• FalkenraubmöweMitternacht

    11. Juni

    June 11, 2024 in Sweden ⋅ ☁️ 3 °C

    Obwohl ich schon um sieben aufstehe, komme ich doch erst gegen neun los, mußte am Morgen noch Winterreifen aufziehen. Es hat bis mindestens um Mitternacht geschneit. Es ist nicht absonderlich kalt, entsprechend ist der Schnee nass und es taut. Ich lasse mir trotzdem ein Bad im Bach am Morgen nicht nehmen, wer weiß, wann wir wieder Schnee kriegen. Während der Weg von der Hütte aus nach einer Hängebrücke erst mal für einige Zeit lang steil aufwärts geht, ist jeglicher Pfad jetzt als Rinnsal ausgebildet, in dem ich nass in nass laufe. Oben auf dem Plateau wird es mehr ein stehendes Gewässer, so dass das Wasser tiefer ist, in dem ich die ganze Zeit rumpatsche. Erstmals heute auf dieser Reise sehe ich ein paar Falkenraubmöwen. Ich beobachte sie erst mal genau, da ich eine Erinnerung der besonderen Art vom nördlichen Kungsleden habe, hier ist mich eine der Möwen damals mehrfach angegangen. Ist dann immer sturzflugartig bis ca. 3m auf mich zugeflogen. Diese hier sind aber friedlicher. Die einzigen sonstigen Begleiter neben dem Wind heute am Morgen sind Goldregenpfeifer, die ich schon seit Wochen wahrnehme. Sie machen immer und immer wieder ein und denselben Piep, das begleitet mich durchaus eine halbe Stunde lang. Er fliegt 50m weiter, sitzt dort wieder, piept mich an, das geht ewig lange so und stört durchaus manchmal meinen Gesang. Schließlich bin ich eh, was das betrifft, auf wackligen Knien unterwegs und dann stört jemand konsequent immer wieder den Takt, da bin ich raus.
    Trotz der tief hängenden Wolken ist es immerhin trocken von oben und ich hoffe, dass meine Schuhe heute recht lange Freude an dieser Art des Wanderns haben werden. Mein Respekt gilt ja heute den Wanderern mit Trailrunnern. Die laufen unter diesen Umständen in wenigen Minuten voll, trocknen können sie aber kein bisschen.
    Der Pfad als solches ist oftmals nicht zu erkennen und er folgt glücklicherweise aktuell dem Winterweg, wie passend, so dass ich mich tatsächlich eher an den roten Kreuzen orientiere. Dann komme ich an einen Wasserlauf, der zwei Seen verbindet.
    Hier heißt es einmal die Wanderstöcke rauszuholen und zumindest das Telefon wasserdicht zu verstauen. Dann gehe ich vorsichtig über die am höchsten liegenden Steine durch das Wasser. Gegen elf geht’s dann auf ein Tal zu, das schon von weitem grün leuchtet, geschneit hat es da unten nicht. Auf dem Weg runter ins Tal begegne ich der ersten Rentierherde. Sie haben junge Kälber dabei, die noch recht klein sind. In der Größe habe ich sie noch nie gesehen, wirklich niedlich. Ich stoppe sofort und setze mich auf einen Stein, einerseits um sie ein wenig zu beobachten, andererseits ist das die Grundregel, nicht weiterzugehen, sondern zu warten und Ihnen Zeit zu geben, so dass sie nicht fluchtartig verschwinden müssen. Es ist inzwischen ein großes Problem, wie ich schon in den letzten Jahren erfahren habe, als ich hier im Norden unterwegs war, dass die Anzahl der Menschen draußen immer mehr zunimmt und immer mehr „Streetflowers“ dabei sind, völlig unerfahren in der Natur und immer scharf auf ein Foto. Entsprechend werden die Tiere so oft gestört am Tag und müssen flüchten, dass die Ureinwohner, die Samis, damit massive Probleme haben, die Kälber groß zu bekommen. Zum Beispiel achtet das Muttertier, mit dem die Kälber typischerweise unterwegs sind, bei schneller Flucht nicht auf das Kalb, sie verlieren sich also sehr schnell und finden dann nicht wieder zueinander. Damit ist das Ende für den Youngster besiegelt.
