Satellite
Show on map
  • Day 101

    Dejavue im Nahtodbus

    September 8, 2023 in Slovakia ⋅ ☀️ 26 °C

    Kosice wollte ich mit dem Bus verlassen. Die vor mir liegende Asphaltstrecke und die hochsommerlichen Temperaturen animierten mich absolut nicht, den Weg zurück zum EB per Fuß zurückzulegen. Als der Bus an der Bushaltestelle anhielt und seine Türen öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Im Bus befand sich ein großer menschlicher Quader aus Gliedmaßen, schwitzender Haut und bleichen Gesichtern. Der Busfahrer war nur noch durch die Frontscheibe zu sehen, rief aber laut irgend etwas. Da sich die anderen Fahrgäste, die mit mir den Bus betreten wollten, zur mittleren Tür begaben, schlussfolgerte ich, dass dies die Aufforderung des Busfahrers gewesen ist. Ich erwartete nun, dass, gleich mir bekannter Szenen aus der Japanischen U-Bahn, Angestellte des Transportunternehmens mit weißen Handschuhen erscheinen würden. Die uns dabei behilflich sein würden, ebenfalls mit der schwitzenden Masse zu verschmelzen. Ich wuchtete meinen Rucksack auf die letzten freien Zentimeter der zweiten Stufe der Treppe ins Businnere und in die Kniekehlen eine vor mir stehenden, sehr dreidimensional portionierten Dame in einem grellbunten Sommerkleid. Ich selbst versuchte irgendwie auf der untersten Stufe Platz zu finden. Dies gelang mir nur, weil ich beide Füße auf äußerst unnatürliche Weise verdrehte, was sofort zu krampfartigen Schmerzen führte. Noch ehe ich überlegen konnte, ob ich den Bus nicht lieber wieder verlassen sollte, schlossen sich die Türen. In diesem Moment durchzog mein linkes Bein ein bemerkenswerter Schmerz. Das große Bügelscharnier der Bustür schwenkte nach innen und versuchte mir mein Schienbein zu durchtrennt. Jetzt blieb nur noch eine Möglichkeit der Amputation zu entgehen. Ich flüchtete, halb auf meinem Rucksack knieend, ins Dekolleté des dickbusigen Markisenstofftmodels . Nicht in der Lage, ihr ins Gesicht zu schauen, ergab ich mich der unangenehme Situation. Ähnliche Bedingungen müssen herrschen, wenn 20 Personen in einer Telefonzelle fieses bescheuerte Spiel spielen, wo man nach vorgabe eines Würfels seine Gliedmaßen und Gelenke auf den bunten Kreisen einer Kunststoffplane arrangieren muss. Die Würfel werden dabei jedoch auch noch von einem Opossum aus einen Parkinsonlabor geworfen. Wenigstens konnte ich nicht umfallen, was sich bei der äußerst temperamentvollen Fahrweise unseres Chauffeurs, als großes Glück erwies. Der Bus driftete durch zahlreiche Kurven und bremste und beschleunigte immer wieder, als wären wir bei einem Formel 1 Rennen. Hielten wir an einer Bushaltestelle, konnte ich durch kunstvolles verdrehen meiner Halswirbel einen Blick aus der Bustür erhaschen und die Wartenden zählen. Da die Fahrgäste, die den Bus verlassen wollten, genötigt waren, über mich hinweg zu klettern, hatte ich einen guten Überblick über die Anzahl selbiger und tauchte zum ersten Mal in meinem Leben in den Kosmos der gefühlten Mathematik ein. Ähnlich wie bei den gefühlten Temperaturen, stimmen hier das wirkliche Ergebnis und das gefühlte Ergebnis selten überein. 