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  • Day 70

    Survivor

    January 9 in India ⋅ ☀️ 18 °C

    Triggerwarnung: Es wird dramatisch.

    Wie beschreibt man das Schlimmste, das man bisher erlebt hat? Spricht man überhaupt darüber? Veröffentlicht man es im Blog? Ich teile es mit euch, in der Hoffnung, dass es eure Dankbarkeit und Wertschätzung für das Leben genauso bestärkt wie meine.

    Ich tue mir schwer mit diesem Blogeintrag.
    Die Sätze sprudeln von selbst, wollen unbedingt vom Kopf aufs Papier, aber die Worte selbst stolpern zäh. Keine Beschreibung will so richtig passen, das Ausmaß erfassen, dem Ereignis gerecht werden. Es gibt Schrecken, den Worte nicht erreichen können.

    Kurz vor 10 Uhr am Morgen und wir sind mal wieder spät dran für den Check-out. Immer dieses Rumgeeier am Morgen, ich bin genervt. Tejas, die alte Trödeltante! Auf auf auf! Er flitzt schuldbewusst zur Tür raus, um unsere Wäsche aus dem Atrium abzuhängen, ich wusel derweil durch den Raum und sammel den Krimskrams zusammen.

    Ein lautes Krachen.
    Ein Mädchen schreit.
    Stille.
    Ich stehe für drei Sekunde bewegungslos, horche, verstehe. Das Adrenalin kickt, ich sprinte instinktiv los. Der Moment, in dem ich um die Ecke biege, erscheint rückblickend wie eine Ewigkeit: ein Fuß zerrt vorwärts: schnell helfen! Der andere Fuß drängt rückwärts: verstecken! Die Entscheidung wird mir vom Schwung der Bewegung abgenommen und ich schieße um die Biegung.
    Der schmale Durchgang zum Atrium liegt vor mir. Ein Bild, das sich für immer ins Gehirn eingebrannt hat. Ich sehe braune Beine auf dem Boden unkontrolliert zucken. Vicky, der Hotelbesitzer, mit weit aufgerissenen Augen auf dem Boden kniend, zwei Hotelgäste umschlingen sich verängstigt zur Linken.
    Ich höre mich selbst in Endlosschleife: "No. No. No. No..." sagen, als ich näher komme. Tejas liegt inmitten von Schutt, auf der Seite, das Gesicht ausdruckslos, eine rote Pfütze breitet sich rasend schnell unter seinem Kopf aus. Ich knie nieder, meine Hände wandern über seinen Körper, wissen nicht wohin. Ich halte den Kopf, seine Augen sind geöffnet, streifen mich unfokussiert. Er ist vom Dach gefallen, begreife ich. Plötzlich ein Aufbäumen, er schlägt um sich, windet sich in Schmerzen. Die Hände krallen sich fest in meine Arme. "I can't take it" presst er leise heraus. Seine weißen Zähne sind blutverschmiert, die Pfütze hat schon meine Knie erreicht. Es fühlt sich an als würde meine Seele zerbrechen, die innere Qual ist unermesslich. Meine Hände wandern minutenlang suchend durch sein dichtes Haar, aber ich kann die Wunde nicht finden. Das Blut scheint von überall gleichzeitig aus ihm zu sickern. Ich weiß nicht wo ich drücken soll. Ich rufe dem Paar, das noch immer festgewachsen am Flur steht zu, sie sollen einen Krankenwagen rufen.

    Wir sind alleine im Atrium. Bodenlose Verzweiflung verschluckt mich. Tejas beruhigt sich schlagartig. Ich mich auch. Wir haben aufgegeben. Ich halte sein Gesicht fest, sein Name ist mein unendliches Mantra. Endlich hält er Blickkontakt.
    Er stirbt, er stirbt hier und jetzt, denke ich mit einer ruhigen Gewissheit.
    Ich bin taub für die Umgebung, der Geruch von Gips und Blut liegt schwer in der Luft. Völlige Gedankenfreiheit in meinem Kopf.
    Die Zeit bleibt stehen. Ein grauenvolles Stillleben.

