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  • Day 278

    Zufriedenheit

    June 12, 2018 in Peru ⋅ ⛅ 19 °C

    Ich bin verliebt in Peru. Ein besonders schöner Moment war, als ich vor einiger Zeit in Huanchaco im Norden in einer Hängematte eines Eco-Hostels Gebrauchsanweisung Peru gelesen habe. Ich sage bewusst vor einiger Zeit, denn eine der elementarsten Lernerfahrungen für mich hier ist der Wandel meines eigenen Umgangs mit Zeit, Vergangenheit und Zukunft. Ich konnte mit der Autorin des Buches sehr gut sympathisieren, denn sie schrieb davon, dass das Zeitverständnis hier in Peru nicht linear ist, sondern zirkulär. Davon habe ich schon mal in meinem Studium was gehört, viele indigene Kulturen, aber auch bspw. die tibetische oder peruanische nehmen Zeit nicht als limitiert war. Vielmehr ist das Leben, ebenso wie die Natur, ein Kreislauf. Wenn man mal das Gedankenspiel macht, dass es die menschliche Rasse nicht mehr gäbe, das Konzept Zeit würde ebenso nicht mehr existieren. Natürlich ist in Grossstädten wie Lima schon lange der Einfluss der Globalisierung angekommen und Zeit im westlichen Sinn gewinnt immer mehr an Bedeutung. Momentan lese ich ein Buch auf spanisch, el poder del ahora von Eckhart Tolle, was mich so sehr bereichert wie nur sehr wenige Bücher in meinem Leben. Es kommt mir vor, als wäre es auch genau im richtigen Moment in mein Leben getreten. Dass Sprache Realität prägt, habe ich glaube ich schon mal erwähnt. Aber kein Tag vergeht, an dem ich nicht darüber nachdenke, was das alles für Konsequenzen hat. Der Europäer, der hier nur für einige Tage herkommt, erlebt mit Sicherheit die Peruaner als laut und gesprächig. Das liegt aber daran, dass die Kommunikation hier auch einen ganz anderen Stellenwert hat und nicht so effizienzorientiert wie bspw. im Deutschen ist. Das selbst hinterfragen zu können, das kostet viel Arbeit. Auch habe ich lange gebraucht, um anzuerkennen, dass der für das fremde Ohr eher „raue“ oder „dominante“ Ton der Sprache hier oft notwendig ist, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, vor allem im Umgang mit Kindern und Jugendlichen.

    Als Arbeit empfinde ich meinen Freiwilligendienst schon lange nicht mehr. Ich verbringe einen Grossteil meiner Freizeit hier im Heim, denn die Educadores und die Jugendlichen sind meine Familie hier. Dass ich im Heim die Möglichkeit habe, viel mit Pflanzen zu arbeiten und wir auch einen eigenen Garten habe, gibt mir Hoffnung, inmitten des ganzen Smogs und Stau hier Leben zu kreieren.
    Ich geniesse sehr viel Vertrauen und Freiheiten und kann mich neuerdings auch kulinarisch entfalten: Wir empfangen von einer grossen Supermarktkette täglich Spenden. Da Juan, mein Direktor, mich auch zu dem Kennenlerntermin mitgenommen hat, bin ich mit der Koordinatorin, die für supermercados peruanos arbeitet, auch über Facebook im Kontakt und bekomme noch mehr von sozialen Organisationen mit. Soziale Netzwerke werden hier anders genutzt, denn Privatsphäre hat einen niedrigeren Stellenwert beziehungsweise es wird mehr und bereitwilliger geteilt, um auch noch mal den Bogen zur Sprache zu spannen: Es macht keinem was, wenn im Bus jemand anders mitliest oder mithört. Da wird einem erst klar, dass das wiederum wohl etwas kulturell deutsches ist und vermutlich nicht zuletzt aus der jüngsten Vergangenheit des Landes stammt, wo man aufpassen musste, was man seinem Nachbar erzählt.

