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  • Day 53

    Die Hummel

    January 30 in Portugal ⋅ 🌬 17 °C

    An der offenen Seitentüre ertönt ein lautes Brummen, gedankenschnell knalle ich die Türe zu, es wird totenstill, und ich meine fast, dass der Wind plötzlich weggeblieben ist. Mein Herz pocht laut, das war denkbar knapp, eine Hummel, die vom Wind in den Bus geweht wird, ist, bei meiner allgemeinen Panik gegen diese stechenden Bewohner unseres Planeten, der Supergau.

    Aber wo ist sie. Vorsichtig öffne ich die Seitentür, sie fällt runter. Rappelt sie ein bisschen auf, bewegt sich vom Schatten des Busses bis zu Sonne. Ich weiß nicht, wie schwer verletzt sie ist, aber ich möchte sie begleiten, stelle mir vor, dass sie meine Augen spürt und Kraft bekommt. Wenn sie stirbt, dann ist sie wenigstens nicht alleine.

    Tatsächlich habe ich keine andere Möglichkeit, ihr zu helfen. Zu groß ist die Sorge, sie könne mich stechen, was durchaus eine gelungene Revanche wäre, weil ich möglicherweise allergisch reagieren könnte. Auch weiß ich nicht, ob sie einen Duft verströmt wie sterbende Wespen, der Artgenossen herbeiruft. Auch aus diesem Grund versuche ich niemals Wespen zu töten.

    Sie hat es bis zur sonnenbeschienenen Stelle im Kies geschafft, versucht es mit Fliegen, aber kommt nicht wirklich vom Boden hoch. Mittlerweile sind wir in einer Art Glasglocke, ich glaube fast, sie wird es wieder schaffen zu überleben. Ich sammele meine ganze Energie auf sie, wenn sie es über die Erhöhung schafft, die sie trennt von der feuchten Erde, dann kann sie vielleicht Flüssigkeit in sich aufnehmen.

    Plötzlich fliegt sie ein kleines bisschen und landet auf der feuchten Erde, wo ich sie nicht mehr sehen kann. Ich sende ihr meinen Abschiedsgruss nach und fahre weg, muss an einer anderen Stelle mit Hilde spazieren gehen.

    Heute bin ich wieder auf dem Platz und könnte über den kleinen Hügel schauen, ob sie noch dort ist. Ich werde es nicht tun, weil ich glaube, dass sie es geschafft hat. Und wenn nicht, dann habe ich mein Bestes gegeben, um ihr zu helfen.

    Das ist Sozialarbeit pur. Wir können die Welt nicht retten, geschweige denn die verletzten, misshandelten Menschen, aber wir können ihre Wege ebnen, ihnen beibringen, wie sie Hindernisse überwinden können. Aber letztendlich müssen sie selber in der Lage sein, weiterzuleben.

    Und dabei bin ich doch in Rente. Aber dann darfst du auch keine Biografie über Janis Joplin lesen. Weil das ist Schmerz pur. Zum einen reißt es alte Wunden auf, von denen ich eigentlich dachte, ich hätte sie unter vielen Binden gut verschlossen, weil sie einfach nicht heilen wollten. Sehnsucht ist durchaus eine solche Wunde, meine Arroganz gegenüber manchen Menschen eine andere Wunde. Die frühen Verluste, an denen ich auf die ein oder andere Weise mitverantwortlich bin. Aber auch die Wege, die uns in verschiedene Richtungen getragen haben.

    Natürlich bleibt bei einer solchen Biografie auch der naive Traum auf der Strecke, dass Janis Joplin ein tolles Leben gehabt hat. Damit haben wir uns versucht zu retten, wenn wir an Jim Morrison, Brian Jones, Gram Parsons, Janis Joplin denken, die mit 27 Jahren gestorben sind. Jimi Hendrix gehört dazu, Amy Winehouse und Kurt Cobain.

    In einem bemerkenswerten Artikel dazu, habe ich folgende These gefunden.

    "Der Facharzt Borwin Bandelow vermutet außerdem, dass viele Mitglieder des Club 27 am Borderline-Syndrom litten. Borderline Symptome sind unter anderem Impulskontrollstörungen, der Drang zum Selbstverletzen und Suizidalität. In einer Studie fand er heraus, dass Borderline-Betroffene durchschnittlich im Alter von 26,9 Jahren ihren schwierigsten Höhepunkt erreichen und dadurch besonders Suizid gefährdet sind."

    https://www.delamar.de/fun/club-27-69587/

    Natürlich brennt meine Seele als Sozialarbeiter, wenn ich lese, was ich weiß, und auch welche Folgen ein solches Leben auf die seelische Gesundheit hat. Sind wir doch alle Kinder dieser Kriegs- und Nachkriegsgeneration, mit Eltern, die gehofft haben, es gäbe ein neues Leben, wenn sie die alten Verletzungen einfach vergessen.

    Warum ich überlebt habe. Ich habe schon eine Ahnung, letztendlich glaube ich schon, dass Gott mich bewahrt hat, dass die Gebete meiner Eltern einen Schutz um mich gelegt haben. Wenn sie schon nicht mehr viel zu geben hatten, weil der Krieg mehr als ihre Jugend zerstört hat, so konnten sie mich wenigstens los lassen.

    Ich weiß noch, als mich mein Vater an einem Tag zur Autobahnauffahrt gebracht hat. Ich war in diesem kritischen Alter, da habe ich ihm gesagt, dass ich glaube, verrückt zu werden. Nein, das wirst du nicht, sagte mir der Mann, der Heiligabend 1944 an die Front nach Stalingrad musste, sechs Wochen im Schützengraben gekämpft hat, und erst 1947 aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien zurückgekehrt ist.

    Weihnachten hätten wir schon damals ausfallen lassen sollen, nicht erst über eine Generation später. Nein, das wirst du nicht. Diese fünf Worte haben mich in mancher Situation gerettet. Sie werden mein Mantra bis zum letzten Atemzug sein.

    Wir sind in Sagres geblieben, fahren zweimal am Tag zu den beiden Stränden, Castelejo und Cordoama, über den Berg hinter dem Ort Vila do Bispo. Morgens spazieren wir oberhalb des Strandes Mareta in Sagres über die Steilküste. Tagsüber schauen wir ein bisschen in der Umgebung herum, wenn wir nicht auf dem Kiesplateau stehen in Wind und Sonne, wo ich auch diese Geschichte geschrieben habe.

    So sind alle Bilder von diesen Orten.
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