Satellite
Show on map
  • Day 39

    Freiheit

    January 16 in Portugal ⋅ ☁️ 16 °C

    In Intro zu seinem Song "Pilgrim" sagt Steve Earle, dass alle Menschen das Recht haben sollten auf ein Zuhause. Dies würde ich gerne dahingehend ergänzen, dass jeder Mensch das individuelle Recht hat, seine eigene Form eines Zuhause auch wählen zu dürfen.

    Wir Menschen sollten begreifen, dass wir nur gegenseitig voneinander lernen können, dass wir aber nicht grundsätzlich dazu berufen sind, einander zu heilen. Und somit auch einen behutsamen Umgang miteinander pflegen müssen in der Akzeptanz unserer Andersartigkeit, unserer individuellen Unterschiedlichkeit.

    Insbesondere dann, wenn wir das Handeln, die Lebensweise und die Denksysteme des anderen Menschen nicht verstehen, nicht nachvollziehen können, oder gar ablehnen.

    Niemand hat das Recht, den anderen Menschen aufgrund dessen individueller Entscheidungen - sofern sie sich nicht gegen die Unversehrtheit anderer Menschen richten - zu diffamieren. Du kannst mich kritisieren, wir können über meine Lebensweise reden, und wenn es dich wirklich interessiert, dann würde ich gerne versuchen, dich in mein Leben mitzunehmen. Oder die Gelegenheit wahrnehmen, dich zu verstehen, warum und wieso du eben anders bist als ich oder alles andere, was ich kenne.

    Wirklich 'Brotherhood of Man' zu leben, setzt diese individuelle Akzeptanz des anderen Menschen voraus, weil wir nur so eng zusammenstehen, und miteinander für ein Ziel uns einsetzen können, wenn wir einander diese freundschaftliche Liebe geben, jederzeit bereit zu sein, einander loszulassen.

    Musiker, Künstler, wir Menschen, die von der Straße des Lebens kommen, auf die wir uns jederzeit zurückziehen können, müssen, um durchzuatmen, uns selbst zu begegnen, können unsere individuellen Fähigkeiten nutzen, um diese Botschaften von Freiheit weiterzutragen.

    Deshalb liebe und brauche ich die Musik von Mary Gauthier, Chip Taylor, Steve Earle, Janis Joplin oder Gram Parsons. Die Texte von Christoph Derschau und Wolf Wondratscheck, von Hemingway. Die Bilder eines Van Gogh, eines Banksy, die Taube von Picasso. Die Phantasie meiner Freunde und ihre Freude am Leben. Die Weitsicht und Klarheit, in der Hilde mich begleitet. Den Mut der Menschen auf den Straßen der Welt, die uns zeigen, dass Begrenzungen Gefängnisse sind, die wir uns individuell auferlegen.

    Niemand muss im schnellen Strom einer Gesellschaft leben, die nicht mehr nachdenken will, sondern nur das kurze, vergängliche Glück sucht. Aber um dagegen zu stehen, brauchen wir das Netzwerk gleichgesinnter Menschen, um uns gegenseitig zu stärken und aufzubauen. Das ist die wirkliche, tiefe, vielleicht sogar selbstlos gewünschte Liebe, die wir weitergeben können, annehmen dürfen.

    Manche meiner Aufnahmen haben eine besondere Geschichte. Als ich das Bild von einer Veranstaltung in Nazaré fotografiere, um es in meine Erinnerung mitzunehmen, obwohl ich nicht verstehe, was dort geschrieben ist, bleibt ein alter Mann stehen und beobachtet die Interaktion zwischen mir und dem Bild. Als könne er in meine Seele hineinschauen, lächelt er mich an und beginnt, mir etwas darüber zu erzählen. Ich bedanke mich bei ihm, er nickt mir zu, und springt behende wie ein junger Mann den Hang hinunter, von dem ich kurz vorher ein Bild von der Stadt am Meer aufgenommen habe.

    Die Wiese mit dem Strauß Schlüsselblumen, dem abgerundeten Felsen, und der Andeutung eines wild schäumenden Meeres an seinen Klippen ist eigentlich nichtssagend. Doch genau dort begegne ich Nadine, die eigentlich grade weiterfahren wollte. Dreißig Sekunden später wären wir uns nichts begegnet, wird sie am Abend sagen, als wir miteinander essen und reden.

