• Affentheater in Borneo

    March 22, 2024 in Malaysia ⋅ ⛅ 32 °C

    Der Fluglärm wiegt mich in den Schlaf. Ein Auge fällt schon zu, während ich im Halbschlaf noch die scharfen Konturen der Sonnenstrahlen bewundere, die sich vor dem Fenster durch die dunkle Wolkendecke kämpfen. Jenseits der Wolken herrscht strahlender Sonnenschein, und die Wolken dicht unter mir zeichnen sich mit klaren Linien ab wie Wattebäusche; sie wirken wie eine unendlich große Spielwiese. Es ist faszinierend, dass diese beiden Welten so nah beieinander existieren – wie Himmel und Hölle.

    Das Rütteln des Landeanflugs weckt mich. Zurück durch die Wolken, bietet sich mir ein beeindruckendes Bild: Aus dem grauen Schleier der Wolken zeichnet sich ein homogener Untergrund ab. So weit das Auge reicht, sehe ich nur gleichförmige Palmen, ordentlich in Reih und Glied gepflanzt. Ein eigentlich hübscher Anblick aufgrund der Symmetrie auf dem hügeligen Untergrund. Doch die schier unendliche Größe verschlägt mir die Sprache. Ganze Urwälder wurden abgeholzt, um Platz für die Palmölproduktion zu schaffen. Wow.

    Die Unterkunft befindet sich am Rand des Dschungels. Ich sitze beim Abendessen auf dem erhöhten Holzdeck, und sobald die Sonne untergegangen ist, erfüllen Geräusche den dunklen Busch um mich herum: Zirpen, Rascheln, Fiepen und Schnattern... An der Rezeption wird mir geraten, nachts vorsichtig zu sein, wenn ich zur Toilette gehe, da allerlei Wildtiere auf dem Gelände unterwegs sind. Nach einer unruhigen Nacht werde ich beim Frühstück von einem Mann in beigen Tarnanzug angesprochen: „Did you see? Did you see?“ fragt er aufgeregt und zeigt auf das Blattwerk hinter mir. Ich beäuge den Baumstamm und entdecke nach einiger Zeit den zusammengerollten Körper einer großen Schlange in einer Astgabel. Der Herr erklärt mir, warum dies eine außergewöhnliche Sichtung ist, aber ich kann mein Privileg nicht nachempfinden, da ich zu wenig über die örtliche Flora und Fauna weiß. Nun gut, eine seltene Giftschlange direkt neben meinem Frühstücksplatz – das ist schon was aufregendes, oder?
    Später spreche ich meine Sitznachbarin an und wir verbünden uns für eine Aktivität: die Beobachtung der Fütterung der semi-wilden Orang-Utans im angrenzenden Reservat. Ein schmaler Holzsteg führt durch den Dschungel, die Bäume ragen zu beiden Seiten weit in den Himmel hinauf. An jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken: eine außergewöhnliche Raupe, die mit ihrer ungewöhnlichen Färbung und langen Härchen aussieht wie ein erfundenes Fabelwesen, oder eine Spinne, die ein merkwürdiges, kreuzförmiges Netz spannt. Man kommt aus dem Staunen (und manchmal auch ekeln) nicht mehr heraus.
    Am Fütterungsgehege angekommen, ist das Orang-Utan-Frühstück bereits in vollem Gange. Wir beobachten die Kletterkünstler, wie sie an Lianen und Seilen zwischen den Plattformen herumschwingen. Die massigen Körper sind mit orangem Fell bedeckt, die muskulösen Arme sind eineinhalb Mal so lang wie die kleinen Beine. Alle Besucher schauen ehrfürchtig zu, wie sich die Tiere die Bäuche mit Früchten vollschlagen. Immer wieder höre ich leise Gesprächsfetzen, die alle dasselbe Thema behandeln: die frappierende Ähnlichkeit zwischen Mensch und Affe. Ich kann nicht genau erklären, warum dies eine so verstörende Wirkung hat, aber auch ich bin von der Mimik und Gestik der Tiere zugleich beunruhigt und fasziniert. Die Abgrenzung zum Menschen scheint gering. Obwohl die Beobachtung nur kurz ist, kann man ein soziales Gefüge innerhalb der Affengruppe erkennen – wer das Sagen hat, wer sich unterordnet und wer Konflikten lieber aus dem Weg geht.

    An einer anderen Beobachtungsplattform sehen wir eine Affenmutter, um deren Bauch sich ein kleines Baby klammert. Das Tier nimmt sich einige Früchte, schwingt sich auf eine hohe, waagerechte Liane, löst die Händchen des Babys und führt sie zum Seil. „Hier festhalten“, scheint sie ihm sagen zu wollen. Das kleine Geschöpf tut wie geheißen und guckt verschlafen in die Runde der Zuschauer. Derweil futtert die Mutter ihre Früchte. Was für ein Schauspiel! Man hört viele „Oooh“s und „Aaah“s auf der Menschenseite, es ist ein rührender Anblick.