    Dass man mein Gesicht mittlerweile an verschiedensten Orten kennt freut mich und führt natürlich umso mehr dazu, dass ich mich hier wie zuhause fühle. So sehr, dass ich meinen Freiwilligendienst gerne um sechs Monate verlängern möchte. Ich bin Via unendlich dankbar dafür, mir das Jahr hier ermöglicht zu haben und auch wenn ich schon die Vermutung hatte, dass es positive Veränderungen mit sich bringt, so geht das, was ich hier erlebe, über alles hinaus. Mir ist aber auch wichtig zu erwähnen, dass das meine persönliche Erfahrung ist. Auch bin ich hier andererseits schon vor Herausforderungen gestellt worden, die mich unter Stress gesetzt haben. Aber tatsächlich spüre ich sichtlich, wie ich gerade an diesen Erfahrungen gewachsen bin. Mir, nachdem mir mein Rucksack mit Handy, Geldbeutel und Klamotten im Reisebus entwendet worden ist, von einer fremden Dame einen Sol für die Heimfahrt zu erbitten beispielsweise. Dass mich dann der cobrador ohne nachzufragen für die Hälfte des Fahrtpreises mitnimmt, hat mir etwas wertvolles gezeigt: Man hilft sich, wohl weil man weiss, wie es ohne Geld ist.
    Montagabends bin ich oft bei einer anderen Freiwilligenarbeit, manos que ayudan, wo wir Essen zubereiten und anschliessend im historischen Zentrum von Lima verteilen, an Leute, die in der Strasse schlafen. Die Dankbarkeit und das gracias hermano, was ich dort erhalten habe, werde ich nie vergessen, das hat mich wirklich mitten ins Herz getroffen. Für ein paar kurze Augenblicke schenkt man den Personen nämlich nicht nur eine warme Mahlzeit, sondern vor allem Respekt und Aufmerksamkeit, was das System Kapitalismus ihnen in seiner momentanen Form leider nicht erlaubt. Da wir das ganze Brot, was wir im Heim gespendet bekommen, gar nicht verwerten können, habe ich auch schon einige Personen auf dem Rückweg vom Supermarkt, die sich jeden Tag auf mich freuen. Dass ich diese Tätigkeit verrichten darf, ist für mich etwas ganz Besonderes. Das schöne ist, dass ich hier mit Menschen aus verschiedensten Lebensabschnitten in Berührung komme und es ergibt sich schnell die Möglichkeit für ein Gespräch, so lerne ich noch viel mehr über die peruanische Kultur. Neulich zum Beispiel wurde mir erzählt, dass sich die ganze Verkehrssituation über die letzten Jahre in Lima stark verbessert hat.

    Immer mehr komme ich auch mit kulturellen Netzwerken und Angeboten in Kontakt. Neulich wurde ich spontan kostenlos in ein Theaterstück eingeladen, weil noch Plätze übrig waren, es wurde lediglich gebeten, danach ein kurzes Feedback zu geben. Zu Lesungen gehe ich in die nueva acropolis oder in Tempel der Hare-Krishna-Gemeinschaft und lerne verschiedene Blickwinkel auf das Leben und Zufriedenheit kennen, die mich und meine Gedanken stimulieren, etwas, was mir in meinem deutschen Alltagstrott oft gefehlt hat. Philosophie habe ich tatsächlich als ein neues Hobby entdeckt und in Kürze werde ich hier einen dreimonatigen Kurs anfangen. Was mir hier sehr gut gefällt, ist zum Beispiel, dass sich hier weniger über sein Schicksal beschwert wird. Ich selbst habe hier noch mehr als in Deutschland zu meiner inneren Mitte gefunden und bin sehr glücklich, was mir Meditation und Spiritualität hier geben.
    Eine andere spannende Frage ist für mich hier die Präsenz von Religion beziehungsweise die Tatsache, dass mehr als 90% der Peruaner sich als katholisch identifizieren. Eine für mich sehr stereotypische Erklärung wäre, dass aufgrund des fehlenden technischen Fortschritts die Menschen noch abergläubischer sind. Da aber hier definitiv mehr Menschen am oder unter dem Existenzminimum leben, macht die marx’sche Erklärung des „Opium fürs Volk“ für mich schon ein stückweit Sinn. Dabei möchte ich keineswegs den Glauben als etwas unrealistisches abtun, denn für mich persönlich stehen Spiritualität und Wissenschaft keineswegs im Gegensatz zueinander, sondern ergänzen sich vielmehr.

    Als Englischlehrer habe ich einmal die Woche die Möglichkeit, etwa 20 Schüler darauf aufmerksam zu machen, dass die Tatsache, dass im Spanischen alles entweder männlich oder weiblich ist einen Einfluss auf die Wahrnehmung hat. Allgemein macht es mir sehr viel Spass zu unterrichten und ich gehe darin regelrecht auf. Das ist auch etwas, was ich mich für meine persönliche Zukunft vorstelle, Menschen auf ihrem Weg zu begleiten.

    Neulich habe ich von Rosa, der Sozialarbeiterin hier, ein sehr schönes Lob bekommen. Sie meinte ich sei multifacético und stürze mich ohne dass ich aufgefordert werden muss, in verschiedenste Themen. So eine grosse Unterstützung, wie ich dem Heim gebe, hat sie selten gesehen. Das hat mich natürlich sehr gefreut und ich habe geantwortet, dass ich das aber auch mit Freude mache.

    Deswegen will ich hier sechs Monate verlängern und bin daher momentan auf der Suche nach Spendern und Spenderinnen. Kontaktiert mich bitte über Facebook oder Mail: kevincyrusbrown@protonmail.com, wenn ihr unterstützen möchtet :-)

    Euer Kevin

    P.S. im Anhang sind diesmal Fotos vom Kompost, den wir selber machen, Pflanzen und Kokedamas, alles selber gemacht.
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