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  • Day 20

    Santiago - es ist kompliziert

    January 21, 2020 in Chile ⋅ ☀️ 27 °C

    Mit Santiago de Chile erwartet uns bereits die dritte Hauptstadt auf unserer Reise. Es ist keine Liebe auf den ersten Blick. Wir erreichen am Morgen den lärmigen Busbahnhof. Es ist bereits jetzt drückend heiss. Mit der Metro fahren wir ins Zentrum, wo wir unsere Wohnung gemietet haben, müssen aber noch bis am Nachmittag ausharren. Es ist Montagmorgen und entsprechend hektisch auf den Strassen und Trottoirs. Vorbei sind wohl für viele Geschäftsleute die Weihnachts- und Sommerferien. Schuhputzer bieten in vielen Strassen ihre Dienste an und bei der Plaza de Armas spielen viele, vor allem ältere Chilenen Schach. Wir irren herum – auf der Suche nach einem schönen Café, um an unserem Reiseblog weiterzuschreiben und zu planen, was wir in der Stadt sehen möchten. Doch nirgends ist ein lauschiges Café in Sicht, stattdessen sehen wir rund ein halbes Dutzend Steh-Cafés, in welchen vor allem männliche Gäste von Frauen in viel zu kurzen Röcken bedient werden. Wir sind nicht mal ganz sicher, ob es sich wirklich nur um Cafés handelt. Unser Guide wird uns tags darauf erklären, dass diese Cafés in den 70er-Jahren entstanden sind und sich in dieser Form bis heute erhalten haben. Schliesslich landen wir bei Starbucks – nicht gerade typisch chilenisch. Bei all dem Trubel ist ein bekannter Hafen aber manchmal wohltuend.

    Am ersten Tag streifen wir etwas lust- und orientierungslos durch das Zentrum von Santiago. Die Hitze und die Unordnung werden uns etwas zu viel. An diesem Abend freuen wir uns sehr, dass wir eine eigene Küche haben und wieder mal selbst kochen können. Einen Haken hat es zuerst allerdings. Wo bloss gibt es einen Supermarkt? Zwar haben wir beim Mercado Central bereits einige Früchte erstanden, brauchen aber noch weitere Zutaten für Pasta mit Gemüse. Wir klappern Strasse um Strasse ab, finden aber nur kleine Kioske und zig Kleiderläden. Zu unserer Orientierungslosigkeit kommt noch hinzu, dass es auf den Strassen nur so von Leuten wimmelt und wir uns deutlich weniger sicher fühlen als in den Tagen zuvor. Als wir nach einer rund einstündigen Suche dann doch noch einen Supermarkt finden, heitert sich unsere Laune schnell wieder auf. Wir geniessen einen Teller Pasta in unserer viel zu heissen Wohnung mit Blick auf die Innenstadt.

    Nächster Morgen, 8 Uhr: Wir stehen – noch etwas müde – mit unserem Guide Pablo vor der Absperrung zur Moneda, der einstigen Münzprägeanstalt von Chile, wo sich heute der Sitz des Präsidenten befindet. Grund für die Absperrung sind die Proteste, welche seit Herbst in Chile immer wieder stattfinden. Die Moneda war auch Schauplatz eines dunklen Kapitels der chilenischen Geschichte. Am 11. September 1973 organisierte das Militär unter General Pinochet einen Putsch und stürmte die Moneda. Der sozialistische Präsident Salvador Allende nahm sich das Leben, nachdem die Moneda von der Luftwaffe bombardiert wurde. Die Militärdiktatur dauerte bis ins Jahr 1990. Während dieser Zeit wurden rund 13 400 kommunistische oder linksgerichtete Chilenen, Menschen mit einer Verbindung zur Regierung oder Gewerkschafter verhaftet, viele davon gefoltert und bis zu 4000 Menschen ermordet. Das Museum für Menschenrechte gibt uns einen Einblick in diese düstere Zeit und die grausamen Verbrechen. Auch in den bisher bereisten Ländern Argentinien und Uruguay wurden während den Militärdiktaturen in den 70er- und 80er-Jahren schlimme Verbrechen begangen. Die Regime dieser Länder arbeiteten im Rahmen der Operation Condor auch zusammen, um vermeintliche Dissidenten sogar im Ausland zu verfolgen und umzubringen.

