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  • Day 235

    Die (vor)letzten Flocken schnuppern

    April 18, 2019 in Canada ⋅ ☁️ 1 °C

    Nachdem das Arbeitsleben nun glücklicherweise auch mich im Bann hat, wird die gemeinsame Zeit im Alltag leider knapp, da sich überschneidende arbeitsfreie Tage überschaubar sind. Umso mehr Grund aus der Zeit zu zweit maximale Erlebnisse herauszuholen. Beflügelt von meinen bisherigen Skitourenerfahrungen im Bow-Valley passt heute nun zum Glück nicht nur der überschneidende arbeitsfreie Tag, sondern auch das Wetter und der Lawinenlagebericht für unsere erste gemeinsame Skitour. Es soll der Surprise-Pass oberhalb vom Lake Louise bestiegen werden. Da ich die Tour bereits einige Wochen zuvor im Alleingang gedreht habe, konnte ich abschätzen, ob diese anfängerfreundlich ist und aufgrund der Erfahrung auch irgendwelche Routenfindungsüberraschungen ausschließen.

    In aller frühe klingelt der Wecker und nach einem sporadisch flotten Frühstück sitzen wir bereits in unserem geliebten Reisegefährt mitsamt der ganzen Skitourenausrüstung und gepackten Rucksäcken, in denen von der notwendigen Lawinenausrüstung über Verpflegung bis hin zu extra Sachen und Energieriegeln alles drin ist, was mit muss. Mit müden Körpern kommen wir auf einem fast völlig leeren Lake-Louise-Parkplatz an, was sich ziemlich ungewöhnlich anfühlt, gemäß dem sonst so normalen Touristengewusel. Wir schlüpfen in die Skischuhe, schnallen uns das Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS-Gerät) um die Brust und stapfen die ersten Meter mit Ski in der Hand zum See. Dort genießen wir kurz die seltene Stille, bevor das Klacken der Tourenbindung den Startschuss in unsere erste Skitour gibt. Nach Prüfung des LVS-Gerätes und kurzer Einweisung von Nicole in die Tourenski-Lauftechnik schieben wir uns gemächlich über den noch dicht waldumschlossenen Weg stets bergauf Richtung Shoel-Valley. Mit zunehmender Höhe lichtet sich langsam das Grün und das Valley mit Blick auf die Sawback-Range tut sich vor uns auf, auch wenn der Blick durch die schwere Wolkendecke am heutigen Tage etwas getrübt ist. Vorbei geht es an alten Lawinenauslaufzonen, die wir bei der Querung unterhalb vom Mt. Fairview auf dem Weg ins Sheol-Tal passieren. Dieses überwunden kommen wir auf dem baumfreien Plateau zwischen Saddle Mountain und Fairview zur Rast. Statt dem geplanten schweißtreibenden Aufstieg zum Mt. Fairview entscheide ich mich dafür, den Charakter unserer heutigen Genusstour beizubehalten und wir nutzen die Rast für Spitzkehrentechnikschule, den theoretischen Ablauf einer Lawinenverschüttetensuche sowie der Verwendung von LVS-Gerät, Sonde und Schaufel im Feld. Für mich eine hervorragende Wiederholung meiner Kenntnisse und für Nicole wichtiges Grundwissen, das jeder Skitourengänger aus dem FF wissen sollte. Nach erfolgreicher Rettung des Patienten und Verstauung aller Utensilien queren wir zunehmend steileres Gelände bis wir an unserer ersten Abfahrt der Tour ankommen. Beim Felle abziehen und der Bindungsumstellung auf Abfahrt werden wir durch ein lautes weibliches Rufen überrascht, welches wir nicht so schnell orten können. Doch da steht sie: bereits auf halber Höhe unserer angestrebten Abfahrt brüllt Lindsay. Nachdem wir durch steiles, leicht bewaldetes Gelände zur ihr vorgestoßen sind, berichtet sie uns davon, dass sie sich etwas verfranzt hat. Aufgrund mangelnder Tourführungskenntnisse hatte sie bereits einige unnötige Aufstiege hinter sich, die sie so viel Kraft gekostet haben, dass sie leicht panisch und unsicher darüber war, wie und ob sie ihren Weg zurück zum Auto findet. Nicole mit ihrer herzlich beruhigenden Art hat ihr zunächst gut zugeredet und schnell war klar, dass wir ab jetzt die Tour zu dritt fortführen werden. Lindsay, aus Utah stammend, war für einen Kurztrip hoch in die kanadischen Rockies gekommen, jedoch waren alle ihre Begleiter kurz zuvor abgesprungen, sodass sie mit ihren Skitour-Ambitionen etwas allein gelassen wurde. Hingerissen von ihrer Motivation gepaart mit mangelnder Vorbereitung oder Erfahrung hatte sie sich selbst etwas in eine missliche Lage manövriert und kann wirklich von Glück sprechen, dass wir uns begegnet sind, da die Tourengängerdichte nicht zu vergleichen mit heimischen alpinen Verhältnissen ist.

