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  • Day 24–30

    Schwefel und Mount Doom

    November 26, 2023 in New Zealand ⋅ ⛅ 15 °C

    Rotorua riechen wir, bevor wir sie sehen. Es riecht nach faulen Eiern. "Rotten-orua" wäre ein vielleicht passenderer Name. Die Stadt liegt in einem geothermischen Gebiet, das Teil des pazifischen Feuerrings ist, ein Vulkangürtel, der den Pazifischen Ozean von drei Seiten umgibt und durch die Plattentektonik entstanden ist. Etwa zwei Drittel aller Vulkanausbrüche und ca. 90 % der weltweiten Erdbeben gehen auf dieses Gebiet zurück.

    Wir gehen durch die Stadt, die wie viele Städte Neuseelands wie eine Kulissenstadt eines modernen Westernfilms aussieht. Es riecht wie an Silvester, wenn man gerade durch Schwefelschwaden des Schwarzpulvers wankt und um einen herum die Böller knallen und Raketen explodieren.

    So geht es mir mit Gerüchen oft. Sie wecken die unterschiedlichsten Assoziationen. Mich fasziniert, wie schnell und willkürlich diese zustande kommen und meine Tagträume bestimmen. Chiara jedoch ist die Königin der schrägsten Assoziationen und könnte mit dem Spiel "Assoziations-Pingpong" Geld verdienen. Das ist eine Eigenschaft an ihr, die mich fasziniert und oft zum lachen bringt. Oder vielleicht ist diese Fähigkeit eben Voraussetzung für eine blühende Phantasie.
    Ich bin beim Lesen über Sinne und Assoziationen auf den "Proust-Effekt" gestoßen. Dieser bezieht sich auf das Konzept, dass Gerüche (mehr als alle anderen Sinne) die Fähigkeit besitzen, eine Erfahrung von wieder erlebten, emotionalen und alten autobiografischen Erinnerungen hervorzurufen. Der Name geht zurück auf eine Episode in Marcel Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit," (hab versucht es zu Lesen, hatte aber das Gefühl von verlorener Zeit) in welcher die Erfahrung einer wieder erlebten, extrem lebendigen, lange vergessenen Erinnerung beschrieben wird. Es ist nämlich so, dass nur der Geruchssinn über den Riechnerv eine relativ direkte Verbindung zum limbischen System und damit zu unserem emotionalen Zentrum und unserem Gedächtnis hat.
    Visuelle und auditive Reize hingegen werden durch komplexe neuronale Netzwerke im Gehirn verarbeitet. Umso erstaunlicher, dass jeder von Déjà-vu-Erlebnissen spricht, aber niemand von "déjà senti" (schon gerochen).

    Na gut, zurück zu der Eier-Stadt. Hier gibt es in den öffentlichen Parks statt Ententümpeln und Springbrunnen warme Thermalquellen, in die Leute ihre Füße halten, teilweise noch im Anzug auf dem Weg zur Arbeit.
    Überall sprudelt und dampft es aus heissen Schlammbecken und Fumarolen (Löcher, aus denen vulkanischer Dampf austritt) und auch ich kann nicht wiederstehen und besuche die heissen Therme und bade im Schwefelwasser.

    Wir lassen die Stadt hinter uns und fahren in das Waimangu Tal für eine Wanderung. Das Tal entstand 1886 durch einen Vulkanausbruch und ist immer noch aktives Vulkangebiet. Der etwa 4 Kilometer lange Weg führt uns vorbei am Frying Pan Lake, der die größte Thermalquelle der Welt ist mit einer Fläche von fast 4 Fussballfeldern.
    Wie aus einer Bratpfanne, in der man das gute, kalt gepresste Olivenöl zu stark erhitzt hat, steigen aus seinem Wasser Rauchschwaden empor. Überall blubbert es, das Wasser scheint zu kochen. Es ist stark sauer, hat eine Temperatur von etwa 60 Grad. Unterschiedliche pH-Werte begünstigen das Wachstum diverser Algenarten, die den See gelb, blau oder grün färben.
    Wir lassen den Bratpfannensee hinter uns, laufen mit Josy in der Trage an dampfenden Bächen entlang und am türkis-blauen Inferno Crater vorbei, dessen idyllischer Schein trügt, da man bei seiner Temperatur von 80 Grad schnell wie ein Hummer gekocht wäre. Unsere Wanderung endet am Lake Rotomahana, auf dem schwarze Schwäne schwimmen, die aussehen, als wären sie von den heissen Dämpfen verkohlt.
    Auch Josy hat, trotz mehrfacher Eincremungen und trotz ihres Sonnenhuts mit Krempe, der sie wie eine blasse, pausbäckige englische Landlady aussehen lässt (wir nennen sie "Ms. Pomeroy"), ihren ersten Sonnenbrand bekommen und wir ein schlechtes Gewissen.

