuscht, durch den Hafen, wo ich mir im TIDES Restaurant wenigstens noch einen Tisch für den übernächsten Abend reserviert bekomme. Das hatte ich mir im Vorfeld rausgesucht.

    Die nächsten Stunden verbringe ich ob des wirklich kalten Schneeregens gepaart mit unangenehmem Wind in der Stadtbibliothek und lese am Fenster, bis der Himmel wieder aufklart.

    Zum Mittag zieht es mich dann ins Forrettabarinn, ein isländisches Vorspeisen-Restaurant, in dem man sich, wie in einer Tapasbar eigentlich, durch mehrere kleine Portionen schnabbulieren kann. Da es Nachmittag ist, ist nicht viel los. Normalerweise sitze ich, wenn ich allein Restaurants besuche, auch gerne mal an der Theke und schaue dem arbeitssamen Treiben zu. Danach ist mir aber heute nicht.
    Mir fällt auf, dass ich bis zu meinem Gespräch mit der Bedienung noch kein einziges Wort gesprochen habe. Und es ist 16 Uhr. Was ich alles kann!!? Ganz neue Fähigkeiten werden hier freigeschaltet.

    Ich probiere die Tagesempfehlungen: isländische Ente mit Datteln und Lakritssoße und das gegrillte Island-Pferdefilet. Beides ein Gedicht. Dazu wird mir ein Malzgetränk empfohlen. Übrigens isst man in meiner Heimat im Bergischen traditionell auch Pferdefleisch, ich bin damit aufgewachsen und habe früh gelernt, dass es nicht nur besonders mager, eisen- und proteinreich, cholisterinarm ist sondern auch, ähnlich wie Wildfleisch, nicht zum Essen gezüchtet wird.

    Auf dem Weg zurück buche ich mir in einer der zahlreichen Agenturen einen Ausflug zu den Nordlichtern für die nächste Nacht. Denn aktuell ist die Sonnenaktivität sehr hoch - der KP Index liegt bei 6 von 9, was schon eine Garantie darstellt - die Bedingungen allerdings durch die recht dichte Wolkendecke nur so semi. Da die Tourismusbranche aber hauptsächlich auf diesem Kassenschlager beruht, wird schon viel dafür getan, auch weniger optimale Bedingungen auszunutzen. So gibt es wohl sehr genaue Möglichkeiten, Risse in der Wolkendecke vorherzusagen, wo die Reisebusse dann hindüsen und hoffen, dass der Wetterbericht auch stimmte. Ich buche einen Ausflug in einem 4x4 Jeep mit nur 6 Plätzen, habe keine Lust auf so viele Menschen und mir wird gesagt, dass die Busse an einem Ort verharren während der Jeep die Möglichkeit hat, auch über vereistes Gebiet auch in dunklere Bereiche vorzudringen. Why also not. Schließlich bin ich ja genau dafür hier. Sollte es doch nichts werden, würde ich in dieser Tour auch so lange wieder mitgenommen werden, bis es dann endlich klappt. Zur Not auch in 5 Jahren noch.

    Glücklich schlendere ich heim, esse Skyr mit Schokolade (oder wohl eher Schokolade mit Skyr) zu Abend und falle früh ins Bett.

    Meine Lektüre ist übrigens Jules Vernes - Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Darüber wurde ich im ersten Staatsexamen in der Science Fiction Literatur unter anderem geprüft. Die drei Protagonisten entdecken einen Zugang zum Erdinneren über den Vulkan Snæffelsjökull, gleich hier uns Eck am der Westküste. Eine Empfehlung.

    Morgen erkunde ich ein anderes Schwimmbad, wo die Lokals hingehen. Mit Thermalwasser. Und Saunen und Whirlpools. Und Entspannung.
    Ach ja...apopos Thermalwasser: Ich schwärmte ja gestern noch vom isländischen Leitungswasser, das als eines der reinsten der Welt gilt... Das stimmt wohl auch, aber als ich in der Tour-Agentur aus meiner Flasche trank, fragte mich der Guide, ob mir der faulige Geruch nicht auffalle und ob ich wirklich darauf geachtet habe, dass das Wasser auf ganz kalt gedreht gewesen war. Äh...natürlich nicht, antworte ich. Es gibt wohl zwei Wassersysteme. Das warme kommt aus den geothermalen Quellen und sollte eher nicht getrunken werden, zumindest nicht regelmäßig. Es macht nicht direkt krank, aber nein. Immerhin erreicht mich diese Info an Tag 2.
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  • Day 3

    Mein Name als Superheldin? Bettmen(sch)

    March 25 in Iceland ⋅ ☁️ 7 °C

    Ein ruhiger Tag heute, denn ich möchte all meine Energie für den Ausflug zu den Nordlichtern bereithalten weshalb ich viel Zeit im Bett verbringe.
    Deshalb mache ich lediglich einen kleinen Morgen-Spaziergang, gehe vor die Tür zum Ufer und lasse mir den ziemlich kalten Wind durch Kopf und Herz pusten. "Lüften" für Fortgeschrittene quasi.

    In einem öffentlichen Schwimmbad hänge ich ein bisschen ab, besuche hauptsächlich die Außenpools, die auch alle nach faulen Eiern riechen, Thermalwasser eben, aber bestimmt gesund sind. Um mich rum wird ausschließlich isländisch gesprochen, was so unglaublich wohltuend ist und sich anfühlt, als würde ich klassische Musik hören. Nicht, weil die Sprache so melodisch wäre, sondern weil ich kein Wort verstehe, nicht mal ausversehen, und mein Hirn entspannen kann. Die Saunen spare ich mir heute, da ich die letzte Nacht doch ziemlich geschwitzt und gleichzeitig gefroren habe. Kein Risiko, alles für die Nordlichter!

    Nach dieser kleinen kurzen Erholung und erfreulichen Ereignislosigkeit schlendere ich noch ein wenig umher und erhalte dann erst die Mail und dann den Anruf, dass die Nordlicher Tour leider aufgrund der zu dichten Wolkendecke abgesagt werden müsse. Die Lichter seien aber da. Allein diese Info zaubert mir einen Kloß in den Hals, ein Lächeln ins Gesicht und die Hoffnung ins Herz, sie ja ganz vielleicht durch einen klitzekleinen Spalt in der Wolkendecke zu sehen. Und auch wenn nicht, ist allein das Wissen darum schon schön. Ich schlafe heute Nacht unter Nordlichtern.

    So gehe ich am Abend noch eine Runde raus, obwohl meinem Kopf klar ist, dass die Lichtverschmutzung viel zu groß wäre, selbst wenn der Himmel einen kleinen Blick durchlassen würde. Aber da ich ein Glückskind bin, will ich es wenigstens probiert haben. Meine Belohnung ist der hübsche Anblick der Kirche bei Nacht. Direkt davor steht ein Denkmal, das eine so praktisch abgeschrägte Platform hat, auf der man sich im perfekten Winkel darauflegen und mühelos ohne den Kopf zu heben die Kirche und den Himmel im Blick hat. Wunderbar.

    Allein dieser Moment war den Ausflug wert. Manchmal bekommt man vielleicht nicht das, was man erhofft, aber wenn man offen für alternative Wunder ist, werden diese einen stattdessen finden.

    Der Vorhang am Fenster bleibt vorsichtshalber offen heute Nacht. Man weiß ja nie...
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  • Day 4

    Wer kämpft, kann gewinnen

    March 26 in Iceland ⋅ 🌬 4 °C

    Wenn ich ein Flugzeug besteige, was im letzten Jahr sehr oft passiert ist, freue ich mich jedes Mal, wenn die Ansage aus dem Cockpit kommt, und es eine Frauenstimme ist. Einfach weil es noch immer so selten ist. Auf einem einzigen der 15 Flüge des Reisejahres hatten wir eine weibliche Co-Pilotin. Ganz schön schwache Quote.

    Der Film, den ich mir für heute im Kino rausgesucht habe, behandelt diese Wahrheit. Er dokumentiert ein Ereignis in der isländischen Geschichte von 1975, in dem 99% der isländischen Frauen für einen Tag die Arbeit niederlegten - undzwar nicht nur die bezahlte Arbeit, wenn sie überhaupt welcher nachgehen durften, sondern auch die unbezahlte Care Arbeit zu Hause.