    Noch immer hat Chile eine Verfassung, welche mitten in der Ära des Pinochet-Regimes entstanden ist. Doch dies soll sich nun ändern. Millionen von Chilenen gingen im Herbst 2019 auf die Strassen, um unter anderem eine neue Verfassung zu fordern. Im kommenden April wird eine Abstimmung darüber stattfinden. Die Proteste sind deshalb jedoch keineswegs vorbei. Chile ist eines der Länder Lateinamerikas mit der grössten Ungleichheit, was – so finden wir – in Santiago gut sichtbar ist. Gemäss unserem Guide Pablo zielen viele Forderungen daher auch darauf ab, die Lebenssituation für die unteren Schichten zu verbessern. So werden ein höherer Mindestlohn, höhere Renten und eine bessere Gesundheitsversorgung gefordert. Auch sollen Naturparks oder natürliche Ressourcen wie Wasser nicht an Konzerne verkauft werden dürfen. Entzündet haben sich die Proteste im Oktober an der Ankündigung des rechten Präsidenten Sebastián Piñera, die Preise der Metrotickets um 30 Pesos zu erhöhen. Dies entspricht zwar weniger als einem Rappen, für viele Chilenen, die am oder unter dem Existenzminimum leben, summieren sich solche Preiserhöhungen aber enorm. Es erzürnt die Massen, dass gerade die Armen, welche die Metro nutzen, die Zeche bezahlen sollen. Angeprangert wird auch das mehrheitlich privatwirtschaftlich organisierte Bildungssystem, das sehr teuer ist. Schulabsolventen in Chile müssen in vier Fächern eine Prüfung zur universitären Auswahl ablegen. Je nach Punktzahl erhält man einen Zugang zur Uni. Die Kurse für diese Prüfungen können sich jedoch nur Gutbetuchte leisten und die öffentlichen Schulen erreichen das erforderliche Niveau für diese Prüfung zur universitären Auswahl oft nicht. Chancengleichheit sieht anders aus. Aus Protest gegen dieses Aufnahmeverfahren verbrannten tausende Schüler an 80 verschiedenen Schulen ihren Prüfungsbogen. Rund 300 000 Schüler konnten in der Folge ihre Prüfung nicht ablegen, es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen. Eine Wiederholung dieser Prüfung fand Ende Januar unter strenger Polizeikontrolle statt.

    Wie heftig die Proteste in den letzten Monaten in Chile gewesen sein mussten oder immer noch sind, lässt sich uns zu diesem Zeitpunkt nur erahnen. Ganze Strassenzüge sind voll von Schmierereien und Graffitis. Piñera soll sterben, der Staat ist ein Mörder und dergleichen findet sich hundertfach. Diese Wut, dieser Hass ist etwas beängstigend und das politische Klima so ganz anders als wir es von der Schweiz gewohnt sind. Auch die Zahl sechs Prozent prangert an vielen Fassaden. Es entspricht dem mickrigen Zustimmungswert, welcher Präsident Piñera derzeit noch hat. Auch Denkmäler, Statuen und Kirchen wurden wüst verunstaltet. Der Eingang zu einigen Metrostationen ist mit Abfall versperrt und zugemauert und wir müssen einen weiten Umweg durch Gebiete gehen, wo wir teils ein etwas mulmiges Gefühl haben. Wir besuchen mit Pablo auch die Plaza Italia im Gebiet Baquedano, dem Epizentrum der Proteste. Spürt ihr es, fragt er uns. In der Tat, wir haben ein seltsames Gefühl in der Nase und ein Beissen in den Augen. Tränengas, das an warmen Tagen vom Boden aufsteigt, erklärt er uns. Wir werden noch nähere Bekanntschaft damit machen. Während den Tagen in Santiago spüren wir eine Anspannung, es liegt etwas in der Luft – die Ruhe vor dem Sturm. Und tatsächlich ist es eine gute Woche nach unserem Aufenthalt in der Hauptstadt wieder zu mehr Demonstrationen gekommen, mehrere Menschen starben, Supermärkte wurden geplündert und in Brand gesetzt. Wir haben also Glück gehabt, gerade während den Sommerferien in Santiago zu sein, während viele noch in den Ferien weilten und die Unis noch geschlossen waren.

