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- Mar 23, 2025, 6:30pm
- ☁️ 2 °C
- Altitude: 7 m
IcelandFiskihöfn64°9’4” N 21°56’49” W
„Þetta reddast!“ - Wird schon klappen

Der Wecker klingelt morgens um 4 und ich werde aus schönen Träumen von einem Picknick in einem Wald an einem Sommertag gerissen. Als hätte mein Verstand noch einen letzten Versuch gewagt, alle Dinge, die ich so mag (Sommer, Wälder, draußen essen) noch einmal vor mir vorbeiziehen zu lassen, bevor ich mich dann dahin aufmache, wo es aktuell nichts davon gibt.
Es ist noch keine 5 Uhr morgens und der Flughafen platzt aus allen Nähten. Als ich mich ganz entspannt am baggage drop off anstellen will, guckt der Mitarbeiter auf meine Boardkarte und ruft durch die Halle zu seiner Kollegin, über die riesige Schlange hinweg "Mimi, ich hab hier noch eine!". Er dreht sich zu mir und sagt "Sie sind spät dran (ich denke "story of my life, Bruder"), gehen Sie nach vorne, sobald der Koffer weg ist, ab zum Gate. An der Sicherheit sieht's heute noch schlimmer aus." Wiebke wäre das nicht passiert. Die hätte gemütlich hier gestanden, an einem leeren Schalter, und ihren ersten Kaffee getrunken. Und dann den zweiten am Gate.
Aber weil ich schon mal einen Flug verpasst habe, obwohl ich schon am Flughafen und hinter der Sicherheit war, einfach weil ich zu lange und ausgiebig Kaffee getrunken habe, will ich wenigstens aus manchen Fehlern lernen. Heute gibt es keinen Kaffee.
Stattdessen mache ich alle eingeplanten Höhenmeter für diesen Tag schon am Abflughafen dank defekter Rolltreppen und Aufzüge.
Im Flieger gibt es dann für mich wie immer Fensterplatz. Neben mir nimmt eine Frau Platz, die aussieht, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen, Haare in alle Richtungen, knallroter Kopf. Sie krallt sich an, naja, eigentlich unser beider Armlehne fest und starrt nach vorne. Weil ich dieses Bild von mir selbst noch vor ein paar Jahren kenne, lange vor all den Flugstunden und Entspannungstechniken, biete ich ihr an, für Sie ansprechbar zu sein. Ihr Mann freut sich noch mehr als sie selbst und so nimmt sie beim Start unser beider Hände, ich erkläre jedes Geräusch, gebe mein Wissen über Physik von meiner Mutter und der Sendung mit der Maus wieder und wir atmen zusammen 4-7-8. Es ist schön zu sehen, dass es ihr nicht mehr so scheiße geht und ich endlich was zurückgeben kann von dem Rückflug aus Kuba, als es mir 11 Stunden lang ähnlich ging und sich eine fremde Person so um mich kümmerte.
Bei der Landung lasse ich sie ans Fenster und lenke sie noch ein bisschen mit meiner eigene spannendste Erkenntnis, die mir bei jedem Flug über einen Ozean hilft: unser Airbus A330 hat ein Gleitverhältnis von 15:1, also pro 1000 m Höhenverlust kommt er 15 km weit. Bei einer normalen Reiseflughöhe von 12.000 m macht das bei kompletten Ausfall beider Triebwerke mit unserem aktuellen Rückenwind noch knappe 200km. Der Wahnsinn. Nach der Landung bedankt sie sich herzlich bei mir. Unsere Wege trennen sich. Bis sie mir auf dem Parkplatz vor dem Flughafen wieder begegnet, mit ihrem Mann auf mich zukommt, und sagt, das sie mich gesucht hätten weil sie mich gern zum Essen einladen wollen. Als ich dankend ablehnen will und sage, dass ich an Karma glaube und mich freue, wenn sie dafür einfach jemand anderem weiterhilft, sagt sie nur, dass sie darauf bestehe und ich jetzt ihre Nummer einspeichern solle. Ok. Ich will mir nicht gleich die erste Isländerin zur Feindin machen. ☺️
Auf dem Weg zum Airport Shuttle gehe ich auf den Bus zu, vor dem ein Mann steht und mich angrinst. Er ruft mir entgegen "Hellooooo, there you are!!"
