• Nightride nach Istanbul

    May 22–23 in Turkey ⋅ ☀️ 28 °C

    Lüleburgaz - Istanbul: 180km; ca. 9h

    Ich weiß so gar nicht wie ich mich fühle. Glücklich? Ja irgendwie schon. Ausgepowert? Eigentlich nicht. Bereit auf die letzte Etappe? Absolut nicht!!!

    Jetzt liegt Istanbul tatsächlich nur noch 180km entfernt. Eigentlich zu viel für eine Etappe aber ich hege nun schon lang die Idee: bei Sonnenaufgang nach Istanbul einzufahren. Zum einen (wer mich kennt, weiß das) liebe ich Sonnenaufgänge und eine Sonnenaufgangstour muss auf jeder Reise dabei sein! Zum Anderen hat das einen ganz pragmatischen Vorteil:
    Wir umgehen die Rush Hour und das Verkehrschaos in der fast 20 Millionen Einwohner Stadt. Manu möchte sich bei diesem Abenteuer in meinen Windschatten hängen. Zu zweit ist auch besser auf so einer Tour und jetzt sind wir so weit (teilweise zusammen) gekommen, klar beenden wir das jetzt auch gemeinsam!!

    Wir starten spät nach einem gemütlichen Morgen, mit Fahrradpflege, Blogeintrag, Kaffee, letzte Telefonate bevor ich nicht viel Hoffnung habe, in Istanbul noch zu irgendetwas zu kommen, außer Ciköfte essen und völlig überrannt zu werden von unzähligen Eindrücken. Wir starten also (wer hätte es gedacht) nach dem wir die Reste unseres 1 Kilo Ciköfte Abendessens verputzt haben, motiviert in unserer letzte Etappe:

    13:00 Uhr: Vamoooooos! Wir entscheiden uns für unsere letzten 180km für den längeren aber schöneren Weg. Vorbei an unendlichen Feldern, knallrotem Mohn, hindurch durch quirlige Städte, wo wir versuchen Mittagspause zu machen. Das gelingt uns an öffentlichen Plätzen in der Regel überhaupt nicht. Egal wo wir kurz anhalten ruft uns jemand zum Tee. Im Park sitzend mit unserem riesen-Dürüm, dauert es keine Minute, bis wir von einheimischen Umgeben sind, die uns auf türkisch versuchen zu überreden hier zu bleiben, ihre Gastfreundschaft und Schlafplatz anbieten und wir energisch werdenderem Ton erwidern: dass wir jetzt nach Istanbul wollen. (Ihr wisst: "sonst erreichen wir Istanbul nie!"). Meine deutsche Hoffnung, beim Essen meine Ruhe zu haben, ist hier so wahrscheinlich wie Sauce im Kebab: nicht vorhanden! Wir üben uns also im "Nein" sagen und genießen trotzdem diesen fordernden und gleichzeitig energiegebenden inspirierenden Vibe voller Teilhabe und Interesse...
    Wir fahren weiter. So weit, bis wir einen zu einladenden Platz finden mit Blick auf ein wunderschönes Tal, angestrahlt vom Sonnenuntergang. Es ist zu schön, als hier nicht zumindest ein paar Stunden Rast zu machen.

    19:30 Uhr: Bei Sonnenuntergangsblick über einem wunderschön gelegenem Tal stärken wir uns mit Brotzeit und dem Rest meines Dürüms, den ich aufgrund der Stadt"belagerung" nicht zu Ende essen konnte.
    Wir entscheiden hier ein paar Stunden zu Ruhen. 95 Kilometer sind es noch bis zur Hagia Sophia, Zentrum Istanbul...

    00:00 Uhr: Geisterstunde! Fahrradstunde! Einen Wecker brauchen wir nicht um aus dem Schlafsack zu krabbeln. Während Manu gar nicht geschlafen hat, habe ich wenigstens 1 Stunde geschlummert und bin trotzdem weit vor dem Wecker wieder aufgewacht. Zu groß ist die Aufregung vor unserem bevorstehenden Nightride. Schnell ist alles zusammengepackt, Wasser aufgefüllt, "High 4" (unser running gag, weil Manu nur 4 Finger an der rechten Hand hat) und los! Wir schwingen uns auf unsere Drahtesel in die Nacht!
    Die Nacht ist hier lau. Es ist kaum ein Auto auf der Straße. Die vorbeiziehenden Dörfer erstrahlen in goldenem Licht mit grünem Schein im Herzen, der immer leuchtenden Moschee. Vorbeifahrende Autos grüßen uns freundlich mit Lichthupe (und denken sich wahrscheinlich ihren Teil zu diesen 2 verrückten Radfahrern, mitten in der Nacht).