    Wir fahren weiter zum Tongariro-Nationalpark Richtung Süden. Er ist der älteste Nationalpark Neuseelands, im Zentrum befindem sich drei aktive Vulkanberge, einer davon Mount Ngauruhoe, der Schicksalsberg in Mordor. Hier hat sich schon Peter Jackson hochgeschleppt und ich möchte den Weg nach Mordor auf mich nehmen und die alpine Tongariro-Überquerung machen, eine Wanderung, die als schönste (und touristischste) Neuseelands gilt.
    Um mir nicht den Weg mit stampfenden Ork-Massen in praktischen 7/8-Hosen und Wanderstöcken (bei Naturerlebnissen bin ich misanthrop) teilen zu müssen, stehe ich um 5 Uhr morgens auf und sitze leider, trotz der frühen Stunde, in einem vollen Bus. Ob senile Bettflucht oder pubertärer Abenteuerdrang, jedes Alter hat es früh aus dem Bett geschafft, wenn ich mir die farblichen Schattierungen der Wackelköpfe vor mir ansehe.
    Der Bus bringt uns an den Ausgangspunkt der Wanderung, tief in den Nationalpark hinein. Kaum angekommen (es ist 06:30 Uhr) laufe ich los, um den Massen zu entgehen und um erster am Gipfel zu sein, werde aber schon nach wenigen Metern gebremst von einer jungen Frau und murmel zähneknirschend "sure", als ich gefragt werde, ob ich ein Foto von ihr vor dem Nationalparkschild machen könne.
    Weiter jogge ich den gut befestigten Weg entlang, der die ersten 5 Kilometer ohne viel Steigung über Vulkangestein durch eine karge Landschaft führt bis zu den Soda Springs (kleine Wasserfälle), vor mir der wolkenverhangene Schicksalsberg. Dann beginnt der Aufstieg und ich erreiche schließlich ein Plateau, das komplett in Wolken liegt mit wenigen Metern Sicht. Ich bin der einzige Mensch weit und breit und laufe durch eine Mondlandschaft. Vielleicht hat hier die NASA 1969 ihre Mondlandung gefilmt?
    Nach einem erneuten kurzen Aufstieg durchbreche ich die Wolkendecke, die Sonne scheint, der Himmel ist blau und ich erreiche den Roten Krater, den mit knapp 1900 Metern höchsten Punkt der Wanderung. Und ich bin der einzige! Ich packe mein Käsebrot aus und schaue in den Abgrund des Roten Kraters und auf den Schicksalsberg zu meiner rechten, der wie ein grosser Trichter mit steilen, rötlichen Hängen aus den Wolken ragt.
    Noch bevor die ersten schnaufenden Orks kommen, laufe ich weiter, an grün-gelben Seen vorbei mit Blick auf den Lake Taupo in der Ferne, den größten See Neuseelands. Nach knapp 20 Kilometern bin ich am Parkplatz und dem Ziel meiner Wanderung angekommen und warte auf den Bus mit dem vertrauenswürdigen Busfahrer in Flipflops, der mich zurück zum Parkplatz bringt. Chiara und Josy wollten mit Bambi, für das es noch zahlreiche Rettungsmissionen während unserer Reise geben wird, zu den Gollum-Wasserfällen, fanden aber mit unserem über 7 Meter langem Camper keinen Parkplatz und haben eine andere Wanderung gemacht.

    Wir verbringen die letzten Tage auf der Nordinsel an wilden Flüssen und in Wellington, der sehr kleinen Hauptstadt mit vielen hippen Cafés.
    Am 05. Dezember nehmen wir die Fähre nach Picton, auf die Südinsel, über die stürmische Cook Strait, die Meerenge zwischen den beiden Hauptinseln. Aber dazu bald mehr.
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