    Ich stehe in der Schlage. Es riecht schon herrlich nach Popcorn und vor mir plappern vier Frauen, die ich alle auf Ü70 schätze wild durcheinander. Ich sehe, wie sie sich Tickets für denselben Film kaufen, den ich auch gleich schauen werde und ich frage mich, was sie wohl damit verbinden mögen. Sie alle werden den Tag bewusst miterlebt haben. Ich habe die leise Hoffnung, vielleicht im Anschluss mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

    An der Popcorn Theke fragt mich die Bedienung, welche Größe ich gern hätte. Ich antworte "My head says small but my heart says large. Which one should I listen to?" Sie schaut mich an. Und stellt mir eine kleine Tüte vor die Nase. Als ich grade so richtig schön enttäuscht sein will, legt sie obendrauf ein kleines Schokoladen-Toffee und sagt "It's important to listen to both. This is my compromise. What do you think?" Ich strahle sie an und sage "Perfect solution" und verschwinde in den halb gefüllten Kinosaal.

    Der Film beginnt mit einem Zitat aus dem Off: "No you cannot be the captain of a ship". "Why Not?" "Because you're a girl."

    Er zeigt starke Frauen, alle mittlerweile über 70, die am 24.10.1975 in ihren 20ern waren. Frauen, die in diesem Alter den Mut aufgebracht haben, nicht nur gegen die Selbstverständlichkeit ihrer Ehemänner, Väter, ja sogar Söhne aufzubegehren. Sondern gegen ein ganzes System. Die Organisation dieses Protests zur damaligen Zeit und der unbedingte Wille nach struktureller Veränderung stehen im Fokus des Films. Immer wieder gibt es O-Töne der Frauen. Eine sagt, sie wollte immer arbeiten, aber ihr Manne habe sie nicht gelassen. Und dann, voller Scham, sagt sie, sie sei teilweise so erschöpft gewesen vom ganzen Haushalt und der Care Arbeit, und wäre gern mal für 3 Monate mit einem Buch ins Gefängnis eingesperrt gewesen, einfach um mal was nur für sich zu machen. Ich bin beeindruckt und bewegt.

    Ich erinnere mich an meine Studienzeit, in der kurz nach meinem Studienbeginn an der Uni Köln die Studiengebühren eingeführt wurden. Ich trat sofort in die Fachschaft Englisch ein und half bei der Organisation der Großdemo im "Summer of Resistance" in dem ich mir meine ersten beiden Anzeigen wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" und "Landfriedensbruch" einhandelte. Beide Vorwürfe wurden mit anwaltlicher Hilfe eingestellt und mit dem Stolz meiner Mutter auf ihre politisch engagierte Tochter belohnt.

    In diesen Frauen sehe ich das schlimmste, was man im Leben haben kann, nämlich keine Wahl. Kein eigenes Nein, kein echtes Ja – nur Struktur, die entscheidet, bevor man es selbst entscheiden kann. Diskriminierung, die dich nicht anschreit, sondern die sich leise in Lebensläufe schleicht. Das scheint mir das furchtbarste Gefängnis. Weil die Mauern unsichtbar sind.

    Ich fühlte mich mit diesen Frauen direkt verbunden im Kampf gegen ein diskriminierendes System.

    Für viele Männer gab es an diesem einen Tag so viele erste Male, wie in ihrem vorherigen und darauffolgenden Leben zusammen wahrscheinlich nicht. Kochen, Kinder versorgen, Wäsche waschen, einkaufen, Windeln wechseln. Männer nannten diesen Tag rückblickend "den langen Freitag", weil sie feststellten, wie lang so ein Tag zu Hause sein kann.

    99 Prozent der Frauen beteiligten sich (99%!!!) an dem Protest, den die Männer ihnen verboten, Streik zu nennen. Stattdessen hieß er "Freier Freitag - Friday Off". Streik klänge ja so, als könnte die Frauen etwas bestimmen. Das gesamte Land war lahmgelegt.
    Beim Schreiben merke ich, wie sehr mich das anrührt. Menschen, die aufbegehren gegen ein Unrecht, selbst wenn es Ihnen selbst nicht nutzt. Aber ihren Töchtern und Enkelinnen vielleicht helfen wird. Die Mühlen der Veränderung mahlen ja bekanntlich langsam.

    Von den Männern, so erzählen sie, kam gröstenteils Hohn. Sie machten sich lustig. Und verstanden und verstehen bis heute oftmals nicht: Feminismus ist kein Angriff. Es ist Angebot, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Mit dem Vorteil, eine Verbindung zu knüpfen, die auf Wahrhaftigkeit und nicht auf Hierarchie und Abhängigkeit beruht. Die dadurch erst Raum gibt für eine echte Begegnung. Nicht, weil man muss. Sondern weil man kann. Und aus freien Stücken will.
    Männer übersehen meines Erachtens oftmals genau das, den großen Gewinn für sie selbst. Jeder Mann, der in einem patriachalen System lebt und liebt, kann sich nie sicher sein, ob er für das was er tut oder für das was er ist gesehen wird. Und ist es nicht das schönste und tiefste Gefühl von Verbindung zu wissen, dass jemand nicht etwas von dir, sondern dich will?
    Adele sang es passend: "Everybody wants something from me, you just want me."

    Am Ende gibt es eine Rückblende auf eine der Frauen. Sie ist jetzt nicht mehr nur eine Stimme, man sieht ihr Gesicht. Es geht ein Raunen durch den Kinosaal - sie scheint bekannt zu sein. Die Frau wiederholt ihren Satz:
    "No you cannot be the captain of a ship". Das wurde ihr als Mädchen gesagt. Als sie fragte, warum nicht, war die Antwort "because you're a girl".
    Im nächsten Bild sieht man sie als erste demokratisch gewählte Präsidentin Islands 1980 auf den Balkon heraustreten.

    Ihre Töchter sind im Interview, stolz erzählen sie von ihrer Mutter. Wie sie für sie aufgestanden ist an diesem Tag im Oktober 1975. Die eine Tochter antwortet, als sie nach ihrem Beruf gefragt wird: "They said my mother could never be the captain of a ship. So I became the captain of an airplane. To proof them wrong." Iceland Air hat weltweit die größte Quote an Pilotinnen.

    Ich bleibe bis weit nach dem Abspann im dunklen Saal sitzen, tief bewegt. Viele der Aussagen laufen durch meinen Kopf. Ich bin dankbar für all die Frauen, die auch für meine Freiheit auf die Straße gegangen sind, aufgestanden sind, ihr Leben gelassen haben. Damit ich heute selbst ein eigenständiges, selbstbestimmtes freies Leben führen kann. Lieben kann, wen ich will. Arbeiten kann, als was ich will.

    Als ich aus dem Saal rauskomme, sitzen die vier Frauen auf den Sofas vor dem Saal. Die eine beendet sichtlich bewegt gerade ein Videotelefonat mit ihrer Tochter. Ich bleibe stehen und sage "Ok, I am ready to protest now. Where are we going?." Alle lachen. Wir kommen ins Gespräch und ich frage, wie sie diesen Tag damals erlebt haben, mit welcher Emotion sie morgens aufgestanden sind. Ob es Angst war. Sie überlegen keine Sekunde und sagen alle "Nooooo, we were excited. And so ready to show our worth to the world." Ich denke an das Zitat von Victor Hugo "Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist." Sie erzählen ein bisschen, wie überfordert und wütend ihre Väter waren. Und wie sehr auch heute noch ihre damals 6-10 jährigen Kinder sich an diesen Tag erinnern. Und wie sehr dieser Tag das gesamte Verhältnis, das gesamte System Familie erschüttert hat. Eine sagt "They should be happy we just want equality - and not revenge!" Und auch wenn sich gesellschaftlich nur langsam Dinge ändern, in diesen Familien hat die nächste Generation eine Lektion gelernt: dass man gewinnen kann, wenn man um etwas kämpft.

    Island ist heute eines der besten Länder der Welt, um eine Frau zu sein. Es ist sicher, es zahlt fair aber vor schätzt es seine Frauen wert. Und diese Denke, dieser Grundsatz ist so tief in den Fasern und Zellen der Menschen verwoben, dass es eine wunderschöne Selbstverständlichkeit angenommen hat. Die man auf den Straßen, in den Menschen spüren kann. Sie gehört zur isländischen Natur, wie die Gletscher, Vulkane und heißen Quellen.

    Nach diesem Film bin ich so erschöpft, dass ich es weder noch ins Museum, noch zu meinem reservierten Abendessen schaffe und auf direktem Wege ins Bett falle. Mit dem Gedanken, ruhig schlafen zu können, weil ich morgen als Frau in diesem Land aufwachen werde, schlafe ich ein.

    PS: Die Nordlichter Tour wurde ein weiteres Mal verschoben.
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  • Day 5

    Wie riecht ein Island?