    Ich dehne das Ganze aus auf meine erste, längst überfällige Pause und es ist schön zu beobachten, wie sie nach kurzer Zeit schon wieder total ruhig sind. Die Kälber wieder gesäugt werden, sie grasen und langsam weiterziehen.
    Auf dem Weg hinab ins Tal nehme ich wahr, dass die Vegetation hier deutlich hinter der ist, die ich bis jetzt so gesehen habe. D.h. die Birken als auch das Weidengestrüpp sind teils gerade erst am Blühen. Das zeigt, dass die Gesamtbedingungen hier deutlich rauer sind als in der südlicheren Gegend, wo ich bisher war. Unten im Tal an einem Shelter mache ich nochmal eine Pause, hier begegnet mir ein älteres wanderndes Ehepaar, das scheinbar auf einer Tageswanderung ist. Sie sollen auf dem Weg heute die einzigen Menschen bleiben, die ich treffe. Und die Rentiere sind hier überall, ständig kommen wieder kleinere Herden dahergezogen.
    Aus dem Tal raus zieht es sich steil im Wald hoch in der Nähe eines größeren Bachlaufs.
    Ziemlich weit oben ist ein schöner Wasserfall und kurz danach muss ich dieses Gewässer überqueren. Das werde ich heute noch weitere fünf oder sechs mal tun. Dazu baue ich wieder alles um nach dem Standard-Procedere, allerdings immer mit den Wanderschuhen.
    Wieder auf dem freien Plateau angekommen, pfeift ein scharfer Wind und ich fühle mich sehr schwach, seitdem es steil hoch auf den Berg ging, sodass ich ständig stehe und Pause mache und mir sehnlich in 3km die nächste Hütte wünsche. Auf dem Weg dahin überlege ich, ob ich dort bleibe. An der Rasthütte Svaaletjahke angekommen esse und trinke ich noch mal was, lege mich dann eine Runde hin und schlafe und so wird es sechs, bis ich wieder aufwache. Bis zur nächsten Hütte sind es 8km und nachdem ich eine Zeit lang hin und her geknobelt habe, entscheide ich mich doch, noch einmal aufzubrechen. Draußen rum ist es aktuell trocken, allerdings weiterhin sehr kräftiger Wind aus West, der mich als laufende Schrankwand gut im Griff hat. Nach dieser Pause läuft es sich wieder geschmiert, da war ich wohl unterzuckert vorhin. Dann begegne ich wieder einer Falkenraubmöwe, die ich dieses Mal sogar toll einfangen kann. Es geht jetzt leicht abwärts in ein grünes Tal, ich kann kilometerweit den Pfad erkennen.
    Gegen acht wird es für heute zum ersten Mal richtig hell, für zehn Minuten kommt die Sonne raus und es gibt eine Portion blauen Himmel, ein wunderbarer Moment.
    Gegen neun erreiche ich die Fjällstuga Fältjägaren, deren Name wohl keiner Übersetzung bedarf. Und den sie in Gedenken an drei Feldjäger bekommen hat, die hier bei einer Übung im März 1944 bei einem Schneesturm ums Leben gekommen sind. Und nachdem ich es seit Tagen erwarte, ist es heute soweit: Ralf, der Holländer sitzt hier schon seit dem Nachmittag und hat Feuer an. Seit über zwei Wochen sehe ich auf dem Pfad immer wieder einen bestimmten Schuhabdruck, von dem ich immer annahm, es kann nur seiner sein, er ist mir nicht weit voraus. Und so kralle ich mir erstmal gleich einen seiner Wanderstiefel und Bingo, das Profil passt. Was für eine Freude, da wird es beim Essen und Plaudern doch gleich wieder Mitternacht.
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