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  • Day 61

    Geht doch!

    July 30, 2023 in Czech Republic ⋅ ☁️ 20 °C

    Als ich gestern gegen 7:00 Uhr mein Regenlager im Wald verließ und auf den Weg zurückkehrte, waren meine Vorräte auf beinahe Null gesunken. Ich hatte noch eine Notfalltütensuppe im Rucksack, 200ml Wasser und 15% Akkuladung auf meinem Handy. Die Sonne hatte sich in den letzten Tagen nicht blicken lassen und somit konnte ich meine Solartechnik nicht nutzen. Das aufgefangene Regenwasser reichte für eine Tasse heißen Tee, der gut gegen die morgendliche Kälte und den Nebel half, der hier auf 900m am Morgen zwischen dem Bäumen stand. Verhungern würde ich Dank mehrerer Gaststätten am Weg nicht und Wasser konnte ich mir in einem der vielen kleinen Bäche holen, die sich wie zarte Adern auf meiner Karte abzeichneten. Zurück auf dem asphaltierten und leicht aufwärts führenden Weg, verspürte ich die deutliche Freude, endlich weiter laufen zu können. Nach gut 2km erreichte ich den ersten kleinen Bach, der den Regen der letzten Tage murmelnd, über glänzende Steine ins Tal brachte. Auch wenn das Wasser kristallklar erscheint, habe ich mir angewöhnt, den Bachlauf immer einige Meter nach oben zu gehen, weil ich vermeiden möchte, daß irgendwer seinen Zivilisationsmüll dort vergessen hat, wo ich Trinkwasser entnehme. Da ich nichts entdecken konnte, füllte ich meine Vorräte auf und ging wieder zurück auf den Weg. Ich war noch nicht wieder unten angekommen, als ich bemerkte, dass mir bei meinem Kontrollgang etwas entgangen war. Zwischen zwei
    Steinen klemmte, lustig in der Strömung tanzend, ein Hygieneartikel, dessen Markenname die Abkürzung für "ohne Binde" ist. Wer bitte macht sowas? Und wenn wir einmal dabei sind, auch wenn ich das erst am Ende des Tages mal wieder gesehen habe, warum kacken Menschen in Bushaltestellen? Ok, ich hatte mein Wasser weit oberhalb entnommen, ohne es aber zu Filtern, würde ich keinen Tropfen davon herunter bekommen. Wenig später kam hinter einer Wegbiegung eine kleine Berghütte in Sicht, die im Normalfall auch Verpflegung anbot. Im Normalfall heißt, ab 11:00 Uhr. Ich war jedoch so zeitig unterwegs, dass ich mir gegen 8:00 Uhr erst garkeine Hoffnung auf eine Erfrischung machte. Da vor der Hütte jedoch eine große Bank stand, entschied ich mich dazu, dort eine Raucherpause zu machen und mein Wasser durch den Filter laufen zu lassen. Was ich dann beim Näherkommen sah, Begriff ich erst nicht und ordnete es falsch ein. Die können doch nicht einfach alles was sie hier verkaufen auf der Terrasse lagern. Schalen mit Obst und Gemüse, eine Kühlbox mit Bier und alkoholfreien Getränken, ein großer Thermobehälter mit Tee und eine Box mit süßem Gebäck und ein großer Kanister mit Trinkwasser. Als der Groschen endlich fiel, schallte sein Echo von den umliegenden Bergen zurück. Ein kleiner Laden des Vertrauens, für all die, die außerhalb der Öffnungszeiten hier ankamen. Ich war geplättet. Ich legte Geld in eine Tupperdose, nahm mir ein Frühstücksbier (ich glaube ich bin abhängig) und eine Banane fürs Gewissen. Und dann saß ich eine gute halbe Stunde auf der Bank vor der Hütte und war glücklich. Was vielleicht etwas nebensächlich klingt, war für mich ein unglaublich großer Moment. Ich möchte und kann nicht für alle Depressiven sprechen, aber Glücksgefühle gehören schon verdammt lange nicht mehr zu meiner Emotionspalette, noch dazu nehme ich seit Anfang des Jahres Medikamente, die Gefühle extrem im Zaum halten. Ich weiß, daß mir etwas gefällt oder nicht, ich habe nicht vergessen, was ich mit Freude gemacht habe, aber gespürt habe ich das jetzt schon mehr als 3 Jahre nicht mehr. Hier zu sitzen und etwas so schönes zu fühlen, war in diesem Moment einfach unbeschreiblich und ich genoss jede Sekunde. Gleichzeitig war es eine Bestätigung dafür, daß mein Bauchgefühl mich nicht getäuscht hatte. Ich wusste, dass ich diesen Weg gen will, gehen muss. Komme was wolle und nun war genau das eingetreten, was ich mir erhofft hatte. Irgend etwas in mir hat endlich gewagt eine Tür zu öffnen und den Kopf mal herauszustrecken. Einen Augenblick, 30 Minuten lang. Der Anfang ist gemacht. Der Weg pendelt nun zwischen 800m und 