    March 27 in Iceland ⋅ 🌧 3 °C

    Ein Hauch von Vanille und ich bin wieder sechs Jahre alt, in Omas Küche, während sie mit ihrer geblümten Schürze umgebunden ein altes Lied summt und der Pudding im dunkelblauen verbeulten Emaille-Topf auf dem Herd blubbert.
    Sommerregen auf Asphalt und ich düse barfuß und frei unseren Berg mit dem Fahrrad runter, während die Regentropfen mir in Augen und offenen Mund platschen.
    Gerüche machen mich zu einer Zeitreisenden.
    Ein einzelnes Aroma genügt, noch so vage, und mein Herz schlägt schneller, mein Geist wird still, oder tanzt, oder weint.

    Ich bin großer Fan vom Geruchssinn. Oft unterschätzt, ist er meist der erste, der unter allen Sinnen bei der Frage, auf welchen man am ehesten verzichten würde, aussortiert wird. Deshalb möchte ich hier eine Lanze für ihn brechen.

    Er ist ein stiller Chronist unseres Lebens, begleitet uns vom ersten Atemzug an, lange bevor wir bewusst sehen können oder Worte formulieren schmiegt sich unsere Umwelt über Gerüche in unser Leben. Und wenn die Augen trübe wird, die Ohren immer mehr Töne verlieren, die Haut dünner und die Hände zittriger werden, bleibt der Geruch. Demente Patient*innen mögen vieles, irgendwann ihren eigenen Namen vergessen. Gerüche, insbesondere Kaffee oder Lavendel zum Beispiel aber bleiben auch in einem sich selbst vergessenden Gehirn noch lange da und tragen die Kraft, Emotionen zu erzeugen.

    Kein Sinn ist enger mit dem limbischen System verknüpft, mit Erinnerungen, Emotion, Intuition, ohne Umweg über den Thalamus, mit direkter Verbindung zu Amygdala und Hippocampus. Er ist der absolute Wahnsinn.
    Von allen Sinnen mag er der leiseste sein, im Hintergrund. Doch ohne ihn schmeckt das Leben schal, verliert an Tiefe, an Genuss. Er braucht keine Bilder, keine Töne, keine Berührung, um zu berühren.

    Meiner Begeisterung ging ich im Studium in einem meiner zahlreichen Nebenjobs nach. Ein Jahr lang arbeitete ich im Douglas Flagshipstore auf der Ehrenstraße und sog buchstäblich alles auf, was mir die Duftberater*innen beibrachten. Ich merkte, wie sich nach einiger Zeit mein Geruchssinn verfeinerte. Wie ich Essen anders schmeckte, wie ich sensibler wurde für Umgebungen, und wie ich ein Gespür und ein großes Interesse daran entwickelte, wie Menschen riechen. Für welche Gerüche sie sich an sich selbst entscheiden. Mit was sie sich umgeben.

    Mit einer der Duftberaterinnen, sie hieß Enissa Amani, unterhielt ich mich mal über dieses Thema und dass ich mich fragte, welcher Duft mich wohl durch mein Leben begleite. Sie fragte mich nach den Produkten, die ich bereits seit vielen Jahren benutzte. Ich erzählte von meiner Handcreme, der Duftkerze auf meinem Nachttisch und meinem ersten und immernoch liebsten Parfum. Sie recherchierte ein wenig und fand heraus, dass all meine Produkte in ihrer Unterschiedlichkeit eine Gemeinsamkeit teilten: sie enthielten alle eine Komponente, die mit Holz, hauptsächlich Zeder, zu tun hatten. Ich war beeindruckt, denn meine tiefe Verbundenheit zum Wald spiegelte sich scheinbar sogar unterbewusst in der Wahl der sich mir sehr intim, an meinen Händen, auf meinem Hals, und beim Zubettgehen, umgebenden Gerüche wieder.

    Ich bin also mittlerweile bewusster im Umgang mit Gerüchen in meiner Welt, weil ich ihre Kraft kenne. Mit ihnen erzeuge ich Emotionen, hole mir Erinnerungen hoch oder schenke mir Stärke, Entspannung, Inspiration. Piet trägt auf Reisen immer Wiebkes Parfum -- oder ich nehme gleich ein getragenes T-Shirt mit. Und seither habe ich bei fast allen Menschen ein Parfum im Kopf, das ich mir an ihnen vorstelle.

    Sogar Länder haben einen Geruch. Das stelle ich jedes Mal in Spanien -oder auf der Reise auch in Chile- fest.
    In Island verbinden sich seit meiner Ankunft verschiedene Komponenten zu einem Geruchsbild. Allgegenwärtig ist, durch die geothermalen Quellen, die leise Note von Schwefel. Sie steckt im warmen Wasser und ist nicht so unangenehm, wie man meinen mag, weil sie für mich mit Entspannung in Thermalwasser oder einer heißen Dusche nach einem kalten Spaziergang vor dem Zubettgehen verbunden ist. Außerdem ist da durch die Küstennähe etwas, nicht direkt Fischiges aber Salzig-algiges. Auch hängt in der Stadt immer ein bisschen Pylsa, das isländische Hotdog, von den vielen Streetfood Ständen in der Luft. Irrwitzigerweise, und das kenne ich aus meinen Besuchen bei Freja in Kopenhagen damals, ist es sowohl dort als auch in Island Nationalgericht. Hier allerdings aus pulled lamb. Dazu wabert auch immer mal wieder ein leichte Note Kardamom umher, von dem Gebäck Kleinur, einer Art Teigkrapfen.

    Ich bin sehr gespannt, welche Gerüche dieses Land noch bereithält, wenn ich die Stadt verlasse und ein bisschen weiter in die Natur vordringe.

    So lange spiele ich das Gedankenspiel, welchen Sinn ich hergeben würde, wenn ich müsste. Ich weiß nicht, ob ich darauf jemals eine Antwort finde, bevor mir das Alter diese Frage abnimmt. Aber mir wird immer deutlicher klar: Meinen Geruchssinn gebe ich nicht freiwillig her. Auch nicht im Gedankenspiel.
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  • Day 5

    Happy 40 Henning

    March 27 in Iceland ⋅ ☁️ 5 °C

    Henning wird 40 am Wochenende -- und hat Angst. Vor was genau, will ich gerne wissen. Das wisse er selbst nicht. Einfach vor der Zahl. Fast schon aus Verzweiflung feiert er eine riesen Party, an der ich leider nicht teilnehmen kann, weil ich schon 40 bin und beschlossen habe, dass das ein guter Zeitpunkt ist, Herzensprojekte in die Tat umzusetzen.

    Ich will ihm, und seiner 40 eine warme Mutmach-Dusche schenken - undzwar eine, die sich gewaschen hat - und ich überlege. Was kann die 40 so, was bisher noch keine andere Zahl konnte.

    Am ersten Runden Geburtstag, mit 10 Jahren, hatte man keine Zeit und keine Mittel. Alles war viel zu schnell vorbei, weil man überhaupt nicht einschätzen konnte, wie Zeit vergeht. Was bedeutet, "in zwei Stunden gehts in Bett!"? Schwupps, einmal kurz Seilchen springen, schon waren sie um. Mittel hatte man auch keine. Überall Werbung mit tollem Spielzeug, aber immer war man die Gunst von irgendwem Erwachsenen angewiesen, wenn man Glück hatte, wurde man bestochen für gute Noten oder von Oma mit einem 5 Mark Stück, einem Augenzwinkern und einem "sag's nicht Mama" verwöhnt.

    Beim zweiten runden Geburtstag dann, mit 20, hatte man jede Menge Zeit, aber keine Mittel. Weil man in einem Studium, zudem man so semi regelmäßig auch hinging, darauf hoffte, dass sich die ganze Arbeit lohnt und man in der Zukunft dann wenigstens was davon hat. Zum Beispiel Geld. (Zufriedenheit war damals noch nicht so hoch im Kurs und eher zweitrangig erinnere ich mich...) Morgens mal lange schlafen, erst zum Mittag in die Uni. Auch daran erinnere ich mich. Geld blieb nur wenig übrig, neben dem unbedingten Wunsch von Unabhängigkeit, also Auszug von zu Hause und feiern gehen am Wochenende.

