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  • Day 70

    Casa de Jerry in Punta Sal

    October 10, 2022 in Peru ⋅ ☀️ 25 °C

    Wir sind nun schon seit einigen Tagen in Punta Sal, an der peruanischen Küste in Jerry‘s Haus. Eigentlich war der Plan nur 3 Tage zu bleiben, um anschließend nach Lima zu fahren, doch Pläne ändern sich. Viele Dinge an diesem Ort fühlten sich richtig gut an und es gab eigentlich keine Gründe zu gehen. Der Sand vom Strand rieselt quasi in die Küche des Hauses, Palmen umgeben das Haus, wir sahen das Meer vom Fenster aus und genossen diesen sonnigen Ort. Fast jeden Tag schauten Buckelwale vorbei und die Sonnenuntergänge waren fantastisch. Zu all der Leichtigkeit des Seins war da noch Jerry. Er ist der erste Strandshamane, den wir kennenlernen und eine echte Hausnummer. Mit seinem Einverständnis blieben wir erstmal auf unbestimmte Zeit und lernten uns näher kennen. Der Ort fühlte sich irgendwie wie ein zu Hause an und unsere kleine Dreier-WG war ein lustiges Match. Jerry redet viel und ausgiebig aber er hat eben auch einiges zu erzählen. Nach einigen Tagen dachte man, er hat schon 7 Leben gelebt. Mit seinen 66 hat er bereits 30 Jahre in den Staaten gelebt, war Oberkellner in den angesagtesten Restaurants, hat als Taxifahrer die High Society rumgefahren, 2 Millionen Dollar an Frauen, Drogen und Spielkonsum verloren, ist 6 Mal im Knast gewesen, hat mit der Band Santana abgehangen und hat seine Gabe, Menschen heilen zu können nicht nur professionalisiert, sondern sich auch selbst damit therapiert. Durch seine vielen Jahre im Ausland spricht er auch lieber englisch als spanisch, jedoch ist bei der Schnelligkeit des Sprechens und gleichzeitigem Nuschelns oft nur Bahnhof zu verstehen. Manchmal hatte ich auch das Gefühl, dass er eine völlig andere Sprache mit seinen Freunden spricht und es eher wie Waorani klang, als español. Leider sprechen die Peruaner allgemein bisher viel unverständlicheres Spanisch und ich verstehe wenig. Jerry‘s Lieblingssätze sind „That son of a bitch“, „Concha su madre“ und „Rock‘n‘Roll motherfucker“. Letzteres war lange Zeit sein Lebensmotto und gehört stark zu seiner Identität, sodass gern mal am Morgen eine Line Koks gezogen und am Nachmittag der Joint angezündet wird. Weitere Zaubermittelchen aus dem Dschungel stehen griffbereit neben seinem Bett. Aber er ist auch durch sehr harte Zeiten gegangen, hat viele Menschen verletzt und verloren, war in verschiedenen Einrichtungen und weiß seinen Konsum meistens zu regulieren. Dafür hat die Spiritualität in seinem Leben auch einen viel zu großen Platz eingenommen. Durch seine Erfahrung mit vielen Menschen gearbeitet zu haben und seine sehr sensible Art, kann er sie auch gut lesen und ihnen, bei eigenem Wunsch, auch helfen. Er kennt hier jeden im Dorf und jeder kennt ihn. Ich vermute, dass ihn auch viele für einen Spinner halten aber einige vertrauen auch seinen Heilkünsten, lassen sich reinigen, die Karten vortragen oder massieren. Da Peruaner ohnehin sehr religiös und abergläubisch sind, waren seine Gaben von StrandbesucherIn hier und da gefragt. Das führt bei ihm alles auch zu einer großen Unruhe, einem ständig besorgten Kopf und dem Drang alles kontrollieren zu wollen. Gerade wenn nachts um 3:00 welche mit Depression aus Belgien anrufen. Nach der ersten Nacht fragten wir uns daher, ob wir bleiben sollten, denn irgendetwas stimmte im Haus nicht. Einerseits wohnte zusätzlich ein Italiener bei ihm, der versuchte von seiner Kokainsucht los zu kommen und dem man nur durch starkes Husten und Wutanfälle wahrnahm. Anderseits saugte unter anderen ein junges Mädchen Jerry’s Energie und hinterließ viel Ärger bei ihm. Als wir am zweiten Abend zusammen saßen, war er so erschöpft und ausgelaugt, dass ich ihn versuchte mit meinen Worten zu beruhigen und einfach seine Hand hielt. Daraufhin schlief er ein und wachte erst am nächsten Tag nach dem Mittag wieder auf. Er wirkte wie ausgewechselt und viel präsenter als die Tage zuvor, man verstand ihn besser und er scherzte fröhlich vor sich hin. Seitdem ist er auch davon überzeugt, dass ich heilende Hände und eine Gabe hätte, die er gern hervor holen würde.