1000m. Die Anstiege waren sympathisch sanft. Auf sandigen Pfaden, gesäumt von grünen Nadelwäldern und einem Meer von Heidelbeersträuchern, legte ich Kilometer um Kilometer zurück. Ich durchzog Hochmoore auf endlosen Bohlenwegen und kletterte zwischen abenteuerlichen Felsformationen hindurch. Einmal war der steinerne Durchlass so niedrig und eng, dass ich ihn nur auf allen Vieren, meinen Rucksack vor mir herschiebend, passieren konnte. Was für ein Spaß, aber es gibt einen Punkt Abzug, wegen fehlender Barrierefreiheit. Gegen Mittag erreichte ich eine Hochebene. Eingefasst von dichten Wäldern und zwischen grüne Bergwiesen gebettet, standen hier einzelne, alte Gehöffte und das ein oder andere Lokal neuerer Bauart. Was in diesem Moment jedoch alles andere übertraf, war das Misthaus. Wenn es auf dem EB einen Wallfahrtsort gibt, dann ist es dieser ehemalige Kuhstall. Eigentlich ging die Berühmtheit nicht hauptsächlich von dem Haus aus, sonder von Gustav Ginzel. Er erwarb den ehemaligen Kuhstall Anfang der 60er Jahre und spülte mir Hilfe eines umgeleiteten Baches den Kuhmist aus dem Stall. So kam das Haus zu seinem Namen. Der Bach floss bis zum Ende durch das Haus und stellte nicht das einzige Kuriosum in Ginzels Behausung dar. Als Wissenschaftler, Weltenbummler und Expeditionsteilnehmer hatte Ginzel unendliche viele Geschichten zu erzählen, und so versammelten sich Jahr für Jahr Heerscharen von Wanderern bei Gustav, lauschten seinen Geschichten am großen Lagerfeuer und ließen sich zeigen, wie man mit nackten Hintern über den Rasen rutschen muss, um fehlendes Toilettenpapier zu ersetzen. Gustav ist 2008 verstorben, Jahre zuvor hatte bereits jemand seinen geliebten Kuhstall angezündet, als er Australien bereiste. Unzählige Erinnerungsstücke, Andenken und Kuriositäten waren für immer verloren. Nun stehe ich also endlich vor dem Misthaus, an dessen Außenwand, als letzte Erinnerung an Gustav, ein großer gelber Postkasten mit seinem Namen hängt. Im Vorgarten tragen 4 Personen etwas ins Haus. Als sie bemerken, dass ich mich mit meinem Handy in der Hand nähere, um ein paar Fotos zu machen, geben sie mir sofort und unmissverständlich zu verstehen, das dies nicht gewünscht ist. Ich entferne mich ein paar Meter, laufe über die Bergwiese und aus der Deckung eines Busches heraus, drücke ich doch noch auf den Auslöser. Zur Belohnung gibt es Blaubeerknödel, bedeckt mit einer dicken Schicht Zucker und Zimt, schwimmend in brauner Butter, gekrönt mit einer Portion Schlagsahne und gebettet auf fein geriebenen, frischen, jungen Käse. Muss ich noch mehr sagen? Auf nach Harrarov. Der Weg führt von der Hochebene über knapp 7km an einem, immer lauter rauschenden Gebirgsfluss entlang, hinab uns Tal. Unzählige kleine Bäche fließen die umliegenden Hänge Richtung Fluß und sorgen dafür, daß aus dem Rauschen bald ein Tosen wird. Beeindruckend, wie hier die unbändige Kraft dieser Wassermassen sichtbar wird, wenn sie gegen die großen Felsen im Flussbett drücken. 3km vor Harrarov warten als letzte Herausforderung noch mal 100 Höhenmeter. Diesmal aber führt der Weg steil einen Skihang hinauf und ich entscheide mich, erstmal unter dem großen Sonnenschirm einer Restaurantterrasse Platz zu nehmen. Kaum sitze ich, werfen die dunklen Wolken über mir all ihren nassen Ballast ab. Es regnet eine Stunde wie aus Eimern und erneut sitze ich entspannt und glücklich da. Das war ne Punktlandung und ich hocke nicht schutzsuchend irgendwo im Wald, unter einer Bahnbrücke oder einem Felsvorsprung, sondern in einem Biergarten. Als das Unwetter vorbei gezogen war, hatte ich längst entschieden, die letzten Kilometer mit dem Bus zurückzulegen. Ich hatte bereits 35km hinter mich gebracht und freute mich ungemein, auf dem Zeltplatz in Harrarov gleich lange unter der heißen Dusche stehen zu können. Mit dem Plan Wäsche zu waschen, meine Lebensmittelvorräte im nahegelegenen Supermarkt aufzufrischen und meine Stromreserven wieder auf 100% zu bringen buchte ich 2 Nächte. Am Montag verlasse ich Tschechien vorerst und wandere in Polen weiter.

    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Gustav_Ginzel

    https://de.wikipedia.org/wiki/Misthaus
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