    Die 30 wendeten das Blatt. Berufseinstieg, und das erste Gehalt landete auf dem Konto, das man mit den recht bescheidenen Ansprüchen aus dem Studium gar nicht so schnell ausgeben konnte, bis schon der nächste Monat mit der Nachfüllung kam. Die Zahlen wuchsen auf dem Konto, nur die Zeit wurde weniger. Unter der Woche noch etwas unternehmen, nach einem Arbeitstag, kaum noch machbar energietechnisch. Jetzt hatte man das Geld für Essengehen, Reisen und das neue E-Piano, aber keine Zeit mehr dafür.

    Und nun kommt die 40. Endlich. Was für ein Segen. Denn nun hat man alles. Einen Job, in dem man Fuß gefasst hat, man weiß, wie der Hase läuft -- und wo er sich auch mal ausruhen kann. Und man hat auch genug Zeit, weil man in den 30ern verstanden hat, dass sie kostbar ist und unbedingt geschützt werden muss. Mit Grenzen, die man setzt, Prioritäten, die man bestimmt und Gesundheit, die man aktiv erhalten möchte. Man hat sich Zeit und Mittel erarbeitet und das erste Mal im Leben beides. Man kann aus dem Vollen schöpfen. Man kennt seinen Körper, kann ihn auf allen Wegen schätzen und genießen. Man kennt seinen Geist, weiß, was er kann -- und was er nicht kann, und man ist damit okay. Oder verdrängt den Rest. Man muss niemandem mehr etwas beweisen, nicht mal sich selbst, und kann sich einfach entspannen.
    Ist das nicht herrlich?

    Also wenn du zuruckblickst, und an einer dieser Abschnitte hängenbleibst, gestehe dir die Nostalgie zu, aber versuche, nicht wehmütig zu werden. Alles hat seine Zeit.

    Und so geht es einfach weiter,
    Nie zurück und nur nach vorn.
    Einmal noch ganz heimlich rauchen,
    Spicken, knutschen, Apfelkorn!

    Aber weißt du, was das Gute
    An der ganzen Scheiße ist?
    Du kannst machen, was du willst,
    Gerade weil du 40 bist!

    Keiner kann dir was verbieten,
    Du bist hier und jetzt und frei.
    Und wenn du willst dann hast du
    Auch immer noch Spaß dabei.

    (Guck dir mal das Metrum
    Meiner letzten Strophe an!
    Das hab ich ganz schön versemmelt.
    Und warum? Weil ich es kann!!!
    Und jetzt noch nen extra Vers,
    Einfach so, mal mittendrin,
    Ja das darf ich
    Geht ganz einfach
    Weil ich ja schon 40 bin!)

    Was ich dir sagen will ist:
    Du hast alles zu gewinnen!
    Und wenn du willst dann kannst du
    Auch nochmal von vorn beginnen!

    Doch nur eine kleine Sache
    Will ich die du dir versprichst:
    Dass du in dem neuen Jahr jetzt
    Etwas besser zu dir bist.

    Art Deko, und sporteln, singen,
    Bleib bei dem, was du so liebst.
    Ich bin dankbar, dich zu kennen,
    Es ist schön, dass es dich gibt.

    Henning, wenn du dich so anschaust
    Siehst du hoffentlich gut hin.
    Denn dann siehst du, dass du toll bist
    Für die Welt ein Hauptgewinn.
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  • Day 5

    Das Wesentliche ist unsichtbar

    March 27 in Iceland ⋅ ☁️ 2 °C

    Nachdem es gestern keine Nordlichter gab, obwohl ich mich extra den ganzen Tag so sehr geschont hatte (Frechheit!), beschließe ich, heute den Tag ein wenig aktiver anzugehen.

    Die Kirche ist endlich geöffnet und ich nehme den Fahrstuhl bis ganz nach oben. Dabei werden Erinnerungen wach zu dem Jahr, in dem ich fast jeden Dienstag den Kölner Dom bestieg und meine Zeit jedes Mal verbesserte. Oben angekommen, freute ich mich schon auf den Abstieg, weil dann meine Beine immer so lustig zitterten, worüber ich mich schon auf der Hälfte kaputtlachte.
    Heute nicht mehr vorstellbar. Heute stehe ich, gerade aus dem Aufzug raus, vor einer Treppe mit nur 4 Stockwerken in den Turm hinauf und wäge ab, ob ich nicht gleich wieder runterfahre.
    Aber da meiner Einschätzung nach heute nicht mehr viel Körperliches passieren wird, genehmige ich mir die Höhenmeter und werde mit einem wunderschönen Blick über Reykjavik und die "Sneeeeeberge!!!" belohnt.
    Als ich wieder unten bin, geht in der Kirche bald die Orgelmeditation los, auf die ich mich schon seit ein paar Tagen freue. Seit dem Konzert von Enno Bunger in der Kulturkirche bin ich daran erinnert, wie leise und auch gleichzeitig kraftvoll sich eine Orgel anhören kann. Ich sitze einfach da, auf wunderschön mintgrün gepolsterten Bänken, mit Oropax allerdings, schließe die Augen und lausche dem Konzert.

    Im Anschluss miete ich mir einen E-Scooter und düse zum Nationalmuseum, um mir mal ein bisschen die Isländische Geschichte anzuschauen. In Köln schäme ich mich immer, wenn ich einen solchen E-Scooter benutze. Schließlich bin ich überzeugte Radfahrerin. Der Scooter hat für mich immer was mit Faulheit, Bequemlichkeit zu tun, kein Bock, selber zu treten. Aber mittlerweile bin ich einfach nur froh, dass es sie gibt und sie meinen Radius erweitern.

    Im Museum lade ich mir den Audioguide runter und suche mir die Exponate raus, die ich gern sehen möchte. Sie zu finden soll mein größtes Problem werden, denn sie sind komplett wild verstreut. Ich erkenne, außer der Chronologie keine andere -logie in dieser Ausstellung und frage ein bisschen orientierungslos eine Mitarbeiterin. Die erklärt mir fast entschuldigend, dass man hier ein bisschen Zickzack laufen müsse. Aber dann sei es ganz logisch. Nicht für mein Hirn, sorry. Also setze ich mich einfach mitten in der Ausstellung neben ein Wikingerschiff und höre mir den Audioguide an. Immerhin mit schönem Ausblick.
    Mir ist ein bisschen unbegreiflich, wie man es mit so viel spannender Geschichte und so beeindruckenden Exponaten in einem Nationalmuseum verkacken kann, jemanden einzustellen, der das würdevoll in Szene setzt. Aber gut. Mein Besuch erschöpft mich sehr und ist nach einer knappen Stunde wieder beendet. Was hängen bleibt ist dies:

    - 870 kommt Wiki, äh, die Wikinger nach Island und holzen in kürzester Zeit alle Birkenwälder ab, die die Insel zuvor zu 40% bedeckten. Da die Böden so empfindlich sind, ist bis heute Wiederwaldung fast nicht möglich.
    Ein isländisches Sprichwort nimmt es mit Humor: Wenn du dich in einem isländischen Wald verirrst, steh einfach auf! (Die meisten Bäume sind bisher noch nicht größer als hüfthoch)

    - Streitigkeiten wurden hier im Mittelalter entweder mit Duellen oder mit Gedichten ausgetragen. Quasi der Vorläufer des Poetry Slams. "Wählt eure Waffen: Schwert oder Stift".

    - häufigste Todesursache im 18. Jhd. direkt nach Seuchen: Vulkanausbrüche

    - ein Vulkanausbruch 1783 kühlte das Klima in ganz Europa an -- und trug so zur Französischen Revolution bei

    - Island war ständig besetzt von Dänen oder Norwegern, im zweiten Weltkrieg dann von Großbritannien, dann von den USA. Das Unabhängigkeitsfest feiern die Isländer*innen 1944 bei strömendem Regen mit einem Lachsfest

    - Island hat kein Militär und extrem niedrige Kriminalität

    Nach dem Museumsbesuch bekomme ich die Mail, dass die Nordlichter heute wohl zu sehen sein werden! Das ärgert mich ein bisschen, weil mein Tag eigentlich gerade energiemäsig vorüber ist. Der Schwindel ist da. Also versuche ich, mich noch ein paar Stunden auszuruhen, bevor es um 21 Uhr losgeht. Ich werde eingesammelt von einem monströsen Jeep und bin die letzte der 9er Gruppe, die sonst nur aus Paaren besteht. So ist mein Einzelplatz vorne beim Fahrer Dimitri noch frei.

