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- Day 3
- Tuesday, July 15, 2025 at 2:34 PM
- ☁️ 22 °C
- Altitude: 44 m
FranceRouen49°26’23” N 1°5’41” E
Süße Tüten und saure Architektur

Wir hatten die Kirche schon während unseres Lunchs im La Couronne immer wieder im Blick gehabt. Da stand sie, dominant, fast bedrohlich – wie ein dunkler Wal aus Schiefer, der sich mitten auf den historischen Platz gelegt hatte. Und je länger wir sie anschauten, desto weniger konnten wir verstehen, wie man so etwas hier bauen konnte.
„Ist das ein Drachen?“, fragte Margriet, als wir näherkamen. An der Seite krümmte sich ein bronzener Wasserspeier, aus dessen Maul eine leise Rinnsal in den Boden plätscherte. Ein seltsames Detail – so verspielt wie unpassend. Ich nickte nur, zu sehr damit beschäftigt, diesen Bau zu begreifen.
1979 sei sie errichtet worden, las ich später – zu Ehren von Jeanne d’Arc, an genau dem Ort, an dem sie 1431 verbrannt wurde. Der Architekt – Louis Arretche – wollte mit der Form des Daches wohl das Flammenspiel symbolisieren. Oder ein umgedrehtes Boot. Oder beides. Ich war mir nicht sicher, ob das gelungen war.
„Ich hätte mir etwas... Ehrfurchtsvolleres vorgestellt“, sagte Margriet, als wir vor dem Eingang standen. Die schweren, dunklen Linien der Konstruktion drückten fast auf die Brust, als wollten sie sagen: Hier endete etwas Großes – und wir wollen, dass du das spürst.
Wir gingen einmal drum herum. An der Rückseite erblickten wir die alten Kirchenfenster – echte gotische Originale, gerettet aus der zerstörten Kirche Saint-Vincent und hier eingebaut. Wunderschön. Zart. Farbintensiv. Fast wie eine Seele, die versuchte, durch den Beton zu atmen.
„Das hätte sie verdient“, sagte ich leise.
„Mehr Licht?“, fragte Margriet.
„Mehr Frankreich.“
Hinter der Kirche öffnete sich plötzlich wieder das Leben. Als hätte der Platz einen zweiten Atem.
Ein kleiner Markt – improvisiert fast, aber liebevoll aufgereiht. Bunte Stände mit getrockneten Früchten, Nüssen, handgemachten Seifen, ein alter Mann, der Honig aus der Region anbot. Es duftete nach Sonne, nach Holz und etwas Anis.
Ich ließ meinen Blick über die Auslagen schweifen und griff fast automatisch zu. Zwei schlichte, durchsichtige Tüten – die eine gefüllt mit hellen Rosinen, glänzend wie Bernsteinperlen. Die andere mit in der Sonne getrockneten Feigen und saftigen Birnen, weich, aromatisch.
„Für uns“, sagte ich und reichte Margriet die eine Tüte.
Sie nahm sie und lächelte. „Wie früher im Süden. Nur ohne die Zikaden.“
Wir gingen langsam weiter, die Sonne im Rücken, die Süße der Früchte auf der Zunge.
Rouen hatte so viele Gesichter – manche schwer zu fassen, andere warm und einfach.Read more