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  • Day 35

    Tag 33: Von Morschen nach Waldeck

    May 12, 2022 in Germany ⋅ ⛅ 17 °C

    Es war einmal eine alte Fährfrau....so dürften die Gebrüder Grimm, die hier im Nordhessischen über die Lande zogen und die mündlich überlieferten Geschichten sammelten und aufschrieben, den heutigen Tag begonnen haben. ..Sie lebte in einem kleinen Dorf in unmittelbarer Nähe zum Städtchen Melsungen in einer kleinen Ferienwohnung. Nachdem sie am heutigen Morgen nach der Explosion ihrer Fahrradflasche mit kohlesäurehaltigem Birnen-Holundersaft noch schnell alles - sogar die Decke - sorgfältig gereinigt hatte, machte sie sich wie jeden Tag auf den Weg. Schon nach wenigen Kilometern kam sie an ihre geliebte kleine Fähre über die Fulda. Aber, oh Schreck, die Fähre, die an stählernen Seilen über den Fluss geführt wird, hatte das Ufer verlassen. Leicht schwankend hing sie in der Mitte des Wassers. Und so begann der Tag der armen alten Fährfrau schon mit schwerer Arbeit. Sie drehte und drehte mit der am Fährsteg befindlichen eisernen Kurbel, bis die Fähre das Ufer erreichte. Und weil auf der anderen Seite schon die ersten Fährgäste warteten, schob sie ihr Fahrrad auf die Fähre, kurbelte und kurbelte erneut (denn auch auf der Fähre gab es nur eine Kurbel) und gelangte nach vielen Minuten erneuter schwerer Arbeit glücklich ans andere Ufer. Und wenn sie nicht gestorben ist (...fast...), dann lebt sie auch noch heute.
    In Melsungen beobachte ich beim Frühstück das lebhafte Treiben der "Bartenwetzer" auf dem Königsplatz am historischen Rathaus. Heute ist Markttag und der Duft aus den vielen Ständen mit primär regionalen Produkten zieht mir um die Nase. Um mich herum ein phantastisches Fachwerkensemble mit den für Nordhessen so typischen roten Balken.
    Es ist schon interessant, dass Namen oder Bezeichnungen bis heute benutzt werden, auch wenn die namensgebenden Zeiten schon längst vorbei sind. Im Mittelalter lebten die meisten Melsunger vom Holzeinschlag und bevor sie zum Holzschlagen in den Wald zogen, trafen sie sich jeden Morgen auf der alten Steinbrücke über die Fulda. Eine kurze männliche Begrüßung und dann wurden am Sandstein der Brücke die Barten (Äxte) gewetzt (geschärft). Die Bartenwetzer-Brücke und die Wetzmulde im Sandstein sind bis heute tatsächlich erhalten.
    Bergauf und bergab verlasse ich durch Wiesen und Wälder das idyllische Fuldatal. Bis zur Mündung der Schwelm unterhalb der Altenburg (mit einer eisenzeitlichen Ringwallanlage) bleibt es wunderschön, ich könnte "AB HOF ERNDE GUDES HEU" mitnehmen und mit weißblühenden Schneebällen mein Fahrrad schmücken.
    Was dann kommt, radel ich möglichst schnell (bei teils heftigem Gegenwind) ab. Kilometerlang nur Zuckerrübenfelder.., an einer riesigen Zuckerrübenfabrik mit dem so typischen Geruch vorbei und endlich erreiche ich Fritzlar mit dem die Stadt überragenden Dom.
    Im Jahr 723 soll der Mönch und spätere Erzbischof Bonifatius zufällig etliche Menschen erblickt haben, die eine Eiche, die dem Gott Donar geweiht war, voller Inbrunst anbeteten. Aus Zorn über dieses heidnische Treiben fällt Bonifatius die Eiche, baut eine Kapelle (jetzt der Dom) und legt damit den Grundstein für die Stadt...Bis heute steht er mit der Axt in der Hand vor dem Dom (er hat wunderbare farbenprächtige Kirchenfenster) und wacht über seine Schäfchen.
    Vom Büraberg, auf dem der Dom steht, habe ich eine tolle Sicht auf die so schöne fachwerkgeprägte Altstadt und auf die Eder, an der ich anschließend entlangfahre. Erst noch mit vielen anderen Radlern, dann bin ich endlich wieder fast allein unterwegs. Das vielstimmige Vogelgezwitscher, die immer ausladender werdenden Ederauen, die rastenden und brütenden Vögel, das mal schnell, mal langsam dahinfließende Wasser...ein unendlicher Genuss!
    Kurz vor dem Edersee habe ich plötzlich Begleitung. Nur noch ein Schneidezahn lächelt mich an und die weit über die Schulter hängenden Haare wehen wirr im Wind. Nach Korbach will er auf seinem High-End Triathlonrad (zu irgendwelchen Skatmeisterschaften). Für die nächsten Kilometer habe ich dann einen "Wasserfall" (aber einen sehr netten) neben mir: "Komm aus Willingen (den Ort im Upland/Hochsauerland kennt jeder Kegel- und Fußballclub, wenn's ums Feiern geht)... hatte da ne echt gut Gaststätte am Laufen...hab se aber in die Insolvenz gefahren..hatte keinen Bock mehr...hab jetzt 250.000 € auf`m Konto...und nur noch ein Zimmer bei meinen Eltern...und mein Fahrrad...fahr überall hin, wo ich Bock hab...wohn meistens bei Freunden...oder im Zelt in der freien Prärie...alles, was ich besitze, hängt hier am Zelt (ist echt nicht viel)....ist echt geil so...
    Plötzlich taucht eine Westernstadt vor uns auf, mit alten Kutschen, nem Office, hölzernen Wohnhäuschen und sogar nem Saloon. Pause! Wir sind in "Zündstoff-City" am Edersee (man kann dort sogar übernachten) und setzen uns zu zwei jungen Frauen. Und wie klein ist mal wieder die Welt, sie sind Polizistinnen und kommen aus Frankfurt. Kurz geschnackt und ein schnelles Getränk und ich bin wieder allein unterwegs. Das letzte Stück durch den Wald muss ich mal wieder schieben, was mir heute aber echt nichts mehr ausmacht. Noch einen wunderbaren Blick auf den Edersee und ich bin in Waldeck angekommen.
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