Ich gucke mich ein bisschen irritiert um, aber sehe niemanden weit und breit.
Und dann frage ich "You mean me?"
Er "Yes, yes, we've waited for you."
Und ich "Oh no! The bus waited for me??"
Und er "No, Iceland has waited for you." ☺️🥰
Was ist denn hier nur los mit den Menschen?
Mich beschleicht ein ähnliches Gefühl wie bei unserer Ankunft in Chile, als wir uns -trotz unserer verloren gegangenen Koffer und mitternächtlichen Hundekontrollen beim Zoll- instant zu Hause fühlten.
Auf der Fahrt in die Stadt entdecke ich dann zum Glück doch ein paar Tannen, immerhin. Es wird aufgeforstet, nachdem die Wikinger alle Bäume auf der Insel für ihre Boote abgeholzt haben. Ansonsten könnte diese Landschaft an den Harz in 10 Jahren erinnern.
Die Insel ist sehr dünn besiedelt, hat insgesamt nur knapp so viele Einwohnende wie Bonn, Wuppertal oder Münster. Und mehr Schafe als Einwohnende. Hier in Reykjavik sind die Gebäude niedrig, man sieht viel Himmel. Es ist ganz leise, wenige Autos (die haben aber dafür allesamt Spikes an den Reifen, was wiederum wenn mal eins fährt recht laut ist). Und obwohl das Wetter hier an der Mehrzahl der Tage dunkel und grau ist, die Winter lang und die Supermärkte entsprechend voll mit hochdosierten Vitamin D Tabletten sind (und überall Skyr!! Hier werde ich kein Problem haben, auf meine 100 Gramm Protein zu kommen), erscheinen mir die Menschen ausgeglichen, gelöst, man hört viel Lachen auf der Straße, in Läden. Überall stehen Menschen und unterhalten sich, man kennt sich. Sie begegnen auch mir fürsorglich, zugewandt und strahlen eine ehrliche Offenheit aus. Wie schon in einem der Posts von der Weltreise, gilt vielleicht mal wieder die einfache Formel "wenige Menschen auf viel Platz gleich friedliche Entspanntheit". Die Stimmung ist einladend.
Es gibt überall kleine Galerien, Cafés und... Läden, in denen man sich dicke Funktionskleidung leihen kann. So erkennt man die meist asiatischen oder spanischsprachigen Touris, die diese tragen, schon aus der Ferne, denn es ist immer dieselbe Kombi aus Skihose und Skijacke in der immergleichen Farbe. ☺️
Vor dem Einchecken im Hotel möchte ich einen Tee und was Regionales frühstücken. Wiebke ist mittlerweile in Wuppertal bei Mine zum Frühstück angekommen und ich bin natürlich ein bisschen neidisch von ihrer Erzählung. Ich gehe in ein Café, in dem es gemütlich aussieht und bis nach draußen nach Zimtschnecken riecht. Dort lese ich "The Reykjavik Grapevine", ein kostenloses englischsprachiges Magazin, das sich mit isländischer Kultur, Kunst, Musik, Kulinarik, Gesellschaft und eigentlich allen aktuellen Themen beschäftigt. Darin lerne ich, dass ich an einem Lammeintopf und an getrocknetem Fisch nicht vorbeikommen werde (und auch eigentlich gar nicht will). Nationalgerichte müssen ja probiert werden, egal, ob sie Fleisch oder was auch immer enthalten. So will es auch nach der Weltreise weiterhin das Reisegesetz. Kommt also auf meine Liste. Ansonsten entscheide ich, für die nächsten Tage keine der spannenden Touren zu Gletschern, der Fahrten mit Schneemobilen, der Schnorcheltrips zwischen tektonischen Platten zu buchen, sondern einfach anzukommen, zu sein, zu entspannen. Und natürlich zu essen. ☺️
Ich werde, weil ich allein am Tisch sitze, von der Bedienung gefragt, ob ich auf jemanden warte, und dass ich mich sonst, falls ich Interesse hätte, auch an den "social table" setzen könne. Da seien Menschen, die Lust haben, zu quatschen, aber selbst keine*n Gesprächspartner*in. Was für eine schöne Idee, der Vereinsamung in Städten zu begegnen. Ich stelle fest, dass ich gerade zwar allein, aber keineswegs einsam bin und lehne dankend ab. Außerdem lausche ich gerade sehr gespannt einem Gespräch am Nachbartisch, offenbar von zwei Expats, denn sie unterhalten sich auf Englisch, in höchsten Tönen über die isländische Politik. Das inspiriert mich, darüber ein bisschen zu lesen.
