Satellite
Show on map
  • Day 19

    Hartverdientes Fersengeld (Torres 2.Tag)

    January 13, 2018 in Chile ⋅ 🌙 -2 °C

    Fünf Uhr früh sang das Handy sein nerviges Lied, doch konnten wir dem Schlaf kaum entrissen werden, da wir gar nicht erst richtig hineingesunken waren. Obwohl mein Schlafsack eigentlich bis -1,5 Grad ausgelegt sein sollte, schlotterte ich bei ca. 5 Grad die ganze Nacht hindurch und hatte maximal zwei Stunden geschlafen. Eine steinharte Isomatten und Platz für vllt. zwei ausgewachsene Südamerikaner, nicht jedoch Europäer, ließen Chris das gleiche schlaflose Schicksal durchleiden.

    Aber die zweite Tagesetappe und rund 30 km Wegstrecke wollten bewältigt werden. Der Wegabschnitt ist deswegen so lang, da wir heute zwei Etappen kombinieren und ein Camp überspringen, um wie geplant die komplette Tour in nur sieben Tagen absolvieren zu können. So frühstückten wir (warmes Porridge mit Kakaopulver und Rosinen), bauten die Stätte der Insomnie ab und schritten gegen halb sieben in den bereits gedämmerten Morgen hinaus. Der Feuerball erhob sich langsam über die Hügelkette, während wir am Fluss durch Blumenfelder marschierten - sehr malerisch (1). Teilweise waren die Wege noch durch den gestrigen Regen überschwemmt, weshalb manchmal Alternativrouten erarbeitet werden mussten. Das Flussgebiet ging dann bald in ein Seenarreal über (2) an welchen sich ein steiler Aufstieg anschloss, ein kleiner Pass sozusagen.

    Bereits am Fuße des Passes gab es eine Kostprobe auf Nachfolgendes: der Wind blies so heftig, dass es den See aufpeitschte und Seewasser auf den ca. 20 m vom Ufer entfernten Wanderweg wehte - Regen mal anders. Wir dachten uns jedoch nichts Böses und machten uns an den Aufstieg. Auf staubigem Geröll schwitzte man nicht schlecht, da es wirklich extrem steil den Hügel hoch ging. Zunehmend starke Windböen erleichterten das Vorrankommen dabei keineswegs. Als die Steigung abflachte und es auf die in einem Hügelschlauch liegende Kuppe des Anstiegs zuging, hatte der Wind schon so viel Kraft, dass wir kaum zwei Schritte gerade hintereinander setzen konnten. Das war jedoch nichts im Vergleich zu den orkanartigen Böen auf der Kuppe: Chris wurde in die Knie gezwungen und mir, nun aus seinem Windschatten getreten, riss es erst die Sonnenbrille (nötig da sonst die Augen beständig tränen) und dann die Füße weg. So landete ich im kniehohen Gemüse des Wegesrand, bestehend aus feinstdornigem Gebüsch, das mir auch postwendend die Hände, Unterarme und Knie aufriss. Beim Versuch die Sonnenbrille zu retten, wurde ich noch zwei weitere Male zu Boden geworfen. Zwar gelang die Brillenbergung, jedoch verabschiedete sich kurz darauf meine Plastiktrinkflasche, die außen am Rucksack festgespannt war. Aber der Torres nimmt nicht nur, er gibt auch: im zuletzt gebetteten Dornenbusch fand ich einen Buff mit stylischem Tigermotiv, der wohl zuvor einem anderen Opfer entrissen wurde - er leistete mir nachfolgend gute Dienste und wird wohl als Andenken an diesen Moment auch seinen Weg nach Deutschland finden.

    So lagen wir also in die Sträucher gezwungen am Boden und wussten nicht ob wir lachen oder weinen sollten. Solche Naturgewalt hatten wir noch nie am eigenen Leib erfahren. Nach fünf Minuten Luft schnappen und Kräfte sammeln, schafften wir es in einem heroischen Antritt dann aber doch ohne weitere Verluste über die Kuppe. Trotzdem eine unvergessliche Erfahrung!