    Nach einem Tag mit vielen Infos über die Geschichte Chiles und die aktuelle Lage im über 4000 Kilometer «langen» Andenstaat brauchen wir tags darauf etwas Erholung. Wir besuchen den Fischmarkt der Stadt – Lachs, kleine Haie, Krabben, und und und werden hier feilgeboten. Die meisten Fische kennen wir nicht mal mit Namen. Weiter geht es zum Blumenmarkt, wo es schön ruhig ist und gut duftet. Im Gemüse- und Früchtemarkt sind wir beeindruckt über die Auswahl und den Sortenreichtum. Es gibt Esswaren, welche wir noch nie gesehen haben. Am liebsten möchten wir alles probieren. Anschliessend geht es mit der Standseilbahn auf den Cerro San Cristobal, der viel weitläufiger ist, als wir angenommen haben. Der rund 1800 Hektaren umfassende Hügel ist das Naherholungsgebiet der Stadt. Da oben ist die Welt eine andere. Es ist ruhig und man geniesst einen tollen Ausblick auf die Stadt. Nur die Andengipfel, welche sich unweit der Stadt in die Höhe türmen, lassen sich kaum sehen. Liegt wohl am Smog, obwohl uns brasilianische Touristen erzählen, dass die schlechte Sicht auf den Rauch der australischen Buschbrände zurückzuführen sei. In einer farbigen kleinen Gondel schweben wir einige hundert Meter über den Hügel, wo wir bei der Mittelstation aussteigen. Hier wartet eine sehr schöne und gepflegte Badi auf uns. Huch, tut die Abkühlung gut. Wir wähnen uns so gar nicht mehr in einer Grossstadt. Unser erstes Badi-Erlebnis ist ein voller Erfolg. Eine weitere Premiere ist der Mote con Huesillos – ein Getränk, das man in Chile an allen Ecken und vor allem an den Strassenständen kaufen kann. Es handelt sich dabei um eine sirupartige Flüssigkeit, in welche eine getrocknete und gesüsste Pfirsich eingelegt und geschälter Weizen beigegeben wird. Gut, es mal probiert zu haben, das Sommergetränk schmeckt aber nur dem kulinarischen Kuriositäten nicht abgeneigten Simon.

    Roseline braucht dringend einen Rucksack. Ihre Tasche hat sich für lange Busfahrten und Wanderungen als ungeeignet erwiesen, weshalb wir das Costanera Center besuchen. Ein riesiger, moderner Shopping-Komplex, bei dem sich der Gran Torre befindet. Der Wolkenkratzer ist mit 300 Metern das höchste Gebäude Südamerikas. Das Costanera Center ist ein krasser Gegensatz zu den armen Gegenden in Santiago, zum chaotischen, lärmigen Mercado Central oder zu Strassen in der Innenstadt. Dort gibt es an einer Strasse jeweils nur Lampenläden, an einer anderen Strasse wiederum sind diverse Optikergeschäfte zu finden. Im Costanera Center präsentieren sich jegliche Ladenketten, welche auch in Europa und Amerika präsent sind, und wir fragen uns, wer sich all diese Luxusartikel überhaupt leisten kann. Praktisch ist, dass es eine ganze Ebene mit Outdoor-Shops gibt, was das Vergleichen von Rucksäcken wesentlich erleichtert und bald können wir die Mall zufrieden und mit plus einem Rucksack wieder verlassen.

    Schon bricht der letzte Abend in Santiago an. Die Stadt hat uns zwar nicht ganz so gefesselt wie Buenos Aires, aber nach ein paar Tagen haben wir sie irgendwie trotzdem liebgewonnen. Und es gibt durchaus tolle Ecken – etwa das schmucke Barrio Lastarria, wo wir ein tolles vietnamesisches Essen genossen haben, den Cerro San Cristobal oder den Gemüsemarkt La Vega. Am letzten Abend gönnen wir uns einen Kinobesuch, bei dem Glace und Getränke teurer sind als der Film. «Jojo Rabbit», ein englischsprachiger Film, mit deutschen Liedern (er spielte während der Zeit von Hitler) und spanischen Untertiteln – irgendwie verwirrend, irgendwie cool. Irgendwie ein bisschen wie Santiago.
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