    Überhaupt fährt sie normalerweise morgens vor dem Frühstück weiter, um es später an einem anderen, schönen Ort zu genießen. Warum das heute anders ist, können wir nur im Nachhinein verstehen. Auf der Treppe zum Meer hinunter nimmt sie mir Hilde ab, damit ich mich aufs Gehen konzentrieren kann. Tatsächlich habe ich vergessen, von dort oben diesen imposanten Eindruck des weiten Strandes und das laute Meer zu fotografieren. Dieses Bild kann ich dir nur beschreiben, in meinen Gedanken hat es sich verfangen.

    Blumen am Wegesrand. Hilde fand es mega peinlich, dass der Papa sie zu einem Stilleben degradieren wollte. Gnädig hockt sie sich daneben, welche Grazie, sich nicht einfach drauf plumpsen zu lassen. Tatsächlich sind die Blüten besondere Geschenke, die es nicht oft gibt. Natürlich leuchten sie aus den gepflegten Gärten über die Mauern. Aber einfach auf meinem Weg zu leben, das überrascht mich immer wieder, sodass ich dir Aufnahmen mitbringe, die du vielleicht langweilig findest, mich erinnern sie an eine besondere Begegnung.

    Heute geht Hilde das erste Mal in den Atlantik. In der Bucht von São Martinho do Porto sind wir ganz alleine am Strand, das Meer schäumt an den Bergen, die den Eingang begrenzen, und gleitet still auf dem Sand aus. Hier verabschiede ich mich ein zweites Mal von Anco @ancou_cou. Wir haben uns auf dem Stellplatz in Nazaré getroffen, waren Nachbarn, haben uns sofort gut verstanden, nehmen die Erinnerung aneinander mit auf den Weg. Nachmittags wird sie an dieser Bucht sein, sozusagen auf unseren Spuren, die die Flut mit sich nehmen wird, vielleicht in Gedanken mit uns verbunden sein.

    Tags zuvor fahren wir durch eine Dünenlandschaft, die noch mehrere Kilometer landeinwärts sich hinzieht. Bei einer Lagune steht dieses mehrdeutige Stopschild an einer einsamen Kreuzung. In einem Kreisverkehr sind alle umgebenden Häuser verlassen, als habe eine Epidemie die Menschen mit einem Mal dahingerafft. Hier kommt mir ein Radreisender in einem so schnellen Tempo entgegen, dass es scheint, er müsse vom Ort fliehen. Gegenüber hält ein neuer Pkw, drei junge Frauen steigen aus, zwei nehmen gefüllte Plastiktüten aus dem Kofferraum, alle drei eilen in den Wald, hinterlassen einen schnellen Blick in die Umgebung. Als ich vorbeifahre, sind sie vermutlich im Haus verschwunden. Später überholen sie uns, bedanken sich für die schnelle, nicht unterbrochenen Fahrt mit ihrer Lichthupe wie mit einem Gruß.

    Als wir wieder ans Meer kommen, dort wo der Leuchtturm von Penedo da Saudade übers Meer leuchtet, sodass ich sein Licht auf dem Stellplatz in Nazaré am nächsten Morgen durch den dunklen Regen blinken sehe, erinnere ich mich an die alte schwarzhaarige portugiesische Zigeunerin, die mich anlächelt und mir Augen macht, an die ich noch lange denken muss. Nicht vergessen zu können ist ein Geschenk, das ich mehr und mehr zu schätzen weiß, desto älter ich werde.

    Auf dem Stellplatz steht zu unserer anderen Seite der Lkw von @mighty_mo_adventure, auf dessen Instagramseite ich zwei Accounts von Menschen sehe, die ich kenne. Und tatsächlich haben die drei Paare Weihnachten zusammen verbracht. Wie klein unsere Welt doch ist. Die hochgebogenen Ruderboote, denen wir begegnen, erinnern mich immer wieder an Venedig, dabei reisen wir an der Atlantikküste Portugal's weiter nach Süden, vielleicht für eine Weile nicht mehr alleine.
    Read more