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  • Day 61

    krass blass

    July 30, 2023 in Czech Republic ⋅ ☁️ 18 °C

    Könnten sie sich bitte mal meine Waden anschauen? Ich liege im Wald, am Rand des Weges, habe gerade eine Portion Szegediner Gulasch aus einer Konservendose gelöffelt und es mir auf meiner Isomatte gemütlich gemacht. Die Sonnenstrahlen malen bunte Muster durch die geschlossenen Augenlider auf meine Netzhaut. Ich muss eingeschlafen sein, denn ich höre diese Frauenstimme, die jetzt zum zweiten Mal und dafür deutlich bestimmter fragt, ob ich mir ihre Waden anschauen könnte. Auf deutsch, mitten im Wald, in Tschechien. Verrückt. Jetzt höre ich ein deutliches "Hallo ?". Irgend etwas stimmt hier nicht. Richtig, ich schlafe garnicht. Vorsichtig öffne ich erst das eine und dann das andere Auge. Als ich sowas das letzte Mal erlebt habe, wollte mich ein Plattenbauzerberus in Kittelschürze von der Wiese vor ihrem Haus vertreiben. Was mich wohl diesmal erwartet? Die Sonne blendet mich und ich versuche mit Hilfe meiner Hand etwas Schatten auf mein Gesicht fallen zu lassen. Aus dem dunklen Umriss schält sich eine ca 55 Jahre alte, hagere Frau in Wanderoutfit. Sie schaut mich an und wiederholt erneut ihre Frage. Ich bin die ganze Zeit durch hohes Gras gelaufen und habe Angst, dass ich mir ein paar Zecken eingefangen habe. Kannst du bitte mal nachsehen? Ja, klar, warum auch nicht. Immer noch etwas verwirrt, beginne ich ihre Waden nach den kleinen. Quälgeistern abzusuchen. Tatsächlich entdecke ich gleich zwei von ihnen. Haben sie etwas, womit sie sie entfernen können? Frage ich und bekomme ein Nein als Antwort. Ich kann ihnen die Pinzette aus meinem Taschenmesser geben, biete ich an und sie erklärt mir, dass man Zecken nicht korrekt mit einer Pinzette entfernen könne. Ich lasse mir erklären, dass dafür 2 Kunsstoffkarten benötigt werden, die flach links und rechts neben der Zecke auf die Haut gelegt werden, um sie dann vorsichtig aufeinander zuzuschieben. Die Zecke packt man dann zwischen den Rändern und zieht sie hinaus. Ich muss an die Nummer mit dem Mückentötolin von Herricht und Preil denken und sage ihr, dass das dem Wirkunsprinzip einer Pinzette ja recht nah kommt. Wir einigen uns darauf, dass ich die Pinzette flach auf die Haut lege und mit einem anderen stumpfen Werkzeug meines Taschenmessers den Gegenpart simulieren. Wenig später sind 2 Blutsauger umständlich, aber erfolgreich entfernt. Ich heiße Katharina, und wer sind Sie? Ich bin der Micha und der Meinung, dass unsere Beziehung spätestens in den letzten 5 Minuten eine Stufe erreicht hat, in der wir uns duzen können. Ich finde, das war lustig und charmant, sie verzieht keine Miene. Könnten sie sich bitte noch meine ganzen Beine ansehen. Schon klar, aber duzen geht nicht, denke ich mir und bevor ich zu ende gedacht habe, fällt ihre Wanderhose zu Boden. Krass blass, fährt es mir durch den Kopf, aber auch ich sehe schließlich an den textielbedeckten Körperteilen aus wie ein Schneemann. Nur schaffe ich es, auf Grund mangelnder Gelenkigkeit nicht, meine Pupillen bis auf 5 cm an meine Oberschenkel heranzubekommen. Auf kurze Distanz blendet das ganz schön. Abgerundet wird diese Komposition von einem weißen Wanderfeinrippschlüppi. Es soll ja praktisch sein. Nach mehreren langsamen Pirouetten kann Entwarnung gegeben werden. Kein weiterer Parasitenbefall in der sibirischen Tundra. Jetzt schien das Eis gebrochen zu sein, denn Katharina holte ihre, ein paar Meter entfernt stehende Wandersachen, und kommt zu mir. Ich biete ihr einen Sitzplatz auf meiner Isomatte an, den sie mit der Begründung ablehnte, sich nie in die Sonne, sondern nur in den Schatten zu setzen. Das erklärt einiges dachte ich mir. Wir begannen eine angeregte Unterhaltung und landeten irgendwann bei unseren Krankheitsgeschichten. Ich erfuhr, dass Katharina Autistin ist und welche Vor- und Nachteile dies in ihrem Fall hat. So könne sie von sich selbst sagen, dass sie sehr direkt sei. Ist mir garnicht aufgefallen, und schwer zu erheitern scheinbar noch dazu, hätte ich beinahe laut gedacht. Im Gegensatz zu Autismus ist so eine Depression ja heilbar. Da gibt es eine App, die sehr gut sei und dort gibt es auch den Menüpunkt Depression, ließ ich mich informieren. Halleluja, was wäre mir erspart geblieben, wenn mir das jemand vor 3 Jahren gesagt hätte. Die nächste Stunde liefen wir gemeinsam und führten unsere Unterhaltung auf dem Waldweg fort. Katharina war mit ihrem Mann bereits vor Jahren aus den alten in die neuen Bundesländern gekommen. Ihr Mann war immer wieder an verschiedenen Theatern in der Intendanz tätig. Zur Zeit leben sie im schönen Schwerin. Das einzige Problem war nur, dass die Regierung von Mecklenburg-Vorpommern mit Frau Schwesig ausschließlich aus Kommunisten besteht, welche Andersdenkende, oder kritisch denkende Menschen eiskalt aus ihrem Jobs entfernt haben. Natürlich auch ihren Mann. Seit dem dürfen am Theater in Schwerin ausschließlich kommunistische Werke aufgeführt werden. So so, aha, hmmmm tragisch, gibt's ja garnicht. Katharina arbeitet 2 Tage in der Woche in einer Einrichtung für alleinreisende minderjährige Flüchtlinge und geht ganz in ihrem Job auf. Als ich ihr meine Meinung zur AFD und ihren Wählern in Ostdeutschland erklärte, fasst sie sich plötzlich an den Magen und bat mich, ein Stück vor zu gehen. Ok, Katharina möchte ihren Verdauungsprozess unbeobachtet beenden, schlussfolgerte ich und ließ ihr mit ordentlich Abstand die gewünschte Privatsphäre. Gut 10 Minuten später drehte ich mich um und sah, wie mir Katharina folgte. Sie blieb jedoch unmittelbar stehen, als ich das auch tat. Ich ging wieder ein paar Minuten weiter, drehte mich dann erneut um und konnte sehen, dass Katharina wieder stehen blieb. Nach 2 weiteren Wiederholungen wurde mir das ganze zu dumm und ich ging meines Weges, ohne noch einmal nach ihr zu schauen. Unter den Begegnungen der merkwürdigen Art belegt diese einen Spitzenplatz. Ich hoffe, Katharina geht es gut und sie konnte ihre Wanderung wohlbehalten beenden.Read more