    In seiner Abwesenheit verschwand auch der Italiener und die Atmosphäre verändere sich zum Positiven. Zudem kamen drei französische Studentinnen zum Haus, um nach Jerry’s energetischer Massage zu fragen. Da dieser jedoch schlief, boten wir kurzer Hand unsere Dienste an, machten die Drei glücklich und verschafften uns für fast 3 Nächte die Kosten für die Übernachtung. So wuchs bei uns die Idee, Jerry generell zu helfen, etwas Geld zu verdienen und erstmal an diesem Ort zu bleiben. Bei Jerry wuchs wohl der Gedanke, ich könnte ihn heilen. Tja auch Shamanen brauchen mal eine Schulter zum Anlehnen und jemanden, der ihnen zu hört. Gesagt getan, wir entwickelten uns zu Volontären und halfen ihm bei allem was anstand. Zudem traf ich mich regelmäßig mit ihm in seinen heiligen Wänden, massierte seine Schmerzen weg und versuchte etwas durch seine harte Schale zu dringen.

    Am dritten Tag kamen drei Limeños (aus Lima kommende Menschen), Mitte 20, zur Unterkunft, um ein wenig den aktuell einzig sonnigen Strandabschnitt an der peruanischen Küste zu genießen. Im Winter halten sich nämlich die Wolken ganz hartnäckig an der Küste und hüllen alles über Monate in Grau. Sebastian, Ara und Kid genossen ebenso den traumhaften Ort wie wir und ließen sich allmählich von der guten Laune der Dreier-WG anstecken. Erst brachten sie kein Wort heraus aber eines Abends setzten sie sich zu uns und gerade Ara war sehr neugierig, etwas von einer anderen Welt zu erfahren und ihr Englisch zu üben. Für uns war es wiederum auch höchst spannend, von jungen Menschen zu erfahren, was so in Peru geht, wie sie leben und ihre Beziehung führen. Dadurch, dass sie meistens bis zur Hochzeit noch zu Hause wohnen, gibt es für Pärchen so gut wie keine Privatsphäre. Reisen geht aufgrund des geringen Budgets nur bedingt und Romantik wird ohnehin nicht sehr groß geschrieben. Wir sehen leider selten welche, die sich küssen oder umarmen. In Lima bleiben viele einfach nur zu Hause bei der Familie, man geht wenig auf die Straße, teilweise gar nicht zum Strand. Die Menschen scheinen in diesem Land auch sehr ängstlich und das wird noch durch eine dauerhaft instabile und korrupte Regierung gefördert. Schon mit ca. 16 schließen die jungen Leute ihre Schule ab. Die öffentlichen Schulen bieten leider nur eine mangelnde Bildung an und die privaten kann sich keiner leisten. Viele gehen dann also erstmal arbeiten, weil sie noch gar nicht wissen, was sie eigentlich mal werden möchten.