50 Fahrgäste waren im Bus, 4 kletterten über mich hinweg in Richtung Freiheit und 8 stiegen ein. Macht in der Summe gefühlt 70 Fahrgäste, die sich nun im Bus befanden. Die Türen schlossen sich, die Reifen quietschten und weiter ging die wilde Fahrt. Langsam wurde mir flau im Magen und kalter Schweiß tropfte von meiner Stirn. Die Fenster des Busses waren alle mit dunkelblauen Vorhängen verdeckt, um ein wenig vor der Hitze zu schützen. Leider führte dies bei mir aber zu dem gleichen Effekt, den das Lesen im Auto hat. Wenn ich in einem Fahrzeug unterwegs bin und nicht nach draußen schaue oder nicht nach draußen schauen kann, wir mir schnell sehr übel. Hier kam nun noch Sauerstoffmangel, die Enge und die halsbrecherische Fahrweise hinzu. Und schon bald gab es Alarm im Magen-Speiseröhrenbereich. Oohh mein Gott, bitte nicht noch einmal. Ich hatte ein kräftiges Dejavue und befand mich plötzlich emotional im Jahr 1999. Genau gesagt im Dezember 1999. 8 Wochen zuvor hatte ich als Koch im Berliner Hotel Interconti angefangen und durfte, weil ich als letzter zum Team dazugestoßen war, die Weihnachtsfeiertage auf Arbeit verbringen. Mich hatte dies nicht gestört, da ich sonst nur alleine in meiner Einraumwohnung in der Arbeiterfarm Hohenschönhausen herumgessen hätte. Heilig Abend waren wir zu dritt in der Schicht. Der Küchenchef hatte uns eine Flasche Champagner dagelassen und wir tranken uns den Arbeitstag ein wenig schön. 2 Gläser pro Person in einer 12 Stunde Schicht ist eine nette Geste, was den Blutalkoholspiegel angeht, aber noch weniger, als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Es war den ganzen Abend gut zu tun und wieder einmal kam ich während der Schicht nicht dazu, etwas zu essen. Nachdem die letzten Gäste gegen 22:00 Uhr das Restaurant verlassen hatten, begannen wir das Spätbuffet für die Angestellten herzurichten. Tagsüber konnte man sich im Personalrestaurant des Hotels versorgen, für alle, die bis spät in die Nacht arbeiten mussten, bereiteten wir ein paar Speisen zu, welche dann in Buffetform am Pass aufgebaut wurden. Als sich die Kollegen ihr Essen holten, war ich damit beschäftigt meinen Arbeitsbereich aufzuräumen, Infos für die Frühschicht zu notieren und meinen Bereich für die Putzkollone vorzubereiten. Als ich soweit war, dass ich auch etwas essen konnte, stand nur noch eine große Schüssel mit Rahmwirsing am Pass. Ich hatte Hunger, nahm mir die Schüssel, einen großen Löffel, setzte mich auf die Rampe der Warenannahme und verdrückte eine beachtliche Portion des sahnigen, leicht bitteren Wintergemüses. Feierabend. Ich lief mit meinem Kollegen Leif zum Bahnhof Zoo, wo wir jeder noch ein Bier tranken und uns einen Joint teilten. Ich nahm kurz vor Mitternacht die letzte S-Bahn Richtung Hohenschönhausen und freute mich darauf, nach endlosen 17 Stationen müde und erschöpft ins Bett fallen zu können. An der dritten Station bemerkte ich ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Ich hatte einen Sitzplatz auf einer Bank am Fenster bekommen, bevor sich die Bahn am Alexanderplatz bis auf den letzten Stehplatz mit Menschen gefüllt hatte. Mir gegenüber saß ein Pärchen, deren Garderobe hätte darauf schließen lassen, dass sie gerade vom Wiener Opernball gekommen waren. Als sich an Station 5 die Türen des Abteils schlossen, begann ich auf Grund der rapide stärker werdenden Übelkeit, zu überlegen, ob ich an der nächsten Haltestelle die Bahn nicht besser verlassen sollte. Ich kam jedoch nicht mehr so weit. Der Rahmwirsing bahnte sich bereits seinen Weg in Richtung Speiseröhre. Ein kurzer Schluckauf und schon trennten nur noch meine krampfhaft aufeinandergepressten Lippen den Kohl von seiner Wiedergeburt. Als auch dies nicht mehr zu verhindern war, hielt ich mir meine Hände vor den Mund, worauf im nächsten Augenblick ein Rahmwursingrahmsoßenbierpotpourri zwischen meinen Fingern hervorspritzte und sich auf der Abendgarderobe, des mir gegenüber sitzenden Pärchen ergoss. Heilige Sch....... was war mir das peinlich. Immerhin war ich weder richtig betrunken, noch bekifft, um das alles gelassen hinnehmen zu können. Die Frau stieß spitze Schreie aus. Sie Schwein, sie Schwein, sie widerliches Schwein. Ich ließ meinen Oberkörper Richtung Fenster fallen und stellte mich tot. Leider kleckerte dabei ein letzter Schwall meines Megeninhaltes genau in die Schlitze der Heitzung. 