Satellite
Show on map
  • Day 16

    Dem Zauber entgegen ...

    October 28, 2023 in Andorra ⋅ ⛅ 7 °C

    Manche Orte haben eine Bedeutung, ohne dass man sie je gesehen hat. Ein solcher Ort war für mich immer schon Andorra. Den Namen verbinde ich mit etwas Zauberhaftem, obwohl das Land ganz nüchtern betrachtet nichts anderes ist, als eine Steueroase, etwa so groß wie das Bundesland Bremen, was aber immerhin größer ist als das Stadtgebiet von Köln. Möglicherweise hat Max Frisch schuld daran, oder mein Deutschlehrer im Gymnasium, der uns die Parabel mit dem Namen des Fürstentums rauf und runterdiskutieren ließ und die gesamte Schulklasse zu einem Theaterbesuch verdonnerte. So genau lässt sich das wohl nicht sagen, aber heute soll der Tag sein, an dem ich einen Abgleich mit der Realität machen kann.
    Das Zentrum des kleinen Pyrenäenstaats ist die höchstgelegene Hauptstadt Europas, Andorra La Vella, was in etwa „Andorra das Dorf“ bedeutet. Eine weitere Besonderheit ist die Regierung des Landes: Andorra ist wohl der einzige Staat der Welt, in dem zwei ausländische Amtsträger gemeinsam die Funktion des Staatsoberhauptes wahrnehmen: Der Bischof von Urgell und der franzöische Staatspräsident (in Nachfolge der Grafen von Foix) regieren in einer symbolischen Doppelherrschaft als Kofürsten. Außerdem wird ein andorranischer Regierungschef gewählt.
    Wie zu lesen ist, gab es in den 1930er Jahren einen Kurzzeitkönig in Andorra, ein russischer Immigrant und Hochstapler, der nach nur 9 Tagen Amtszeit vom Erzbischof von Urgell enttarnt wurde.
    Das Land mit solch skurrilen Geschichten, in dem sich eine Mischung aus spanischer und französischer Kultur mit atemberaubenden Landschaften und großen Skigebieten verbindet, taugt vielleicht doch für einen Märchenzauber? Ich beschloss es herauszufinden und einen Punkt meiner Bucket List aufzulösen.
    Nach meiner Wanderung am Vormittag, dem Café con leche und dem Spüldienst im Bus ging es los. Ich verließ Aínsa und beendete damit gleichzeitig meinen ersten Aufenthalt in Spanien. Die mit 216 km kürzestes Routenoption, die über diverse Pässe und durch die beeindruckende Landschaft herbstlichen Pyrenäen führte, lockte mich. Der höchste Punkt der Fahrt lag zwar „nur“ auf knapp 1.800 Meter Höhe, trotzdem erlebte ich hochalpines Gelände. Ich genoss die Fahrt, die sicher auch für eine Ausfahrt mit dem Motorrad taugen würde, das zu Hause in der Garage steht. Oder ausgerüstet mit Wanderschuhen und Rucksack etwa auf dem Fernwanderweg, der die Pyrenäen vom Atlantik bis zum Mittelmeer durchquert? Und während Ich über die passende Gesellschaft für ein solches Vorhaben nachdenke wird mir klar, dass meine Bucket List gerade wieder länger wird …
    Bei einem meiner unzähligen Fotostopps traf ich ein spanisches Paar, das sich gegenseitig vor der Felskulisse fotografierte. Ich bot an, ein gemeinsames Foto zu machen. Wir unterhielten uns kurz in einer Mischung aus spanisch, französisch und Händen und Füßen und begegneten uns noch weitere Male. Sie waren immer vor mir da und beim letzten Zusammentreffen hatten die beiden eine Brotzeit ausgepackt. Als ich mit Kamera bewaffnet aus meinem Bus stieg, ging er zu seinem Kofferraum und holte eine Melone heraus. Eine Melone aus seinem Garten wie er mir auf spanisch erklärt hat. Eine Melone, die die er mir geschenkt hat und die meinen Speiseplan bereichern wird. Es sind diese immer wieder herzlichen Begegnungen, die das Reisen so besonders machen.
    Irgendwo unterwegs hielt ich an einer Tankstelle und bedeutete dem Tankwart, er möge 10 Liter Diesel nachtanken, was er kaum glauben konnte. Er fragte zweimal nach, ob es denn nur 10 Liter sein sollen, führte den Auftrag dann aber bereitwillig aus. Schließlich wollte ich ja nicht mit einem vollen Tank im Steuerparadies ankommen.
    Nach ungezählten Kurven und mit ca. 5 Restlitern Sprit im Tank kam ich endlich an die Grenze zum Zwergstaat in den Bergen mit einem riesigen Angebot an Tankstellen. Ich tankte einmal voll, bezahlte willig die 1,448 € pro Liter, und checkte auf dem Campingplatz der Hauptstadt ein. Nach einer heißen Dusche spazierte ich in die Stadt hinüber und ließ mich in Andorra La Vella in den Abend treiben. Neben „La Noblesse du Temps“, dem 1984 von Salvador Dalí geschaffenen fünf Meter hohen Kunstwerk, welches die Vergänglichkeit der Zeit symbolisiert, fand ich einen ruhigen Platz um bei einem frisch gezapften Bier das muntere Treiben um das Werk herum zu beobachten - das so gar nicht nach Bewusstsein der Vergänglichkeit der Zeit wirkte.
    Irgendwann ging ich irgendwo zum Abendessen, ein eher zweifelhaftes Erlebnis, das in jeder anderen Tourismushochburg dieser Welt nicht anders verlaufen wäre.
    Den Rückweg zum Campingplatz trat ich in Begleitung des Mondes an, der mal hinter, mal durch die Wolken hindurch leuchtete.
    Read more