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  • Day 86

    Mit dem Schicksalszug nach Norden

    June 3, 2023 in the United States ⋅ 🌙 27 °C

    Liebes Tagebuch. Heute war es endlich so weit. Wir sollten mit DEM Schicksalszug reisen. Viele Wochen war er immer an uns vorbeigefahren und hatte uns mit seinem Getute aufgefordert einzusteigen. Ich war schon ganz früh aufgewacht, weil ich so aufgeregt war. Frisch machen. Ich will ja einen guten Eindruck hinterlassen. Vor der Abfahrt machten wir noch ein paar Besorgungen im mexikanischen Supermarkt: Cocoswasser, Fruchtglibber, Milchreis, Mango, Melone, Papaya und ein Stück Kuchen. Die Fahrt muss gefeiert werden. Leider ist Alkohol an Bord verboten. Wir waren etwas früh am Bahnhof. Da stand er, der Schicksalszug. Meine Hände fingen an zu schwitzen und mein Gesicht errötete. Aber wir durften noch nicht eintreten. Erst musste noch rangiert werden. Gelenkig und wie eine Grazie wechselten die Wagons den Gleis. Dann war boarding time. Im Gegensatz zu deutschen Bahnhöfen verhalten sich alle völlig entspannt. Niemand drängelt, meckert oder verhält sich sonstwie daneben. Ja und dann passiert es. Ich betrete den Zug. Was für ein Gefühl. Ein langer Traum wird wahr. War ich wirklich hier her gekommen um den PCT zu wandern oder war meine Bestimmung schon immer mit dem Schicksalszug zu fahren?
    Wir finden einen guten Platz. Das der Zug vor Abfahrt schon Verspätung hat erinnert an die DB. Hier ist es mir egal. Das heißt für mich einfach mehr Zeit in meinem Zug. Eine kurze Ansage und dann rollt er los. Ganz sachte. Es ruckelt. Ich bin aus dem Häuschen. Mariam versucht mich zu beruhigen. Vergeblich. Er rollt und rollt. Die Landschaft die ans uns vorbeizieht sieht immer gleich aus: Pistazienplantagen, Bewässerungskanäle, flache dürre Landstriche zwischendurch und entlang der Gleise verläuft ein Highway. Wir halten in diversen Orten. Aus Zügen heraus kann man ja immer gut in die Hinterhöfe einer Stadt schauen. Das Bild ist meist gleich: Bruchbuden, Müll, Armut und mehr Müll. Schon ziemlich heftig wie die Menschen in ihren kaputten Zelten im Unrat hausen. Da wird einem mal wieder das Privileg bewusst, dass wir zur Zeit leben. Wir haben uns dafür entschieden stinkig in einem Zelt zu leben. Unsere Klamotten sind zwar zerschlissen, aber wir könnten uns sofort neue kaufen. Unsere Zelte wiegen ein paar Gramm und haben mehrere hundert Dollar gekostet. Welcher Rucksack darf es sein? Aus Dyneema, Xpac oder doch Ultra200? Den Gaskocher für 70€ nehm ich auch noch. Bah, ich stinke nach Schweiß und Dreck, aber heute Abend kann ich im Hotel duschen. Die Fahrt im Schicksalszug macht nicht nur euphorisch, sie macht auch nachdenklich. Nach fünf Stunden erreichen wir Stockton. Auch hier das gleiche Bild der Armut. Nur noch krasser. Hier müssen wir den Zug verlassen, um in den Bus nach Sacramento umzusteigen. Wehmütig packe ich meine Sachen zusammen. Ist die Fahrt wirklich schon zu Ende? Es scheint so. Schön war sie. Danke Schicksalszug. Du bist zwar nicht der Schnellste, aber trotzdem hast du einen Platz in meinem Herzen.
    Hier noch ein paar Eindrücke. Verzeiht meine gedämpfte Stimme. Ich wollte nicht den ganzen Zug teilhaben lassen:
    https://youtu.be/QunfFL3AfBY

    Der Bus steht schon bereit und wir geiern uns die erste Reihe mit Highway Panoramablick. Uns erwarten noch ein bisschen mehr als eine Stunde fahrt. Mit Musik in den Ohren vergeht die Zeit flott und schon stehen wir am Bahnhof der Hauptstadt von Kalifornien: Sacramento. Auch hier das gleiche Bild der Armut. Traurig. Obwohl überall Obdachlose sind wird man nie nach Geld gefragt. Höchstens nach einer Zigarette.
    Aber ich habe auch das Gefühl das erste mal seit zwei Monaten in einer richtigen Stadt zu sein. Mit "normalen" Menschen. Man fällt hier nicht auf, selbst als Hiker ist man allen egal. Ist mal was anderes wieder. Vom Bahnhof, der gerade mal zwei Gleise hat, sind es noch 20 Minuten zu Fuß bis wir das Hotel erreichen. Der Weg führt entlang des Sacramento River. Wir setzen uns erstmal kurz und beobachten ein paar Angler. Sogar einen Seelöwen sehen wir im Fluss. Diese Tiere kommen aus dem Meer bis hier hochgeschwommen wie uns Google verrät, da wir erst dachten wir hätten Nessie von Amerika gesichtet. Dann schnell einchecken und nochmal zum Mexikaner nebenan. Die Salsa ist etwas fade und die Magaritas nicht stark genug. Dafür sind die hausgemachten Tortillas der Knüller. Wohl genährt und erschöpft von der langen Reise fallen wir ins Bett und ziehen uns noch nen paar Wrestling Fights im TV rein. Der Raum riecht nach Hiker. Unsere gesamte Ausrüstung mockert. Ein bisschen Trail haben wir mitgenommen.
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