    Wir sahen also Gäste kommen und gehen, mit einigen kamen wir ins Gespräch, mit anderen eher weniger. Da Jerry’s Haus direkt am Strand liegt, kamen viele an, um auf die Toilette zu gehen. Daraus entwickelte sich ein kleines Geschäft und wir wurden am Gewinn beteiligt. Meistens übernahm Paul die Erklärungen, die Abrechnung und die Geduld, die wartende Meute bei Laune zu halten. Mir wurde wieder bewusst, warum ich nach 10 Jahren Arbeit in der Gastronomie, diesen Job nicht mehr machen wollte: man erzählt tausend mal das gleiche am Tag, muss die Leute manchmal in die Toilette schupsen, damit sie sie finden (obwohl diverse Schilder auf Sichthöhe aufgehangen sind), sieht all das schlechte Benehmen vom Menschen und muss dabei immer schön lächeln. Aber das paradiesische Umfeld machte vieles wett und dass wir am Gewinn beteiligt wurden, ist auch nicht die Regel. Jerry ist ein Lebemensch, der in vielen Branchen und teilweise mit einer Menge Geld gearbeitet hat. Er kann nur schwer Aufgaben abgeben und die bunten Scheine spielen eine allzu große Rolle in seinem Leben. Oft spricht er davon, wie viel Geld er wo erworben hat, wie gut er verhandeln kann und welche Deals er gemacht hat. Wir konnten beobachten, wie alles über Kontakte läuft und wie er mit jedem verhandelt. Es heißt, dass PeruanerInnen immer lügen, sich gegenseitig bescheißen und gerne mit Geld protzen. Auch das spüren wir bei unseren Verhandlungen mit Jerry, der jeden Tag seine Konditionen änderte, uns auf einmal an den Strom- und Wasserkosten beteiligte oder uns dann doch von unserem Geld einkaufen gehen ließ, obwohl er das machen wollte. Es war interessant in dieses System einzusteigen, mit der Konsequenz am Feilschen und Tricksen selber teilzunehmen.

    Über mehrere Tage waren auch gute Freunde von ihm da. Sie kochten und aßen gefühlt die ganze Zeit. Gleich am Anfang luden sie uns ein und wir durften in den Genuss des Essens vom Feinschmecker-Papa kommen. Am nächsten Tag kredenzten wir Pancakes für alle und waren froh, über solch liebe Gäste. Immer mal wieder tauschten wir Köstlichkeiten und ich fand es höchst interessant mal eine peruanische Familie, bestehend aus Mama, Papa, 3 Kindern und einer Omi, zu beobachten. Das Kleinste war gerade mal 3 Monate alt, um das sich die Frauen kümmerten. Selten sah ich den Papa mal das Kind halten. Der Mittlere, Luis 8 Jahre alt, hat mich völlig begeistert. Ein ganz schlauer, aufgeweckter Junge, dessen Neugierde grenzenlos schien. Gern hätte ich mich mehr mit ihm unterhalten und war neidisch auf den Austausch, den Paul mit ihm hatte. Die zwei waren beim Spielen und Erklären aber auch einfach zauberhaft miteinander. Die Größte steckt mitten in der Pubertät, hing nur am Handy, spielte Spiele und hielt den Strandurlaub aus. Die Omi schien die ruhige Seele in der Runde, die ihr kleinstes Enkelkind anhimmelte. Die Mama war bekanntermaßen sehr schüchtern und leise. Ihr Mann fragte mich nach einer Massage für sie, was ich ihr natürlich gern schenkte. Ich merkte wie verspannt so einer Mama sein kann aber auch, wie unterschiedlich es ist EuropäerIn und Latinas zu massieren. Leider sind die Frauen hier lange nicht so geübt in Berührungen, wie ich das von zu Hause kenne. Eines morgens stellte sich außerdem heraus, dass die Mama weder das Hakenkreuz kannte, noch Adolf Hitler. Luis kam mit einer geschenkten Kette an, die das Hakenkreuz eingraviert hatte. Paul versuchte ihm sofort zu erklären, was das für ein Symbol ist und dass man das auf keinen Fall verherrlichen sollte. Unwissend darüber aber feinfühlig genug, legte er sofort die Kette ab und war sich wohl, nach der Erklärung, über die Bedeutung bewusst. Als die Mama dazu kam, sah sie auch unser Entsetzten aber hatte keine Ahnung warum und war sich dieser Geschichte in keinem Fall bewusst. Das hat mich doch sehr schockiert. Der Vater hatte sein Spaß mit Jerry und dem Jungen, kochte mit Leidenschaft aber vermied die unangenehme Arbeit (Abwaschen, Putzen, Windeln wechseln etc.). Ich weiß nicht, ob sie als Sinnbild für Peru stehen können, aber ich könnte es mir vorstellen. Bemerkenswert ist aber dennoch, dass er überhaupt kocht, da peruanische Männer eher selten am Herd stehen, wie mir Paul berichten konnte.

