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  • Day 44

    Unter- und Überirdisch

    October 5, 2020 in Iceland ⋅ ⛅ 5 °C

    Es ist dunkel, der Boden ist übersät mit kopf- bis autogrossen Felsblöcken. Von der Decke tropft es unablässig und die Temperatur beträgt 4°C. Ein leichter Wind pfeift durch den Tunnel. Selten ist ein leichter Lichtschimmer durch eine Ritze in der Decke sichtbar. Wir befinden uns in einem Lavatunnel, in dem zum letzten Mal vor 1100 Jahren flüssiges Gestein durchgeströmt ist. Der Tunnel hat, da wo er noch nicht zu sehr eingebrochen ist, einen Durchmesser von ca. 15m. Die Stirnlampe kann das unterirdische Rohr nur unzureichend mit Licht füllen, was die unheimliche Atmosphäre nicht merklich verringert. Der Blick, welcher Zwecks Sturzprävention auf die zu übersteigenden Steinblöcke gerichtet ist, wandert immer wieder an die Felsdecke, welche so lose geschichtet zu sein scheint, dass sie jeden Moment einstürzen könnte. Nach dem Gekraxel sind wir froh, ohne näheren Kontakt mit den bestimmt schmerzhaften Steinen gemacht zu haben, wieder im kalten Wind, der über die Hochebene weht, zu stehen.

    An einem anderen Ort, an einer steilen vermoosten Felswand stellen wir uns einem weiteren Abenteuerspielplatz für Erwachsene. Vor uns befindet sich ein ca. 2m breiter Felsspalt, aus dem ein kleiner, kalter Bach strömt. Wir hüpfen von Stein zu Stein und dringen immer tiefer in den noch schmäler werdenden Canyon vor. Als ein grosser, eingeklemmter Steinblock das Weiterkommen zu verhindern versucht, bleibt Priska zurück, während Simu an der nassen aber griffigen Lavagesteins-felswand das Hindernis überklettert. Zwischen Felsbrocken liegen etliche tote Vögel (nach der Grösse zu urteilen Möwen), welche wahrscheinlich ihre ersten Flugversuche in der Felsspalte nicht erfolgreich bestanden haben. Plötzlich, eine fünf Meter hohe Felswand, über welche das Wasser schäumend fällt. Das ist wohl das Ende der Canyonerforschung. Wäre da nicht ein mit Knoten versehenes Seil, dass in einer dunklen Ecke nach oben führt. Als Simu die obere Kante erreicht, sind hauptsächlich das rechte Hosenbein als auch der Wanderschuh geflutet. Nach einigen weiteren Metern in die Felsspalte, steht er vor einem schönen, unüberwindbaren, unterirdischen Wasserfall.

    Aber auch überirdisch sind in Island einige Wanderwege mit dem Zusatz «Abenteuer» versehen. So zum Beispiel der Glymur-Wanderweg zum zweitgrössten Wasserfall Islands. Mit dem Wissen, dass wir den in die Tiefe stürzenden Wasserlauf auf einem über dem Wasser angebrachten Baumstamm überqueren können, machen wir uns auf die 9,5km lange Rundstrecke. Der Wanderweg beginnt unterhalb des noch lange nicht sichtbaren Naturschauspiels und führt uns durch ein idyllisches, mit niedrigen Birken bewachsenes Tal, welches von einem mäandernden Bach gestaltet wurde. Eine Informationstafel offenbart die Sage um das Tal und den Wasserfall und warnt vor schwierigen Wanderwegen, bröckelnden Felskanten und reissenden Stromschnellen, die überwunden werden müssen. Also nichts für Weichbecher. Aber es hat ja einen Baumstamm, weshalb wir auch die in Island gekauften Neoprenlatschen nicht eingepackt haben! Der Wanderweg, stets oberhalb des Bachs verlaufend, führt plötzlich durch eine eindrückliche Höhle in ein Seitental und hinunter an den jetzt rauschenden Bergbach. Nur wenige Schritte später stehen wir am Ufer des glasklaren und sichtbar kalten Wassers. Über die Stromschnellen ist ein Drahtseil gespannt und der erwähnte Baumstamm scheinbar schwebend befindet sich über der zweiten, tieferen Hälfte des Wasserlaufs. Uns bleibt nichts anderes übrig als die Schuhe und Socken auszuziehen, die Hosenbeine hochzukrempeln und festgekrallt am Stahlseil durch das kalte Nass zum Holzbalken zu waten, mit tauben Füssen auf dem feuchten, rutschigen Stamm zu balancieren oder wieder umzukehren. Da das zweite keine ernsthafte Option ist, stehen wir kurze Zeit später mit halb erfrorenen Füssen, aber voller Tatendrang auf der anderen Seite. Der Aufstieg an Ketten und Seilen, meist am Abgrund ins Bodenlose und mit Blick auf den knapp zweihundert Meter hohen Wasserfall ist eine Mischung aus Adrenalin, Genuss und Staunen.

    Erst oberhalb der Felskante über welche das Wasser stürzt, realisieren wir, dass wir den Fluss hier noch ein zweites Mal überqueren müssen. Wir gehen also bis zu der gekennzeichneten Furt, wo das Wasser weniger stark zieht und nicht mehr so tief ist. Dafür ist der Bach hier breit. Sehr breit. Bei diesen Wassertemperaturen die nahe am Gefrierpunkt liegen, unheimlich breit. Und da wo der Wasserlauf nicht so tief ist (also knöcheltief), sind die Steinformationen arschglatt. Uns bleibt nichts anderes übrig als auf den scharfkantigen Kieselsteinen im Knietiefen Wasser zu waten. Nach den ersten 5m hat sich das Blut aus den unteren Extremitäten zurückgezogen, nach weiteren 5m besteht alles unterhalb der Knie nur noch aus Schmerz. Danach folgt die Phase wo man kurzzeitig nichts mehr spürt, was irgendwie befreiend wirkt, bevor die scheinbare Bewegungslosigkeit einsetzt. Mit Beinen wie Stelzen erreichen wir nach einer gefühlten Ewigkeit die andere Bachseite, rollen die nassen Hosenbeine hinunter und streifen die Socken und Schuhe über die nassen Füsse. Nach der Hälfte des Abstiegs kehrt langsam, aber schmerzhaft das Gefühl in den Zehen zurück und am Ende der Wanderung haben wir sogar wieder warme Füsse. Wir sind uns einig, dass diese Tour eines der vielen Highlights unseres Islandaufenthalts ist.

    Und wer jetzt denkt wir würden bei den bereits winterlichen Temperaturen besser etwas an der Wärme (also drinnen) unternehmen – geht nicht – die Isländer haben die Saison beendet und alle Museen, Shows und Indooraktivitäten geschlossen. Das gleiche gilt praktisch für alle Zeltplätze. Und so treffen wir die zehn Touristen, die noch unterwegs sind, jeden Abend aufs Neue auf den letzten geöffneten «Zelt- und Campersammelstellen» und erzählen uns gegenseitig, wo wir heute der Kälte getrotzt haben.
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