    02:45Uhr: Erste Pause am Fuße einer Moschee eines kleinen Dorfes. Außer einer sich nach Zuneigung sehnenden Katze, bekommt hier keiner etwas von uns mit. Das Dorf umgibt uns friedlich schlummernd und wird nur von Manus lautem und sympathischen Lachern zu kurzem Leben erweckt und von den Straßenhunden aus der Entfernung mit lautem Bellen erwidert.
    Straßenhunde begegnen uns tatsächlich unglaublich viele und die nehmen Nachts Ihren Job als "Dorfsheriffs" auch manchmal beängstigend ernst. Die Drohgebärden lassen uns das ein oder andere Mal stärker in die Pedale treten. Aus unseren vorangegangenen Reiseerfahrungen wissen wir dies allerdings inzwischen einzuordnen. Es ist ein "Wau Wau" auf Abstand. Und ist das mal nicht der Fall, kommt der Bauer aus dem Haus und führt uns an seinem "Wachpersonal" vorbei. Ja auch für die Doggies ist das sicher ein Bild, was es nicht jede Nacht zu sehen gibt. Die meisten schlafen daher einfach weiter, nicht selten Mitten auf der Straße. Wir lassen die schlafenden Hunde schlafen und ehe Sie das Schnäuzchen heben sind wir schon lautlos vorbeigezogen.. noch 60 Kilometer bis zur Hagia Sofia!!

    03:30 Uhr: Es ist inzwischen kalt geworden. Nachdem ich mir in der Pause schon meine Jacke angezogen habe, ziehe ich nun auch die lange Hose drüber.
    Am Berg fahren wir unser Tempo, oben treffen wir uns wieder. Gerade als ich denke, wir haben uns gut eingepegelt und ich am Ende der Steigung auf Manu warte, erscheint mir die Wartezeit schon recht lang. Ich sehe Manu auch nicht mehr. Kurz darauf höre ich laute Rufe. "FRAAAANZIIII!" "Manu??" rufe ich zurück. Keine Reaktion! Scheiße! Ich drehe um und rufe weiter laut nach Manu. "MANUUUUU?!". "FRAAANZI" ertönt es kurz darauf zurück. Über dieses "Mäusschen-Mäusschen-piep einmal"-Spiel finden wir uns kurze Zeit später wieder. Was für ein Schock!
    Manu hat die falsche Abfahrt genommen und nicht mehr zurück zur STraße gefunden. Ich muss dazu sagen: Manu ist auf einem Auge blind. Und auch wenn er zwar sagt, er sieht ganz normal, sind Situationen wie diese öfter passiert und ich bin doppelt froh, dass wir auf diesen letzten kräfte- und konzentrationszährenden Kilometern gemeinsam unterwegs sind. Von jetzt an fahren wir nicht mehr separat!
    Die meisten Kletter-Kilometer haben wir nun aber auch hinter uns, womit wir nun eigentlich unseren sachten bergab-Abschnitt erreichen. Die Außentemperatur fühlt sich so allerdings noch kälter an... Und wieso sehe ich noch immer keinen Sonnenaufgang??!

    03:45 Uhr. Der Muezzin ruft zum ersten Gebet des Tages. Morgendämmerung! Endlich!

    04:59 Uhr. Wir erhaschen einen ersten Blick auf das was uns da blüht... noch 40 Kilometer bis zur Hagia Sophia.

    05:34 Uhr: Die Sonne geht auf! Istanbul erhebt sich um uns herum wie eine Schachtelstadt. Umso höher die SOnne steigt umso reger wird der Verkehr. Über Autobahnbreite Straßen zieht uns die Metropole immer mehr hinein zum Herzen der Stadt und wir beginnen ihren Pulsschlag bereits zu erfühlen.Obwohl tendenziell bergab, fordern uns nach über 150km in den Beinen, einige kurze steile Anstiege unsere letzten Energireserven ab... noch 30 Kilometer bis zur Hagia Sophia

    06:30 1 Börek, 2 Pide, 3 Kaffee, 1 Schokobrötchen. Frühstück in Istanbul! Die Sonne wärmt inzwischen unsere kalten Glieder. Es ist direkt wieder bullig warm. Die Leute beginnen beschäftigt durch die STraßen zu wuseln, tragen ihre verschlafenen Augen ins Tageslicht während wir uns gefühlt noch wie mitten in einem Traum befinden. Unsere Glücksgefühle noch unter einem Deckmantel der Anstrengung und unwirklichkeit versteckt. Vor allem Manu, dessen längste STrecke bisher 150km lang war, wächst hier über all seine Grenzen hinaus. Der Kaffe tut gut. Trotzdem habe ich das Gefühl, beim schließen meiner Augen instand einschlafen zu können. Also Auf auf! noch 10 Kilometer bis zur Hagia Sophia. Der Berufsverkehr ist inzwischen in vollem Gange und wir schlängeln uns gekonnt durch hupende Autos, Taxis, Busse...

    08:50 Uhr Hagia Sophia! Foto, Ice Cream für viel zu viel Geld, sacken lassen... Wir sind am Ziel! Was da bedeutet, können wir hier noch nicht greifen.
    Aber nach 20 Stunden, 180km, kurzer Schlafpause und einer Fahrt durch die türkische Nacht, scheint die Sonne zwar schon hoch am Horizont, aber unsere Müden Augen und Glieder sehnen sich nun erstmal nach einem kuscheligen Bettchen... :) iyi akşamlar!
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