    Während die Tage vergingen versuchte ich in vielen Sitzungen, Jerry’s Rücken zu heilen. Oft schlief er ein, oder wir kamen ins Gespräch. Es entwickelte sich eine eigene Dynamik zwischen uns Zweien, in der ich eher die Therapeutin war und einfach zu hörte. Offensichtlich fiel es ihm leicht, sich mir zu öffnen, er weinte oft und erzählte Geschichten von früher. So auch, dass er eigentlich Gerardo heißt aber das niemand in den USA aussprechen konnte und ihn Jerry tauften. Jerry ist allerdings ziemlich arrogant, hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen, macht sein Business, unterbricht einem beim Sprechen, will dass man sofort springt wenn er ruft, hat meistens unerträgliche Launen, konsumiert zu viele Drogen und hat eine ganz harte Schale. Durch sein Öffnen mir gegenüber ist ihm jedoch aufgefallen, dass er so gar nicht sein möchte und gern den alten Gerardo zeigen will. Eine harte Aufgabe in diesem Alter, zumal wenn man sich ein Leben lang in seinem Panzer geschützt hat, um nicht verletzt zu werden. Wir haben hier wirklich einiges durch mit Jerry, teilweise liefen die Szenerien wie im Film ab, dann mussten wir auch mal abends ausgehen, um eine Pause von ihm zu bekommen, dann war es wieder tierisch lustig abends zusammen zu sitzen. Er hat Paul und mich an unsere Grenzen gebracht und manchmal hab ich mich gefragt, wie viel Energie er mir eigentlich saugt. Aber er hat auch viele Weisheiten zu teilen, ein großes Herz, viel Fürsorge und gute Ratschläge gegeben. Wir sind sicher aus einem bestimmten Grund zusammen gekommen und die Begegnung ist eine große Bereicherung für unsere Reise. Unser letzter Tag hat diese gemeinsame Zeit noch abgerundet. Alles war im Sonntagsmodus, die Sonne schien, wir arbeiteten ein wenig, ich verewigte uns an einer Hauswand und Jerry bekam Besuch von ganz alten Freunden und war in Feierstimmung. Nachdem alle Zimmer geputzt waren und sind wir zum Strand, um uns zu verabschieden. Die Sonne wärmte nochmal die Haut, das Meer rauschte und der Wind wehte über die goldenen Härchen auf den Armen. Später konnte sich Paul noch einen Wunsch erfüllen und einmal mit einem TukTuk fahren. Die kleinen Motortaxis fahren und hupen hier überall rum und es machte viel Spaß einfach mal ein bisschen durch die Straßen zu heizen. Wir sagten unserem Lieblingsdamen beim Minimarkt tschüss, kauften für das Abendbrot ein und genossen zusammen mit Jerry den selbst gemachten Pina Colada bei Pasta mit Kochbananen. Trotz, dass das Hostel wieder voll mit alten Freunden war, blieb er (wie eigentlich all die anderen Tage auch) wie ein Magnet bei uns, erzählte uns alte Geschichten und wir lachten viel miteinander. Ich glaube, dass wir ihn nicht verurteilt und ernst genommen haben, hat ihm richtig gut getan. Nach ein zwei Drinks liefen wir nochmal zum Meer, ob nicht doch etwas leuchtendes Plankton zu sehen ist. Viele Abende vorher versprach Jerry immer wieder das Leuchten zu sehen aber es war immer nur dunkel, mit unserer Vermutung er sieht diese Dinge vielleicht in irgendeiner anderen Welt. Aber als ob wir zum Schluss das all-inklusive Paket serviert bekommen haben, sagte auch das Meer Auf Wiedersehen zu uns. In den Wellen tummelten sich hier und da kleine leuchtende Wesen und wurden an den Strand gespült. Wir waren so aufgeregt, dass wir die Klamotten von uns schmissen und rein rannten. Durch Bewegungen im Wasser waren die Punkte überall zu sehen. Ein spektakuläres Naturwunder. Was für ein Abschied 🧡🌊

    Nach 2 Wochen war es dann aber doch Zeit wieder aufzubrechen. War der Ort ein Paradies, mit sehr wenig Internetzugang und versprach Meer, Sonnenuntergänge und das zeitlose Leben, war es mit Jerry doch sehr speziell. Ich möchte es auf keinen Fall missen aber wir wollen hier ja keine Wurzeln schlagen und Südamerika hält noch so viel für uns bereit. Also vamos ☺️
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