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  • Day 2

    Beobachtungen

    June 1, 2023 in Germany ⋅ ⛅ 20 °C

    40 Gäste auf der Sonnenterrasse. Ein Grund zur Freude für den Gastronomen. Sein Gesicht sagt etwas anderes. Ich gebe trotzdem Trinkgeld und frage, ob er mir meinen Wasservorrat auffüllen würde. Er beugt sich durch das Speisenausgabefenster zu mir herüber und flüstert leise wie Graf Zahl "Ja, natürlich. Kommen sie nachher einfach an die Seitentür". Was mich da wohl erwartet? Mein Kopfkino springt an und ich sehe, wie er zur Seitentür geschlichen kommt. Mit Schlapphut und Bademantel aus FDGB Besitz bekleidet, wird er mich mit dem Zeugefinger, mit dem er sonst die sensorische Qualitätskontrolle seiner Köstlichkeiten vornimmt, zu sich winken. Ich werde nervös folgen, um dann zu beobachten, wie er sich noch mehrfach verschwörerisch umblickt, bevor er bedächtig seinen Mantel öffnete. An beiden Innenseiten werden dutzende Flakons mit edelsten Trinkwasserproben hängen und wie große verführerische Diamanten funkeln. "Die erste Flasche geht auf Haus" höre ich ihn heißer flüstern. Als grelle Lichtblitze vom Nebentisch ihren Weg in meine Augen finden, werde ich schlagartig zurück in die Realität katapultiert.
    Auf der Terrasse herrscht Selbstbedienung. Der Gast bekommt mit der Bestellung ein bierdeckelgroßes Etwas mit vielen bunten LEDs in die Hand gedrückt. Dieses Dingens ist mit an den Platz zu nehmen und meldet dann dort, durch wildes blinken, das die Bockwurst angerichtet, oder der Salat jetzt in der Schüssel gelandet und zur Abholung bereit ist. Für Epileptiker ist das ganz sicher heikel. Der Deutsche isst bekanntlich ganz pünktlich. Auf Reisen wird das gerne beibehalten. So scheint es gegen 12:30 Uhr, als hätte gerade ein Bus gehalten und jede Menge weitere Gäste auf die Terrasse gespuckt. Am Speiseausgabefenster entsteht kurzzeitig eine Speiseausgabenfensterschlange. Wenig später ist auf der Terrasse jeder Sitzplatz mit frischgebackenen Speisefertigstellungsmeldedingensbesitzern besetzt. Und dann erhebt sich ein Brummen, Rütteln und vibrieren über den ausgeblichenen Terrassenmöbeln, denn, dass jetzt geschmackliche Herausforderungen auf ihre Abholung warten, wird nicht nur durch ein Feuerwerk an bunten Lichtblitzen signalisiert, nein, auch an die nichtsehende Bevölkerung wurde gedacht. Das Ding vibriert. Nicht einfach so, es vibriert sich aus vollem Herzen und mit animalischer Inbrunst die Seele aus dem Leib. Ich rechne damit, dass sich augenblicklich eines dieser Gästeversklavungskästchen in eine Tischplate wühlt, worauf der gesamte Tisch unweigerlich in Flammen aufgehen muss. In das akustische Inferno aus schrillen Brummtönen mischen sich "Huch", "Was ist das?" und "Ist das meins?" Rufe. Die Hungrigen springen scheinbar zufällig auf, um erneut eine Warteschlange zu bilden. Es geht doch nix über eine gute Organisation.

    Nicht zu übersehende Schilder weißen, in feinstem Behördendeutsch darauf hin, dass der Verzehr von mitgebracht Speisen und Getränken auf dieser Gewerbefläche verboten ist. Vermutlich ist dies der Grund, dass links neben mir ein Pärchen in kurioser und schmerzhaft verbogener Körperhaltung, hinter vorgehaltener Hand, kalte Wiener Würstchen genießt. Hoffentlich verschlucken sie sich nicht. Der Rettungsdienst ist bestimmt mit den Epilptikern hinreichend beschäftigt. Schmecken lassen!

    Mein Lieblingsdialog unter den belauscht Gesprächen war kurz, aber nicht minder hochwertig.

    "Weißt du, was für Früchte auf dem Erdbeereisbecher sind?" "Nein, aber ich habe hier schon mal einen Waldbeerenbecher gegessen, da waren Waldbeeren drauf"

    Ich trinke aus und ziehe weiter. Gleich um die Ecke wartet eine Mittagsschlafwiese mit traumhaft schönen Blick auf mich.
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