2 Stationen später hatte ich das ganze Abteil für mich. Ich richtete mich auf und betrachtete die Katastrophe. Auf meiner Jacke klebte der Großteil meiner späten Mahlzeit. Zurückblickend vermute ich, dass damals auch ein noch recht unbekannter Modeschöpfer mit im Abteil gesessen haben muss, welcher Jahre später unter dem Namen Ed Hardy weltweit bunte und überteuerte T-Shirts verkaufte, deren Design in dieser Nacht auf meiner Winterjacke, das Licht der Welt erblickt. Aber ich schweife ab. Ich bin jedenfalls mehrere Wochen nicht mehr mit der S-Bahn gefahren, weil ich befürchtete, das jeden Moment jemand mit dem Finger auf mich zeigen könnte und rufen würde "Da ist das Schwein". Und nun der Buss. Ich wollte mich nicht auf der quietschbunten Dame verewigen. Es reichte ja schon, dass mein Gesicht dabei war, dort einen nicht zu übersehenden Schweißabdruck zu hinterlassen. Ich begann zu beten und um Gnade zu flehen. Gleichzeitig überlegte ich, was ich heute gefrühstückt hatte. 1 Brötchen mit köstlicher Apfel-Steinpilzleberwurst und einen Fruchtjoghurt. Nicht wirklich viel, aber genug, um erheblichen Schaden anrichten zu können. Zum Glück für mich und meine Mitreisenden wurde mein Flehen erhöht. Es begannen mehr Passagiere auszusteigen als einzusteigen. Als erstes konnte ich die Treppe und den Oberkörper meiner Busenfreundin verlassen. Dann lichteten sich die Reihen sogar so sehr, dass man von hinten bis zum Busfahrer schauen konnte. Dieser trug die oblikatorische Busfahrerbrille mit Gläsern, die aussehen, als würde sich darauf ein schillernder Ölfilm befinden. Vervollständigt wurde seine Arbeistbekleidung von einer Goldkette, mit der man zur Not auch hätte den Bus abschleppen, oder an einem Abhang vorm abrutschen sichern können. Als weitere Personen den Bus verließen, bekam ich sogar einen Sitzplatz und konnte von dort aus sehen, dass die digitalen Anzeigen, die auch bei uns an Schulen, Fußgängerüberwegen und Orsteingängen die momentane Geschwindigkeit anzeigen, immer einen Wert zwischen 70 und 80 km/h aufwiesen, wenn der Bus auf sie zu fuhr. Der gleichzeitig aufleuchtende Smiley war stets dunkelrot und hatte Zornesfalten auf der Stirn. An meiner Zielhaltestelle fuhr der Bus ungebremst vorbei und spuckte mich erst 6km weiter im nächsten Dorf aus. Ich hatte zwar rechtzeitig auf den "Stopp" Knopf gedrückt, aber unterschätzt, wie lang der Bremsweg ist, wenn man mit annähernder Schallgeschwindigkeit unterwegs ist. Ich war am Ende meiner Kräfte, ohne auch nur einen Meter gelaufen zu sein und beschlossen gleich den nächsten Bus zurück zu meinem eigentlichen Ziel zu nehmen. Es dauerte keine 5 Minuten und der nächste Bus bog um die Ecke. Mit quitschenden Reifen hielt er an der Bushaltestelle. Als ich den Bus betrat, saß ein mir sehr bekannt vorkommender Kraftfahrer mit Regenbogensinnenbrille und dicker Goldkette hinterm Steuer. Diesmal saß ich jedoch ganz alleine im Bus und wenig später auf den Stufen einer Dorfkneipe und trank ein Bier. Auf meinem Basecap hatte der Angstschweiß schließlich deutliche Spuren hinterlassen. Jetzt galt es erstmal den Elektrolytehaushalt wieder in den grünen Bereich zu bringen. Prost.Read more