    Er beginnt direkt ein Gespräch und ich merke, dass ich so gar nicht in der Laune bin, zu quatschen. Was mich selbst ein bisschen verwundert, immerhin habe ich seit 6 Tagen nur sehr wenig überhaupt gesprochen.
    Ich überlege, während er plappert und erzählt, wie ich ihm beibringe, dass mich das alles nicht interessiert. Viele Gedanken schießen durch meinen Kopf von "Oh man, ich will ihm nicht vor den Kopf stoßen" bis "Was wenn er dann angepisst ist, immerhin haben wir noch 5 Stunden zusammen". Ich lege mir mühsam einen Satz zurecht und nehme meinen Mut zusammen. Freundlich teile ich ihn mit, dass ich ein bisschen erschöpft bin, jetzt ein bisschen entspannen möchte, und dass das für mich gerade besser mit Musik geht. Er reagiert zum Glück entspannt. Was mich wiederum entspannt. So kann ich abschalten und die Fahrt durch die Nacht in diesem absurden Gefährt mit viel Vorfreude genießen. Eine gute Erfahrung, für mich aufgestanden zu sein.

    Je weiter wir die Stadt hinter uns lassen, umso dunkler wird es. Die Sternen kommen raus. Und sehr deutlich zeigen sich Mars, der mitten im Sternbild Zwilling steht, und der leuchtend helle Jupiter. Ich erkenne sofort den großen Wagen, der hier fast ganz oben am Himmel steht. Außerdem ist das komplette Sterbild Löwe sichtbar. Wir rumpeln über immer kleinere Straßen, bis es irgendwann nur noch Feldwege sind, die dann irgendwann auch keine Wege mehr sind. Mitten im Nirgendwo kommen wir zum Stehen. Die Gruppe hat sich während der Fahrt wohl ganz nett verbunden. Normalerweise weiß ich, dass ich bei so etwas immer mittendrin wäre, aber heute bin ich froh, mich mit meinem Handtuch in die Dunkelheit zu verkrümeln und mich abseits auf den frostigen Boden zu legen und einfach nur in den schönen Nachthimmel zu schauen. Ein kurzer Gedanke, ob die andere mich wohl komisch finden, ploppt auf. Ich lasse ihn gehen. Es ist mir befreiend egal. Ich bin kurz verwundert über diese Seite an mir, die ich so tatsächlich noch gar nicht kenne. Aber irgendwas an ihr gefällt mir.

    Seit Beginn der Reise stelle ich nämlich fest, dass ich mir ganz gute Gesellschaft bin. Und immer weniger Lust habe, mit Menschen in Kontakt zu kommen, wenn ich nicht muss. Es ist jetzt auch nicht so, dass ich ständig lesen, Musik oder Podcasts hören würde. Am liebsten sitze oder liege ich einfach irgendwo und gucke durch die Gegend. Ich habe das Gefühl, dass endlich all die Gedanken der letzten Jahre mal ausgedacht, weggedacht werden können. Und damit bin ich sehr gut unterhalten. Nichts dreht sich, es fließt eher durch mich durch. Manche Bilder halte ich kurz fest und verliere mich darin, manche erzeugen Emotionen, manche schiebe ich weiter. Aber alles in einer ganz ungewohnten Ruhe, was mir ein wohliges Gefühl gibt. Ich bin ganz überrascht und frage mich, was ich denn die letzten Jahre so anders gemacht habe und vor allem warum.

    Eine ganze Weile liege ich so rum, erinnere mich an die wunderschönen Abende in Kanada und Neuseeland unter klaren Sternenhimmeln, an mein Lateinstudium, in dem ich vor allem meine Liebe zur griechischen Mythologie entdeckte, die Geschichte von Orion und die sieben Schwestern, das Sternbild der Pleiaden, den Skorpion, der nie zeitgleich am Himmel ist, weil er Orion töten soll und von Zeus daher vorsorglich gegenüber positioniert wurde. So viele Geschichten. Und wie weit ich wohl gerade in die Vergangenheit schaue, während meine Augen ein Licht einfangen, dass vor so langer Zeit los geflogen ist, dass es selbst vielleicht schon erloschen ist.

    Meine Gedanken werden unterbrochen von dem Guide des zweiten Jeeps, der sagt "Da kommen sie!". Ich schaue auf, sehe nur eine ganz leichte Wolke die leicht blass schimmert. Es sieht eher aus wie in einem meiner liebsten Weihnachtsfilme, als die Klärgrube von Clark Grisworlds Haus explodiert. Der Guide schießt ein Foto und darauf sieht man, dass der Himmel tatsächlich grün leuchtet. So hatte ich mir das irgendwie nicht vorgestellt, aber so scheint es zu sein. Das menschliche Auge ist da weniger sensibel als eine Kameralinse mit Langzeitbelichtung.

    Ganze drei Stunden verbringen wir hier, es ist wunderschön, aber vor allem wegen der sternklaren und bitterkalten Nacht. Und der heißen Schokolade, die wir bekommen. Wenn gewünscht auch mit isländischem Vodka.
    Als der Guide dann sagt "Time to get back" ist es bereits weit nach Mitternacht.
    Im Auto sagt er "Now you can cross this off your bucket list" und ich denke "auf keinen Fall!".
    Am Ende hat dieser Ausflug dennoch viel Licht in ein Dunkel gebracht.
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  • Day 6

    Die Weite oder das Weite suchen

    March 28 in Iceland ⋅ ☁️ -1 °C

    Nach dem gestrigen langen Aufbleiben, was ich ja so gar nicht mehr gewöhnt bin, verbringe ich den Vormittag mal wieder gemütlich im Bett. Die Tage verfliegen und ich kann beim Schreiben oftmals nicht mal mehr einordnen, was ich jetzt genau wann gemacht oder nicht gemacht habe. Manche Notizen aus manchen Tagen verschwimmen, wie auf der Reise, als die Ereignisse irgendwann nur noch irgendwie zusammengesetzt wurden. Hier habe ich nicht mal mehr den Anspruch auf korrekte, sondern nur an überhaupt Dokumentation und das ist herrlich befreiend.

    Jeden Morgen zwinge ich mich, zumindest einmal kurz, sobald ich wach bin, vor die Tür. Einmal frische Luft. Drei Minuten. Kreislauf in Gang bringen, Beine daran erinnern, dass sie stehen und gehen können. Dafür ziehe ich mich nichtmal an. Einfach Joggi über den Schlafi und los. Dieser kurze Wachmacher gibt mir einen guten Start in den Tag. Bevor ich mich ein paar Minuten später wieder zurückschleiche, einen Tee mitnehme, mich gemütlich im Schlafi ins noch warme Bett zurückkuschel. Und auch gerne nochmal einschlafe. Aber ich habe das Gefühl, mein Körper hat die Welt da draußen schon gesehen, sie geatmet, und vielleicht ja dann auch Lust und Energie, sie später wiederzusehen. Zumindest wenn ich das wollte. Unlogisch, vielleicht. Aber mein bester Versuch 🤷‍♀️

    Ich finde Geschmack an diesem Sein und dem Tempo in mir. Mit niemandem muss ich was absprechen, ich mache, was ich will. Bleibe stehen, sitzen, liegen wann und wo ich will. Herrlich.

    Am frühen Nachmittag hole ich meinen Mietwagen ab und düse in die Natur. Nach fast einer Woche Stadt auch irgendwie nötig, sagen meine betongestressten Augen. Ich möchte den Golden Circle fahren, mache die eigens dafür erstellte Playlist an und gebe als ersten Stopp den Nationalpark an. Hier ist definitiv der Weg das Ziel. Die Landschaft ist atemberaubend. Überall Moore, die zugefroren sind, Islandpferde und "Sneeeeeberge". Seit meiner Kindheit kann ich dieses Wort nur auf eine Weise aussprechen. Nämlich als mein sechsjähriges Ich, das auf der Fahrt in den Österreichurlaub mit der Nase an der Scheibe klebte und beim ersten weißbepuderten Berg immer rief "Sneeeeeberge". Bis heute mache ich das, meist auf Fahrten in den Skiurlaub. Ich kann nicht anders. Es ist eine Art Alpen-Tourette. Nur dass es überall auf der Welt herausbricht, wie ich auf der Reise in Patagonien feststellte.

    Der Himmel ist klar und die Luft so knackig und frisch, in der Sonne kann man sogar die dicke Daunenjacke ausziehen. Mein Gesicht freut sich so sehr über das bisschen Vitamin D, ich spüre quasi wie die kleinen Zellen tanzen. Alle paar km halte ich an, steige aus, atme und genieße die Weite. Da ist sie.
    Als mir auffällt, dass ich ja gar nichts zu essen dabei habe und ich bis jetzt auch noch nichts an Infrastruktur gesehen habe, die einem Supermarkt oder Café ähnliche sah, sehe ich mich mal wieder wie in "Into the Wild" aus der Not heraus giftige Beeren essen, einen Lachs mit bloßen Händen fangen und einen Bären bekämpfen. Und natürlich frage ich mich mal wieder, wie ich ernsthaft 40 Jahre alt werden konnte.