    Die Seifenblasen in der Tejas und ich gefangen sind platzt, als Vicky und sein Cousin heranstürmen. Die zwei dürren Männer wuchten Tejas zwischen sich hoch "Ambulance!" rufe ich, "Tuktuk!" erwidert Vicky, schon auf halbem Weg die schmale Treppe runter. "Hospital! Challo!", die Anweisung an den Fahrer. Wir brausen in den dichten Verkehr. Ich halte Tejas in aufrechter Position, er hängt schwer in meinen Armen. Sein Kopf baumelt schlapp, Blut tropft von seinen Haarspitzen. Meine Armbeuge wird warm und nass, er blutet immer noch. Ich erschrecke als er unerwartet den Kopf hebt "Julia. What happened actually?"... "you fell off the roof and got injured, I'm taking you to a doctor", "...ooooh. shit! ... Do you have my cellphone?", "yeah I have all your things, don't worry." Tejas Kurzzeitgedächtnis beschränkt sich auf 10 Sekunden, dieses Gespräch führen wir unverändert wieder und wieder bis wir nach 20 Minuten endlich das Krankenhaus erreichen.
    Der Tuktukfahrer und ich wuchten Tejas in die Notaufnahme. Im düsteren Eingangsbereich stehen und liegen arme Menschen im Dreck, es riecht sauer nach Körpern. Alle Köpfe, die noch dazu fähig sind, drehen sich zu uns um. Im Behandlungszimmer angekommen schiebt mich eine Krankenschwester zum Waschbecken, ich soll mich erst mal waschen. Ich schaue verdattert auf meine verschmierten Hände. Ein Moment des Begreifens: Tejas Überleben hängt nicht mehr von mir ab, die Profis übernehmen jetzt. Ein Zittern fährt mir durch den Körper und ich fange nun doch noch zu Weinen an. So jemand kann man hier nicht gebrauchen, ich werde unter Protest aus dem Zimmer geworfen. Hinsetzen und Klappe halten lautet die Anweisung. Ich platziere mich vor der offenen Tür, 6 Ärzte plus Tuktukfahrer stehen um Tejas Kopf. Mit einer Trägheit die mich zur Weißglut treibt, behandeln sie seine Verletzungen. Ab und an kommen schaulustige Patienten hinzu und erkundigen sich nach der Ursache für die flennende Ausländerin auf dem Flur. Tejas Hand baumelt bewegungslos über die Pritsche, ich bin völlig darauf fokussiert und leide fürchterlich. Mehrfach werde ich zurechtgewiesen, ich soll das Heulen endlich sein lassen. Sobald ich aufstehe, werde ich zurück auf den Hocker befohlen. So viele Ärzte und keiner spricht mehr als 2 Sätze Englisch, keine Möglichkeit mich zu erkundigen. Tejas wird aufgesetzt, er ist bei Bewusstsein. Die linke Seite seines Kopfes ist kahl geschoren, zwei fingerlange Platzwunden wurden mit dicken Fäden zusammengenäht. Drei Doktorinos versuchen ihm gemeinsam einen Verband anzulegen und scheitern. Ich rase innerlich... Ihr Vollpfosten habt das doch studiert, das ist doch nun wirklich nicht schwierig... wo sind wir hier gelandet?!
    Der engagierte Tuktukfahrer hilft den überforderten Ärzten mit dem Verband. Was zum Geier.