    Nach der kurzen Abfahrt legen wir die Felle wieder an und stapfen gemütlich weiter in der gewaltigen Kesselkulisse vom Haddo Peak und Mt. Aberdeen entlang einer schroffen Felswand, welche sich immer weiter empor der 3000er schiebt, ohne ersichtliches Ziel auf welches wir hinsteuern. Die Tour macht ihrem Namen aber alle Ehren und unverhofft eröffnet sich eine nicht erahnte Scharte innerhalb von wenigen Skistapfen: der Surprise-Pass. Da dieser zu steil und bereits angetaut und überfroren ist, schnallen wir die Skier ab und binden sie an den Rucksack, um die letzten 100 Höhenmeter per Fuß zu erklimmen. Schritt für Schritt Tritte mit den Skischuhen hackend, um Nicole und der entkräfteten Lindsey eine sichere Trittleiter zu schaffen. Etwas ausgezehrt, aber Freude strahlend erreichen wir den Sattel und auch wenn keine großartige Sicht auf uns wartet, tut sich dafür ein immer breiter werdender 700 Höhenmeter langer Hang vor uns auf, welcher mich bereits beim ersten Mal mit genialen Pulverschneebedingungen empfangen hat. Nach einer regenerierenden Rast mit belebenden Energieriegeln fühlen sich die trägen Schenkel nun doch bereit für die letzte Herausforderung der Tour. Nochmals kommen Felle ab und die Schuhe werden in Abfahrtsstellung gebracht. Auf geht’s. Das erste Stück etwas eisig und steil, dann kommen wir schnell in den Genussteil: cremiger Powder auf breiter Bahn und nur wenige Spuren, was uns mehr Platz gibt herrliche Schlängellinien in den Schnee zu zeichnen. Nicole, noch etwas unerfahren im wilden Gelände, kommt dennoch sichtlich auf ihre Kosten und nach zunächst vorsichtiger Fahrweise stiebt es auch bei ihr nach kurzer Zeit in jedem schwungvollen Skibogen. Ich fahre voraus, um etwaige Felsen oder andere Gefahren zu erspähen und plötzlich tut sich vor mir eine 4 Meter lange Steinplatte, welche ebenso 3 Meter hinab geht auf, die ich fast übersehen hätte. Ich signalisiere den Damen das Hindernis und setze mich, nachdem sie es galant umrutscht haben, hinter sie. Alle 200 Höhenmeter stoppen wir kurz, damit sich unsere Gruppe nicht zu sehr dehnt und um den weiteren Abfahrtskurs auszuloten. Die Schneekonsistenz wird gen Tal zunehmend schwerer und nasser, zumal der Hang in den Ausläufern normalerweise Sonne ausgesetzt ist, welche den Schnee zusätzlich anschmilzt und umformt. Die letzten hundert Meter fühlen sich an, als würden wir mit angezogener Bremse abfahren – so nass ist der Schnee mittlerweile. Die Abfahrt führt uns zum Südwest-Ende von Lake Louise, wo wir das ehemalige Gletschertal vom Victoria Gletscher bis auf den zugefrorenen See noch abfahren können. Mit breitem Grinsen klatschen wir ab und ein letztes Mal heißt es Felle auf die Ski ziehen und im Gleichschritt geht es über den See an den nun Unmengen an Touristen vorbei, die gar nicht verstehen können, warum wir mit Ski unterwegs sind… Touristen eben. Wir begleiten Lindsay noch bis zum Auto, wo sie uns mit Unmengen qualitativ hochwertigem The North Face - Merchandise von ihrem alten Heliski-Arbeitgeber „Powderbird“ als Dank überhäuft. In unserer bescheidenen Art wissen wir gar nicht so recht, wie uns geschieht und entwickeln eher ein schlechtes Gewissen. Der Dank von Lindsay zeigt aber wahrscheinlich auch, wie froh sie wirklich war, in ihrer Lage auf uns zu stoßen. Nach Umarmungen und einer ernstgemeinten Einladung nach Utah winken wir, als sie in Ihrem SUV vom Platz fährt. Damit geht auch unser erstes gemeinsames Skiabenteuer abseits der Skigebiete zu Ende. Was für ein genialer Tag, wieder einmal einer dieser goldenen Momente, die das Leben schreibt, geprägt von den intensiven Erfahrungen im wilden Hochgebirge.
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