    Google Maps gibt Entwarnung, in der nächsten halben Stunde kommt ein Besucherzentrum. Ich kaufe einen Bananen-Riegel und einen Erdnuss-Riegel, (die Isländer wissen, was gut ist) und mache eine ausgedehnte Pause an einem Picknicktisch im Nirgendwo.

    Sodann steht die Entscheidung an, ob ich noch weitere drei Stunden durchhalte und es zum Geysir und den Wasserfällen schaffe, oder ob ich lieber die einstündige Abkürzung heim nehme, mit der Option, eine weitere Pause in der Skyr Fabrik mit angeschlossenem Skyr Tasting zu machen. Ich entscheide mich für Option zwei.

    Immer mal wieder halte ich an. Mache Rast. Obwohl Autofahren mich nie stresst, nichtmal durch Paris im Berufsverkehr, will ich die Langsamkeit auskosten, mich hinlegen auf Autodach und einfach die Sonne genießen. Mir fällt auf, dass es noch kein einziges Foto von mir gibt! Nach 6 Tagen. Als wäre ich nie hier gewesen. Zeit, das zu ändern. Gleich beim nächsten Stopp an einem der zahlreichen Aussichtspunkte sehe ich mal endlich ein anderes Auto parken. Das Pärchen ist selbst grad beim Fotoshooting und ich frage die Frau (kleiner Akt von Mikrofeminismus: Wenn ich mit Paaren ins Gespräch komme, spreche ich zuerst immer mit der Frau), ob sie Lust hätte, mein erstes Islandfoto zu schießen. Sie hat Lust und schießt munter drauf los. Jetzt war ich also doch hier. ☺️

    Es ist langsam Zeit, zurückzufahren. Außerdem habe ich Hunger. Ich halte in Selfoss im Skyrland, schaue mir, ganz allein bin ich in der Ausstellung, die Skyr Produktion an und bin versöhnt mit meinem letzten Museumsbesuch, denn dieses kleine Museum ist einfach zuckersüß aufbereitet und mit so viel Liebe zu Geschichte, Tradition und Handwerk gestaltet, dass mein Herz aufgeht.

    Fun facts:

    - Skyr gibt es seit über tausend Jahren. Er wurde für die harten Winter hergestellt

    - Er braucht in der Produktion drei Mal so viel Milch wie normaler Joghurt, deshalb ist er so proteinreich

    - Ein Beiprodukt ist Whey, das zur Konservierung genutzt wurde und heute als Basis vieler milchbasierter Proteingeschichten dient.

    - Der heutige Skyr wird noch immer mit den traditionellen jahrtausendealten Skyr Bakterien hergestellt

    - In der Ausstellung wird immer wieder betont, dass isländische Frauen es waren, die diese Tradition fortgeführt und bewahrt haben. Man hört im Interview den Stolz des aktuellen CEO von Isey Skyr, der bekanntesten Skyrmarke Islands, wenn er darüber spricht. Mal wieder ein Zeichen der Wertschätzung von Frauen in diesem Land.

    Am Ende der Ausstellung bekomme ich ein Skyr Tasting aus verschiedenen Skyr Arten. Das Original schmeckt angenehm milchsauer und damit viel saurer als der, den ich bisher zu Hause gegessen habe.
    Nun darf ich mir eine kleine Bowl zusammenstellen mit Zutaten meiner Wahl. Ein sehr schöner Abschluss dieses Stopps.

    Ich fahre gemütlich zurück. Und erhole mich von der Fahrt. Am Abend beschließe ich, einen kleinen Ausflug unter Menschen zu machen. Damit ich es nicht ganz verlerne. Denn bisher habe ich jeden Abend im Zimmer verbracht. In einem Hostel gibt es ein Pub Quiz. Ich will nicht mitmachen, sondern einfach nur die Stimmung ein bisschen mitnehmen und chille mich aufs Sofa, streame Lets Dance und lausche nebenbei den doch sehr unterhaltsamen Fragen. Eine Schulklasse aus England hat sichtlich Spaß.

    Mit dem Gefühl von viel Lebendigkeit und Wärme durch Kulturkontakt, Naturkontakt und Menschenkontakt, auch in die ferne Heimat, falle ich mit wohligem Gefühl ins Bett.
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  • Day 7

    I don know bout you but I'm feelin 22

    March 29 in Iceland ⋅ ☁️ 2 °C

    Erstmal richtig ordentlich ausruhen bevor es dann heute zur Taylor Show von Xenna geht, einer Britischen Künstlerin, die Taylors Eras Tour musikalisch und künstlerisch nachbildet. Ich bin begeistert, dass das Konzert schon am Nachmittag um 15 Uhr stattfindet und denke noch "die Isländer mal wieder, die habens kapiert!!" Diese Uhrzeit sollte sich auch bei uns durchsetzen: Man kann schön Mittagessen vorher, gemütlich hingehen, wer will kann ein Getränk zu sich nehmen für einen leichten Schwipps, day drinking, man hat keine Probleme, nach der Show gut heim zu kommen, denn es ist noch hell und alle Busse und Bahnen fahren noch. Man kann sich direkt im Anschluss noch beim Abendessen drüber austauschen und gemeinsam Adrenalin loswerden, und dann entspannt zeitig ins Bett fallen und ist morgens fit.
    Warum das Coldplay und Snow Patrol und überhaupt alle anderen noch nicht verstanden haben, ist mir schleierhaft. Also die Isländer haben's mal wieder kapiert! --- dachte ich.

    Bis ich ankam an der wunderschönen Location, der Harpa Concert Hall. Plötzlich war ich umringt von 12 jährigen Menschen mit ihren Eltern. Ist das etwa Taylors Zielgruppe?? Ich höre Wiebke sich schon kaputtlachen, wenn ich das erzähle.

    Das Konzert selbst macht ziemlich Bock. Beim Mitsingen ist die Tonlage um mich herum sehr jugendlich hoch, aber textsicher sind die alle. Sie spielt viele Songs des originalen Konzerts und trägt entsprechend die Kostüme. "Enchanted" ist natürlich ein Knaller, genau so fühle ich "Clean" wie immer sehr, "August", "Down Bad", "Lover", "Illicit Affairs". Ach, es ist ein Fest. Völlig beseelt verlasse ich diesen Kindergeburtstag, und finde es schon fast herzzerreißend, dass die Kids so inbrünstig mitgrölen "you taught me a secret language you know I can't speak with anyone else" und stelle mir ihre heimliche erste Liebe in der Nachbarklasse vor.

    Ich habe unerwartet noch ein bisschen Energie übrig und beschließe, zum Sundowner eine Rúntur zu machen ins geothermale Gebiet eine halbe Stunde außerhalb Reykjaviks. Dort windet sich die Straße sehr piktoresk vorbei an einem See, zerklüfteten Lavabergen, zwischen denen Dampf aufsteigt (der Boden ist hier buchstäblich Lava, Pipi Langstrumpf hätte ihre Freude bei ihrem Spiel), oder vereisten Feldern und durch Bergpässe. Eine perfekte Straße für einen Sommertag auf dem Motorrad denke ich noch, als ich auf dem nächsten Aussichtspunkt eine Gruppe ebendieser Verrückten stehen sehe, die den Frühling nicht abwarten können und den ersten sonnigen Tag nutzen.

    Als ich das Gebiet befahre, erscheint sofort eine Warnmeldung auf meinem Handy. Dass die Erde hier sehr aktiv sei. Und man ggf auf eine Evakuierung vorbereitet sein solle... Äh...OK. Aber gut zu wissen, dass sie irgendwo meine Handynummer herhaben, denn außer den Motorrädern begegnet mir herrlicherweise niemand. "All by myself" summt es in meinem Kopf und ich sehe Bridget Jones im Schlafi mit ner Flasche Rotwein auf dem Sofa hocken und Schokolade essen. Auch keine schlechte Abendgestaltung. Hm...

    Die Landschaft hat so viel Abwechslung zu bieten, dass ich den Mietwagen noch zwei Tage verlänger. Mal schauen, wohin es mich noch so führt.
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  • Day 8

    Draußen kalt, innen warm

    March 30 in Iceland ⋅ 🌧 5 °C

    Das erste Mal seit meiner Ankunft weckt mich der Wecker um 6:30 Uhr und holt mich zum Glück aus einem offenbar sehr anstrengenden Traum - ich bin klatschnass geschwitzt und mein Herz rast. Ich erinnere mich nicht, aber vielleicht war es ja die unbändige Vorfreude auf meinen Ausflug heute.
    Ganz bestimmt.

