• Zeitdruck als Risikofaktor

    28 April, Scotland ⋅ 🌧 10 °C

    Am nächsten Morgen besucht uns der Estate Manager (faktisch der landwirtschaftliche Gemeindeverwalter) und zeigt uns auf einer Karte, wo wir am sichersten langlaufen. Den ersten Bach nicht auf der Strasse durchwaten, sondern bachaufwärts über eine schmale Brücke. Auf dem Pass auf die rechte Talseite wechseln, bevor der Bach beginnt. Er tippt mit dem Finger auf eine Stelle weiter unten: If you try to cross the river there you will die.
    Stetig prasselt der Regen auf meinen Kopf, meine Schuhe sind nach wenigen Schritten wieder nass. Der Bach, der die Strasse quert, ist zu einem tosenden Ungetüm geworden. Die Brücke ist schmal und wirkt wackelig. Auf der anderen Seite steht jemand. Watch me, deute ich ihm - falls ich verunfalle, kann er mir zu Hilfe kommen. Die Brücke schwingt, aber ist problemlos passierbar. Der Mann heisst Paul und wir bereden die Situation. Der Pass sei machbar, sagt er, aber er habe keine Lust auf einen Tag full of misery. Nachmittags um drei solle der Regen aufhören, danach würde das Wasser innert einiger Stunden deutlich zurückgehen.
    Ich gehe weiter, aber das Besprochene hallt in mir nach. Will ich mir das heute antun, an meinem dritten Tag, als highland newbie? Ich habe genug Zeit und die Alternative ist ein Tag in einem Bothy mit Strom.
    Mein Bauch entscheidet: Ich gehe zurück zum Bothy, schaue einen Film, lade mein Handy, trinke Tee, rede mit allen, die im Bothy kurz aus dem Regen flüchten. Am Abend kommen neue Wanderer*innen und auch einer, der vom Pass zurückgekehrt ist. Er war auf einen Schafpfad geraten, der ins Wasser abrutschte. Auf dem Pass hätte man durch einen hüfthohen See waten müssen.
    Mitte Nachmittag hört der Regen auf, ich hänge meine nassen Sachen draussen zum Trocknen auf. Und ich denke darüber nach, dass genügend Zeit auch ein Sicherheitsfaktor ist. Oder Zeitdruck ein Risikofaktor.
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