    Im Anschluss wandern wir gemeinsam durch das Gelände und fotografieren begeistert die verschiedenen unbekannten Insekten, die wir auf dem Weg finden. Es ist heiß und schwül, wir hängen an unseren Wasserflaschen, und die Sonnencreme sowie das Mückenschutzmittel verbinden sich mit dem Schweiß zu einer klebrigen Schutzschicht gegen die äußere Einflüsse.

    Am Abend machen wir Bekanntschaft mit dem Engländer Ross. Wir verstehen uns auf Anhieb und albern zur Abkühlung im Pool herum. Es tut mir gut, wieder in Gesellschaft zu sein, und ich genieße die Zeit mit den beiden in vollen Zügen. Endlich ein bisschen Spaß und Unbeschwertheit!

    Später begegnen wir der Gruppe Profi-Fotografen aus der Lodge, die in voller Tarnmontur auf dem Holzsteg stehen und mit ihren monströsen Kameras ein für mich unsichtbares Objekt verfolgen. Scheinbar nimmt ein exotischer Vogel in der kleinen Pfütze eines Palmenplattes ein Bad in 20 m Höhe. Einer der chinesischen Fotografen zeigt uns auf seinem Telefon eine seiner Aufnahmen: ein wunderschöner Vogel, bunt und gestochen scharf. Dieses Foto könnte das Titelbild einer National Geographic-Ausgabe sein!

    Eigentlich hatte ich einen Besuch auf der "Turtle Island" geplant, wo Schildkröten sicher ihre Eier legen können, diese ausgebrütet und dann in die Freiheit entlassen werden. Ich freue mich wie ein Schneekönig, als ich endlich die Bestätigung erhalte, an der Tour teilnehmen zu können. Doch erweiterte Recherchen entmutigen mich: Ganz so tierfreundlich ist das Ganze dann doch nicht gestaltet! Ich hadere mit mir... Ich will dem Werbeversprechen unbedingt glauben und die Schildkröten erleben, aber letztendlich sage ich doch ab. Ich kann das einfach nicht mit reinem Gewissen genießen und will nicht dazu beitragen, dass diese Tiere bald keinen Ort mehr haben, zu dem sie zurückkehren können. Stattdessen unternehme ich einen Ausflug zur Futterstation der freilebenden Nasenaffen. Auf dem Hinweg gerate ich in eine blöde Diskussion mit dem Taxifahrer, der mich über den Tisch zu ziehen versucht. Mannoman, immer diese Scams! Ich bin verärgert und laufe aus Trotz die restlichen zwei Kilometer in der sengenden Mittagshitze durch die Palmölplantage zur Beobachtungsstelle. Auch aus nächster Nähe hat die schiere Größe der Anlage einen einschüchternden Effekt. Soweit das Auge reicht, nur gleichgroße Palmen, sauber in einer Reihe gepflanzt. Kein Mensch weit und breit, aber vermutlich so einige hungrige Krokodile in den trockenen Wassergräben zwischen den Pflanzreihen, wie mir später erklärt wird. Die Proportionen scheinen durcheinander zu sein, die Palmen zu geordnet und groß, die Blickachsen durch die sauberen Reihen jagen mir Angst ein. Nur das staubige Knirschen meiner Schritte auf der breiten, leeren Straße ist zu hören. Ich fühle mich winzig-klein auf der Welt.

    Ich beobachte an diesem Tag zwei Affen-Fütterungen an unterschiedlichen Plattformen und bin, wie schon bei den Orang-Utans, vollkommen begeistert. Die Nasenaffen mit ihren gurkenförmig verlängerten Nasen haben eine interessante Fellfärbung und ein haarloses, rosa Gesicht. Es sind große Tiere mit langen Schwänzen und dicken, aufgeblähten Bäuchen. Einige der Kerlchen klettern geschickt einen Baumstamm hinauf, um sich dann mit lautem Gebrüll in den darunterliegenden Tümpel zu stürzen. Mir wird erzählt, dass die Population der Nasenaffen in vielen Gebieten Borneos dramatisch zurückgeht. Gründe dafür sind insbesondere der Verlust von Lebensraum und die Jagd. Ihr Lebensraum schrumpfte zwischen 2005 und 2015 schätzungsweise um fast 30 Prozent. Angesichts der endlosen Palmölfelder, die ich durchquert habe, wundert es mich, dass überhaupt noch Primaten übrig sind.
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