    Die Fahrt zur Blue Lagoon ist selbst schon ein kleines Highlight an sich: Die Straße ist an manchen Stellen gesperrt und muss umgeleitet werden, weil der vulkanische Boden tiefe Risse zeigt, aus denen es dampft und qualmt. Man lebt auf einem Pulverfass hier. Aber keinen scheint es zu beunruhigen.

    Mein gebuchter Zeitslot für die Lagune ist um 8, ich komme im wilden Schneegestöber an und freue mich auf das 38 Grad warme Wasser und ein bisschen Entspannung. Am Check-in werde ich gefragt, ob ich heute allein anreise. Ich bejahe die Frage und denke noch, es sei höflicher Smalltalk. Dann werde ich gefragt, weil ich allein anreise, ob ich gesundheitliche Einschränkungen habe. Ich zögere. Noch immer fühlt es sich komisch an, es laut auszusprechen, aber ich entscheide mich für die Wahrheit und erzähle von meinem Schwindel der gerade im Wasser eher schlimmer wird, und der manchmal plötzlichen Erschöpfung in den Beinen. Hier kann ich es gut austesten. Kennt mich ja niemand. Ich werde freundlich von einer medizinischen Person abgeholt und bekomme eine Einweisung. Und ein knallorangenes Armband um. Das leuchtet auch unter Wasser und durch den dichten Wasserdampf so deutlich, dass die Lifeguards mich problemlos sehen können. Island mal wieder...Ich sage noch, dass ich gar nicht so viel Aufmerksamkeit möchte und sie antwortet mir, dass das okay sei, dass heute trotzdem gut auf mich aufgepasst würde. Mir kommen dir Tränen. Die meinen es ernst mit ihrer Menschenliebe hier.

    Ich schmeiße mich in einen flauschigen Bademantel und zittere mich in die 1 Grad kalten 5 Meter bis zum Einstieg. Ob des Temperaturunterschieds gibt es viel Wasserdampf. Es ist noch recht leer, weil ich mit Öffnung das Bad betrete. The perks of being an early bird. Außerdem sieht und hört man von den anderen Menschen kaum etwas. Der Wasserdampf dämpft alles ab. Ich fühle mich wie in Watte, als wäre ich in einer riesigen Wolke. Teilweise ist es wie in einem White-Out. Man sieht nichts mehr um sich herum.
    Ich tauche ab und wate ein bisschen durchs hüfthohe Wasser. Hier lässt es sich aushalten. Nach einiger Zeit merke ich, dass meine Haare anfangen zu gefrieren.

    An der Bar im Wasser hole ich mir eine Schlammmaske fürs Gesicht. Meine Haut hat die letzten Monate ganz schön unter mangelnder Fürsorge gelitten. Erst lasse ich sie verbrennen und dann jetzt hier erfrieren. So behandelt man nun wirklich nicht sein Lieblingsorgan! Die Manuka Therapie in Neuseeland, hat da Einiges gerettet, aber die habe ich für den Island Trip unterbrochen. Ich schäme mich und übe Versöhnung.

    Und so chille ich mich mit einer ansehnlichen dunkelgrauen Maske an den Rand der Lagune, weil ich selbst durch den dichten Qualm bemerke, dass die Lifeguards schon immer ein genaues Auge auf mich und mein leuchtendes Armband haben. Und als ich da so liege, meine Gedanken treiben lasse in schöne Tagträume und dem Wasserdampf dabei zuschaue, wie er immer neue Luftschlösser baut, höre ich eine Stimme aus dem Off "Are you feeling alive?" Ich drehe mich um und sehe eine Life guard, die sich dick eingepackt wie sie ist, neben mich gesetzt hat. Ich denke so bei mir, diese Frage ist jetzt auch schon übertrieben, immerhin habe ich die Augen offen und atme deutlich Dunst aus. Sie scheint meine Gedanken gelesen zu haben, grinst mich an und meint "I mean because your hair is freezing while you are almost readily cooked". Ich muss lachen und antworte, dass ich mich in der Tat sehr lebendig fühle. Und ob Isländer*innen überhaupt Kälte empfinden können oder ob ihnen dafür das Gen fehle. Wir kommen in ein sehr nettes Gespräch. Ich frage sie, wann sie sich denn so lebendig fühle und schwupps sind wir bei Musik. Sie sei Singer-Sonwriterin, habe gerade ihr drittes Album rausgebracht und sei abends bei einem kleinen Konzert in einem Buchladen. Der Botschafter von Polen sei auch in der Band. Aha. 😂 Ich könne ja vorbeischauen. Ich frage sie nach ihrem Lieblingslied für meine Playlist, die ich von der Weltreise einfach weiterführe und die schon gut gefüllt ist mit Lieblingssongs von fremden Menschen und Geschichten dazu. Sie tippt mir einen ihrer eigenen Songs bei Spotify ein und erzählt eine emotionale Geschichte über persönliches Wachstum, mentale Struggle und Zuversicht. Mal wieder bin ich sehr berührt davon, wie Menschen sich öffnen. Ich frage sie noch, ob sie Foto Nummer 3 von mir aufnehmen würde. Sie macht zur Sicherheit auch noch Foto Nummer 4.

    Immer im Wechsel zwischen Entspannung im Bademantel mit Tee und Ausblick und bis zum Hals im wohlig warmen Pool, verbringe ich noch ein paar Stunden hier, bis ich genug habe und mich aufmache zurück.

    Derweil tobt draußen buchstäblich ein Schneegestöber. Es ist teilweise so weiß um mich herum, dass ich anhalten muss, weil ich nichts mehr erkenne. Die Fahrbahn ist trotz Spikes glatt und das Sliden in den Kurven macht auch nur so semi viel Spaß beim teilweise fehlenden Absperrungen zum Abgrund. Nacheinander fallen im Auto einige Systeme aus, weil die Sensoren vereist sind. Das Auto struggelt spürbar ohne Spurhalteassistent, Abstandshalter und allgemein mit dem Untergrund. Die Anzeige leuchtet und blinkt wie ein Weihnachtsbaum. Ich entscheide, die nächste Haltebucht zu wählen und eine Pause zu machen. Mit warmem Popo dank Sitzheizung, fahre ich den Sitz nach hinten, mache mir Entspannungsmusik an und ziehe mir die Mütze über die Augen. Ein perfekter Ort für eine Panikattacke, so mitten im Nirgendwo, lange schon kein anderes Auto mehr gesehen, kommt es mir in den Sinn. Schnell summe ich "Willst du einen Schneemann baaaaauuuuueeeeeen? Oder vielleicht was andres baaaauuuueeen?", frage mich, was Olaf jetzt tun würde und versuche mich zu entspannen. Es klappt. Um mich herum geht die Welt unter. Nach einer halben Stunde Powernap sieht sie schon wieder besser aus. Allgemein eine gute life lesson...

    Bevor ich weiterfahre, rufe ich Miri an, um mein furchtbares erste-Welt-Dilemma zu besprechen und zu sortieren. Das letzte Jahr bringt mich umweltmäßig zielsicher in die Hölle. Ich glaube, auf dem Klimawandel steht ab jetzt auf einer goldenen Plakette "sponsored by Anne Laws". Da hilft auch keine Kompensation mehr. Immerhin stelle ich mir aber noch Fragen. Wie: Fliege ich also am Mittwoch nach Olso, treffe Karoline und starte mit ihr einen zweiten Versuch auf Nordlichter in Tromsø? Oder müssen es vielleicht auch nicht drei weitere Flüge in vier Tagen sein?
    Laut Kathrins Theorie ist bei der Wahl der Person, die man um Rat fragt, schon unterbewusst die eigene Entscheidung getroffen, weil man in der Regel abschätzen kann, was die Person einem raten wird. Deshalb rufe ich nicht Karoline an...
    Miri hat wie immer eine klare, ganz uneigennützige und sehr absehbare Haltung dazu und empfiehlt mir, doch einfach statt nach Norwegen, zu ihr nach Münster/Osnabrück zu fliegen. 🙈 Nicht umsonst gebe es da schließlich auch einen wunderschönen Flughafen. Nordlichter? Sie habe noch so ein paar Leuchtsterne, die könne sie mir übers Gästebett tackern. Wäre ja immerhin heller, als das, was ich da in Island gesehen hätte. Sie hat nicht Unrecht. Und Bananen und Pistazien würde sie auch genug kaufen. Wir könnten Ted Lasso weiterschauen, das sie exklusiv nur schaut, wenn ich neben ihr sitze. Und sie würde mir auch zur Wahl stellen, was ich uns dann von HelloFresh zum Abendessen kochen darf. 😂 Ach, ich weiß, warum ich sie immer wieder so gerne um Rat frage. Die Dinge werden so eindeutig und klar. Warum gucke ich mir statt irgendwelcher Himmelslichter in der Ferne nicht lieber meine eigenen Menschen-Lichter an, die ich in meiner Nähe lieb habe? Außerdem muss ich dringend gekuschelt werden. Ein besserer Plan.