    Je weiter wir auf den Hügeln wanderten, desto mehr ließ der Wind dann auch wieder nach. Im Regen-Sonne-Mischmasch spannte sich alsbald auch wieder ein motivierender Regenbogen über den Weg (3). Wir eilten weiter zur Rangerstation, die in etwa ein Drittel der heutigen Wegstrecke markierte. Dort trugen wir uns (wie auch so gut wie in jedem anderen passierten Camp) als Überlebende des Wegeabschnitts in ein Logbuch ein, schoben einen Müsliriegel zwischen die Kiemen und gaben wieder Fersengeld - schließlich lagen noch zwei Drittel vor uns. Folgende Passagen gingen wieder durch blumige Steppenlandschaft und zeitweise durch ein Sumpfgebiet, welches man über Balken balancierend zu passieren hatte, die einfach in den Matsch geworfen waren. Entlang kleiner Flüsse (4) schritten wir beständig weiter. Mir schwanden langsam die Kräfte, welche schon am frühen Morgen überbeansprucht worden waren. Aber Chris verrichtete hervorragende Führungsarbeit und so erreichten wir schließlich das wunderschön gelegene Refugio Dickson (5) gegen halb eins. Aufgrund des Planungswahns meiner Wenigkeit Monate zuvor, sollte dieses Camp uns allerdings nur zur Mittagspause beherrbergen.

    So gut hat lang keine Kalorienzufuhr getan: nachdem der Blutzuckerspiegel saturiert war, fühlte ich mich fast wieder im Vollbesitz meiner Kräfte. Beim Essen unterhielten wir uns mit zwei Amis, die sich heute etwa den gleichen Gewaltmarsch vorgenommen hatten. Sie überschütteten mich mit gut gemeinten, jedoch teils komischen Ratschlägen, da sie sich wohl fitness- und erfahrungstechnisch überlegen fühlten, nachdem ich fallen gelassen hatte, dass dies unsere erste Wandertour mit Zeltübernachtungen wäre. Zuletzt verrieten sie uns noch ihren Geheimtipp schlechthin: die Pillen, die sie sich nach dem Essen einschmissen und die wir für Vitaminpräparate gehalten hatten, stellte sich nämlich als Ibuprofen - also Schmerzmittel - heraus. Ohne mit der Wimper zu zucken konstatierte einer der beiden grinsend: "I keep popping 'em in - that's the secret!"

    Nach der bitter nötigen Pause nahmen wir die letzten zwölf Tageskilometer in Angriff. Der Pfad führte größtenteils durch den Wald. Trotz painkiller-Doping ihrerseits konnten wir gut mit den US-boys mithalten. Wir überholten einander im beständigen Wechsel bei kurzen Pausen ca. vier Mal im Laufe des Nachmittags. Manchmal lichtete sich der Wald und gab Blicke auf drei verschiedene Gletscher frei, welche jedoch leider alle aus dichter Nebelsuppe hervortraten und daher kein gutes Fotomotiv abgaben. Dafür hielt ich einen der viele Gletscherflüsse fest, in dem eisige Wassermassen gen Tal donnern (6).

    Der letzte Kilometer zum Camp und Tagesziel 'Los Perros' hatte es aber nochmal in sich. Es ging steile Geröllberge hoch und natürlich setze pünktlich dazu auch noch fieser, eiskalter Regen mit starken Winden ein. Wir mobilisierten die letzten Kräfte und kämpften uns zu dem Zeltplatz namensspendenden Gletscher vor. Dieser lag eindrucksvoll hinter seiner kleinen Lagune, nur ca. 150 m von uns entfernt. Die Witterungsbedingungen machten eine Bannung auf Kamerachip aber leider unmöglich und luden auch keineswegs zum Verweilen ein. Notgedrungen ließen wir die eindrucksvolle Szenerie links liegen und retteten uns in den wind- und regengeschützten Wald in welchem das Camp liegt.

    Die bei 16 $ Campinggebühr erwartete heiße Dusche, bleib allerdings aus, da sich nur eine verrostete Wanne mit Gletscher-Kaltwasserzufuhr offenbarte. Nach Zeltaufstellung blieb also nur ein Abendessen im sehr kleinen und proppenvollen Kochraum, um sich aufzuwärmen. Eine Rentnergruppe (65+) am Nebentisch, die das Torres-Rundumsorglospaket gebucht hatten, welches neben Schlafplatz im fest installierten Kuppelzelt (und daher sehr reduziertem mitgeführten Gepäck) auch jeweils ein Drei-Gänge-Menü am Abend beinhaltet, sorgte nicht umbedingt für Frohsinn. Lauwarmer Couscous mit Maggi-Soße kann gegenüber dampfendem Eintopf und Nutella-Keksnachtisch nunmal nicht mithalten. Zumal die Möchtegernjungtruppe auch noch die Hälfte zurückgehen ließ! Ein etwas frustiger Abschluss eines mörderischen Tages. Aber dafür wartet ja morgen nur die als härteste Teilstrecke beschriebene Passüberquerung...
    Read more