    Vicky taucht auf, endlich jemand der versteht und sich kümmert. Wie hätte ich das alles nur ohne ihn geschafft? Wir stützen Tejas zwischen uns und befördern ihn zum Röntgen. Weder Rollstuhl noch Liege wird bereitgestellt, es wurden nicht mal die Vitalwerte überprüft. Das Röntgengerät wird von drei Halbstarken bedient, die nicht älter als 20 sein können und so gelangweilt und desinteressiert drein schauen, wie es nur Teenager können. No-one gives a shit.
    Tejas muss frei stehen für die Aufnahmen. Vicky und ich positionieren uns viel zu nah am Röntgengerät als dass es harmlos für uns wäre... angespannt, bereit ihn aufzufangen, falls er kollabiert. Tejas Blick ist trübe, aber konzentriert. Keinen Schmerzenslaut hat er in der gesamten Zeit im Krankenhaus von sich gegeben.
    In meinem Bauch tobt Wut und Verzweiflung, ich möchte am liebsten einen Arzt am Schlawittchen packen, schütteln, zwingen die Behandlung ordentlich und ernsthaft durchzuführen.

    Später sitzen Tejas und ich im Flur, Vicky läuft den Röntgenaufnahmen hinterher, die versehentlich einem anderen Patienten mitgegeben wurden. Endlich scheint er wieder klar bei Sinnen zu sein, er trägt sein typisches, unzerstörbares Lächeln. Ein Stein fällt mir vom Herzen.

    Im nächsten winzigen Behandlungszimmer liegen 4 Patienten kreuz und quer auf Pritschen, der Boden ist verdreckt, überall Blutkleckse und andere eklige Anblicke. die Ärzte, die kaum von Patienten zu unterscheiden sind, wirken übernächtigt und genervt. Der Po einer ausgehungerten Dame liegt entblößt, einem jungen Mann werden die Schrauben aus dem Schienbein gedreht, mittendrin ich, die hier überhaupt nichts zu suchen hat, aber nicht von Tejas Seite weichen will. Ein Doktor unterbricht seine blutige Behandlung, klebt mit ungewaschenen Händen unsanft große fixierende Pflaster auf den Zacken (verborgenes Schlüsselbein), der aus Tejas Schulter steht. Eine Unterschrift auf den Schmierzettel und damit ist er offiziell entlassen, die Behandlung beendet. Ich hake nach: muss er nicht überwacht werden? Was ist mit MRT und CT scan? Infusionen? Nicht in India.

    Zurück im Hotel wage ich es nicht aus dem Zimmer zu gehen, als mein Patient (der sich nun wieder in meiner alleinigen Obhut befindet), eingeschlafen ist. Ich horche aufmerksam auf seine Atmung und komme selbst überhaupt nicht zur Ruhe. Ist die Gefahr nun wirklich gebannt? Was, wenn er innere Blutungen hat? Ich beratschlage mit Vicky, Max und Nora...
    Am selben Abend geht's zum CT Scan, Tejas wird nicht nach seiner Zustimmung gefragt. Ich zahle die Untersuchung bereitwillig, es ist eine Investition in mein eigenes Seelenwohl. Beinahe fange ich wieder zu weinen an, als der Arzt Entwarnung gibt.

    Ich kann es noch immer nicht fassen... Er ist aus unerfindlichen Gründen durch die Brüstung, drei Metern auf den harten Steinboden im Atrium gestürzt. Keiner seiner Knochen ist gebrochen, nur der ein oder andere angeknackst, das Schlüsselbein verrutscht und ein paar Muskeln gerissen. Die Platzwunden sind tief, aber der Schädel intakt. Ich kenne Leute, die sich beim Treppelaufen den Fuß verdreht und drei Knochen gebrochen haben. Wie kann er so einen Sturz leicht verletzt überstehen?

    Schon zwei Tage später ist er wieder munter, seine größte Sorge ist der wilde Haarschnitt der ihm in der Notaufnahme verpasst wurde. Eitel und albern wie eh und je. Er hat eine Gedächtnislücke und ist sich nicht bewusst, wie knapp er dem Tod von der Schippe gesprungen ist. Ich hingegen bin traumatisiert, immer wieder fange ich davon an: "I'm so glad, you survived"
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