    Zurück angekommen überlege ich, ob ich noch in die Buchhandlung zum Konzert von Silja und dem polnischen Botschafter gehe. Und da mein Konzept des Blitz-Karneval so gut funktioniert hat, denke ich, drei Songs können nicht schaden. Und wenn doch, ist es eben ein Abendspaziergang. Nichts muss.

    Während ich also zielstrebig losmarschiere, quatscht mich eine Frau locker an. "Well, you look like a woman on a mission. What's your mission?"
    Ich erzähle ihr von dem Konzert und sie fragt, ob ich Lust auf Begleitung hätte. Ich sage ihr, dass ich mich eigentlich aktuell von Menschen fernhalte und aber jetzt gerade auch furchtbar schlecht im Entscheidung treffen sei. Sie dürfe mit, wenn sie auch in irgendwas richtig schlecht sei. Wie aus der Pistole geschossen sagt sie, sie sei die schlechteste Holländerin der Welt. Ich finde, das ist ein guter Ausgangspunkt für einen unterhaltsamen Abend.

    Wir haben ganz unverhofft eine richtig nette Zeit und reden über Gott und die Welt. Sie war in Island für eine Konferenz, es ist ihr letzter Abend, sie kommt aus Eindhoven, heißt Anouk. Und sie benutzt in kürzester Zeit schon zum zweiten Mal mein zweitliebstes Englisches Wort "serendipity". Ich frage sie, was genau sie denn zur schlechtesten Holländerin mache, die ich jemals treffen werde. Sie sagt, sie hasse Frikandel, Bier, Kibbeling, spreche nur ganz schlechtes Deutsch, möge kein Softeis (ich frage entsetzt "auch nicht mit Disco??" - so heißen die bunten Streusel, in die man das Eis tauchen kann), sie verneint. Nix zu holen. Pommes speciaal gingen. Ich bin erleichtert. Aber laktoseintolerant sei sie, also kein Käse. Ich verabschiede mich innerlich von ihr. Wir haben keine Zukunft, auch nicht für den Abend. Toleranz fängt für mich bei Laktose an. Zum Glück lacht sie über meinen Humor. Als wir beide beim Betreten der Bar unsere Ohrstöpsel rausholen, treffen sich unsere Blicke. Wir müssen grinsen und wissen, worin wir beide so richtig schlecht sind: Lautstärke.

    Die Musik macht Spaß, es sind ein paar isländische Songs und weitestgehend Cover von den 50ern bis zu den 00ern. Anouk besteht darauf, mir ein Getränk auszugeben, dafür dass ich sie mitgenommen habe.
    Sie fragt mich, was ich noch so vorhabe und ich erzähle ihr von meinem Plan, einmal auf einem Isländer zu tölten. Sie grinst nur und sagt "So you're one of those girls..." Ich frage sie, was sie meine. Na, Pferdemädchen! Nein, das bin ich wahrlich nicht, aber sie, wie sich herausstellt. Leidenschaftlich. Undzwar so sehr, dass sie ihren Kindheitstraum erfüllt hat und Tierärztin mit Spezialisierung auf Pferde geworden sei, daher auch die Konferenz. Ich frage sie also ab dann über Islandpferde aus und genieße es, dass das Thema Job überhaupt erst zum Ende des Treffens aufkam. Und dann mit so viel Passion gefüllt ist. Ein guter Radar wie ich finde, wie schnell in einem Gespräch über den Job gefragt wird. Meiner Erfahrung nach, je später, desto schöner das Gespräch.

    An der Bar für die nächste Runde Ingwerlimo komme ich mit einer älteren isländischen Frau über ihr traditionelles Gewand ins Gespräch. Sie hat ordentlich einen sitzen, das merke ich daran, wie sie lallt und außerdem daran, dass sie mir körperlich für eine Isländerin doch sehr nah kommt. In Köln wäre das der normale Abstand für ein Gespräch, aber hier nicht. Sie erzählt von der Konfirmation ihres Enkels, da gehöre das zum guten Ton und zum isländischen Stolz, sich entsprechend zu kleiden. Aha. Dann erzählt sie, dass ihr Sohn ein Teil der Band sei und schon mal mit dem Sänger geknutscht habe, aber das sei völlig ok für sie und sie sei da ganz offen. Ich frage sie, ob das nicht der polnische Botschafter sei. Sie sagt nur "I don't know about these gay things." 😂 Dieser Abend wird einfach immer schräger.

    Als die Songs immer emotionaler werden und nach "The Scientist" auch noch "With or without you" gespielt wird, geben mir die ersten Akkorde von "Iris" von den Goo Goo Dolls den Rest. Zeit, zu gehen. Ich mache mich also auf, Anouk will mit, schließlich haben wir denselben Heimweg. Wir tauschen uns über Musik aus und was sie so in uns bewegt, während wir uns vor der Kirche noch auf das Denkmal setzen und die nächtlichen Lichter bestaunen. Manchmal ist es einfacher, sich einer komplett fremden Person zu öffnen, als seinen besten Freunden. Und festzustellen, dass menschliche Irrungen und Wirrungen am Ende durch alle Zeiten, Generationen und über alle Ländergrenzen hinweg gleich bleiben. Wir verabschieden uns dann auf dem Weg ins Zimmer, ich danke ihr für den Abend und wünsche ihr eine gute Heimreise. Sie sagt "I know you liked how I used the word "serendipity" and when I come to think of it, this aquaintance is the perfect definition". Auf dem Weg ins Bett denke ich daran, wie sich durch den kompletten Tag ein rotes Band von äußerer Kälte und innerer Wärme zog.
    Am allerschönsten daran finde ich, dass ich nichts ausgetauscht habe an Kontaktdaten, das hätte für mich auch den Moment kaputt gemacht. So kann einfach alles genau da, im Moment bleiben.

    Es ist irgendwie schön, nach so vielen Tagen des Rückzugs gleich drei so nette Begegnungen zu haben, die allesamt nur im Hier und Jetzt stattfanden. Das konnte ich sehr genießen. Ich glaube, vor allem WEIL ich mich zuvor so zurückgezogen hatte und ganz bei mir war. Ich brauchte nichts, hatte mich dabei. Und gleichzeitig merke ich die Anstrengung dahinter. Und wie viel schöner es ist, sich in vertraute Gespräche und vertraute Menschen fallenzulassen. Es ist Zeit, nach Hause zu fliegen. Ich vermisse Unmittelbarkeit.

    "Abende werden nicht besser, nur weil sie länger werden." Dasselbe gilt bestimmt auch für Island Urlaube. Sicher gibt es hier noch sooooo viel zu entdecken. Aber ich habe auch einfach schon so viel erlebt, das ich jetzt erstmal wieder verarbeiten kann. Außerdem soll ja noch was übrig bleiben, wenn Wiebke mitkommt.

    Dafür habe ich auch heute wieder an der Lagune einen kleinen Geocache versteckt. So wie bereits an der Kirche. Und an einer schönen Bank mit Ausblick. Wenn wir gemeinsam hierher reisen, freue ich mich schon sehr darauf, wenn sie die kleinen Schätze findet.

    Ich buche also, nicht nur wegen Miris Rat, sondern weil es sich stimmig anfühlt, einen Flug heim. Meine Energie wird zunehmend weniger. Meist kann ich es noch abfangen. Aber ich merke, dass mich allein die Tatsache, einen Mietwagen zu haben, auch innerlich dazu nötigt, ihn zu nutzen. Es ist also an der Zeit, der FOMO ein Ende zu setzen. Und weil ich gerne zumindest eine theoretische Chance auf ein weibliches Cockpit haben möchte, entscheide ich mich, auch wegen des sehr inspirierenden Films, für Iceland Air, die mich nach Frankfurt fliegen werden.
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