Gleichstellung ist hier allgemein ein großes Thema: seit Jahren ist Island Spitzenreiter im Global Gender Gap Report, das Parlament besteht zu fast 50% aus Frauen, die seit kürzlich nicht mehr amtierende Premierministerin Katrin Jakobsdottir war ganz herrlich links-grün-versifft, feministisch, progressiv und sehr beliebt in der Bevölkerung für ihre Politik, es gibt ein Gleichstellungsgesetz, das die Beweispflicht umkehrt: die arbeitgebende Seite muss nachweisen, dass gleiche Arbeit gleichen Lohn bedeutet.
Ich bin jetzt schon verliebt in dieses Land (und habe nur mal ganz kurz die Deutsche Schule, bzw die DSD Schulen gegoogelt. Ganz kurz nur.) 🥰
Nach dem Einchecken erhole ich mich vom Reisetag. Und erkunde das Spa. Es gibt neben schönen Saunen einen riesigen Outdoor Pool, der dampft und bei Nacht wohl, so wird mir gesagt, die entspannteste Möglichkeit sei, die Nordlichter auf sich herabrieseln zu lassen. We shall see. Heute nicht. Heute komme ich an und schlafe. Mit Oropax. Denn hier in Island muss mal wohl im Hotel explizit darum bitten, bei Nordlichtern nicht geweckt zu werden.
Ein kleiner Abendspaziergang führt mich zur Kirche und durch die beschauliche Innenstadt, von der man aus fast allen Querstraßen nach links und rechts das Meer sehen kann. Ich suche mir ein paar Restaurants raus, in denen ich die regionale Küche ausprobieren möchte.
Erkenntnis des ersten Tages:
Ich liebe Menschen.
Leitungswasser auf Reisen trinken können ohne Chlorgeschmack macht mal wieder richtig Freude.
Gute Funktionskleidung ebenso - nicht eine Zelle an mir friert bei 2 Grad (#merinorules).
Die Erdnussbutter für meine Bananen gibt es hier nur in ungeröstet. Doch kein Land, in dem ich leben möchte.
Meine Liebe zu Skandinavien zieht mich seit 2004 immer wieder in den Norden und ich bin ganz verwundert, dass ich kein einziges Wort dieser Sprache verstehe. Ein eher ungewohntes Erlebnis und deshalb gleich spannend. Zeit, ein bisschen was zu lernen.
Ein paar schöne Ausdrücke, die ich die nächsten Tage mal versuchen werde unterzubringen.
1. „Þetta reddast!“
Bedeutung: „Es wird sich schon richten“ / „Wird schon klappen“
Ein echtes isländisches Lebensmotto – erinnert an das Kölsche Grundgesetz.
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2. Rúntur
Bedeutung: Die traditionelle nächtliche Autofahrt durch die Stadt – meist am Wochenende. Einfach rumfahren, Musik hören, Leute sehen. Durch Wiebke (und Laura Larsson im Podcast) habe ich gelernt und seitdem heißt das bei uns OKF (Orts-Kontroll-Fahrt). Aber Rúntur klingt irgendwie nach mehr Abenteuer.
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3. Sólarfrí
Bedeutung: „Sonnenfrei“ – ein freier Tag, den manche Schulen geben, wenn überraschend schönes Wetter ist. Weil gutes Wetter gefeiert werden muss! Ich liebs.
Ich bin gerade bei Schnee erwacht. Also heute kein Sólarfri. 🤷♀️Read more