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  • Day 106

    Strategische Pause

    September 13, 2023 in Hungary ⋅ 🌙 23 °C

    Vorgestern schlief ich auf einer wunderschönen Bergwiese oberhalb von Mogyoróska. Ja, ab jetzt wird es kompliziert, jedenfalls für alle, die der ungarischen Sprache nicht mächtig sind. Ich war am Abend zuvor extra nochmal abseits des EB aus dem Dorf nach oben aufgestiegen, um einen ruhigen Schlafplatz zu haben. Das wurde mit einem atemberaubenden 360⁰ Sternenhimmel belohnt. Am nächsten Morgen schlief ich aus, weil ich nicht zurück im Dorf sein wollte, bevor der Dorfladen geöffnet hatte. 1km Berg ab, viertel Stunde, pfff Pillepalle. Ne ne ne, sprach da die Fee. Ganze 90 Minuten später, stand ich verdreckt, verschwitzt, blutend, zerkratzt und zerstochen vorm Dorfkonsum und hatte schon jetzt am frühen Morgen ein leichtes Motivationsdefizit. Da ich natürlich nicht den Weg hinab gehen wollte, den ich hinauf gegangen bin, entschied ich mich für eine Alternative. Die Auswahl groß. Laut meiner Karte führten gleich 6 Pfade ins Dorf zurück. Leider wurde mir vorenthalten, dass alle diese Wege auf einem Privatgrundstück, vor einer Mauer aus Brombeersträuchern, einem undurchdringlichem Weißdornwald, oder einer Mischung aus alle dem endeten. Nicht aber im Dorf. Als ich einen Weg erwischte, der mit einer simplen Wendeschleife endete und dann einfach wieder zurück führte, beschloss ich, mich queerfeldein zum gestrigen Weg durchzukäämpfen. Als erstes vielen dieser bescheuerten Idee meine Socken zum Opfer. Kennt ihr diese kleinen, pfefferkorngroßen Kletten, die auf einem dünnen Pflanzenstängel aufgereit darauf warten, sich für immer und ewig in allem festzusetzen, was nur ein wenig rauer ist als Fensterglas? Genau! Meine Socken waren nicht mehr zu sehen. Komplett bis ins Innere meiner Schuhe überzogen von diesen hinterhältigen Wiesenpocken. Ok, erste Hürde geschafft. Es folgt die böse Dornröschenhecke, in Kombination mit einem Steilhang. Noch vor Wochen hätte ich spätestens jetzt geweint. Nun aber stürzte ich mich souverän ins Getümmel. Habe ich erwähnt, dass ich seit der Regenphase in und um Harrarov einen Regenschirm besitze? Dieser steckt hinten an meinem Rucksack und hat einen altmodisch, zum Halbkreis gebogenen Griff. Dieser Griff schnappt sich im öffentlichen Nahverkehr sofort jede Haltestange in seiner Reichweite und hat damit schon mehrfach beim verlassen des Busses für unfreiwillige Slapstick Einlagen meinerseits geführt. Der hatte im dichten Dickicht ganz viel Spaß, nur ich nicht. Irgendwann war ich aber am Ende des Steinhages angekommen und sah, dank Weißdorndornen an Händen, Beinen und im Gesicht aus, wie der Heiland persönlich. Vielleicht sollte ich mich nicht vor den Konsum, sondern vor die Dorfkirche setzten. Ich folgte einem Wildwechsel aus dem dunklen Tal heraus und erklomm, mittlerweile triefend wie ein Kieslaster, einen letzten steilen Hang. Und da stand ich dann endlich wieder auf dem Weg, den ich eigentlich nicht nehmen wollte. Umsonst war das ganze aber nicht. Jetzt kann ich immerhin nachempfinden, wie es
    Überlebenden von Flugzeugabstürzen gehen muss, Die sich dann wochenlang durch den Dschungel kämpfen müssen, und gezwungen sind ihre eigenen Gliedmaßen zu esse, um nicht zu verhungern. Wo beginnt man da nur? Ich schweife schon wieder ab. Ich versorgte mich mit dem Nötigsten und machte eine lange Frühstückspause. Als ich mir die Tagesetappe auf der Karte ansah, erkannte ich, dass sie wiedereinmal daraus bestehen sollte, mehrere mal, Berge auf und ab zu steigen, ohne dass dabei mehr zu erleben war, als das sammeln von Höhenmetern. Darauf habe ich, ganz ehrlich, absolut keine Lust mehr. Du läufst den ganzen Tag durch den Wald. Von 300m auf 650m, wieder runter auf 250m und wieder hoch auf 600m, erneut runter auf 300m und wieder hoch auf 650m. Dass man oben angekommen ist, erkennt man nur an einem Schild, auf dem meistens in Landessprache " Sie sind jetzt oben" steht, daran, dass es absolut nichts zu sehen gibt, außer Bäume und daran, dass es dann wieder runter geht. Wenn ich mich schon quäle, möchte ich auch eine kleine Belohnung. Sowas wie ein Zuckerszückchen. Ein Denkmal vielleicht, oder eine schöne Aussicht, oder vielleicht ein kühles Getränk. Für den Weg nach Regec hatte ich die Wahl zwischen 23km Wald und insgesamt 690 Höhenmetern oder 16km Straße und 280 Höhenmetern. Ich musste nicht lange überlegen und legte meinen Wanderstöcken die Schalldämpfer an. Die Hitze der Mittagssonne wurde durch schattige Abschnitte erträglich gemacht und die 280 Höhenmetern verteilten sich angenehm auf die letzten 6km. Eine Steigung dieser Art nimmt mein Kreislauf mittlerweile garnicht mehr als Steigung war. Trotzdem entschied ich mich 3km vor Regec mein Quartier auf einer Wiese am Straßenrand aufzuschlagen. Dort sah ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Gottesanbeterin in freier Wildbahn. Mittlerweile gibt es dieses außergewöhnliche Insekt ja auch schon in unseren Breutengraden.
    Geweckt wurde ich am nächsten Morgen vom lauten geklapper leerer Holztransporter, die sich über die, mehr als marode Straße quälten. Auf nach Regec. Ohhh, was zeigt mir denn meine Karte. Es gibt eine Abkürzung, die mir bestimmt 500m spart. Ich weiß nicht, warum ich in solchen Momenten immer einen Aussetzter habe und mich nicht daran erinnern kann, dass mir Abkürzung bisher kein Glück gebracht haben. Natürlich habe ich mich verlaufen, abgemüht und zusätzliche Km absolviert, aber irgendwann war ich dann da. Der Dorfladen hatte kalte Getränke und etwas Wurst im Sortiment und die großartige ungarische Trinkwasserversorgung hielt auch, was sie versprach. Eigentlich wäre das nächste Ziel ein Berg mit einer Burg gewesen. Ich fühlte mich aber irgendwie viel zu schlapp, um die 300 Höhenmetern in Angriff zu nehmen. Ich umging den Berg, ohne mich zu verlaufen auf einem Waldweg, welcher auf einer großen Wiese endete. Noch 2km bis Mogyoróska. Unter praller Sonne und ohne Schatten. Das wollte aber auch nicht so richtig funktionieren. Irgendwie war die Luft raus. Bei jedem Schritt konnte ich spüren, wie mein Akku in Richtung Null ging. Ich dachte an einen Tag Pause und schleppte mich nach Mogyoróska. Meine Karte zeigte am Ende des Dorfes eine Kneipe an. Vielleicht hilft ja ein Bier und ein warmer Imbiss. An der Adresse angekommen, sah ich zwar Werbung für Speiseeis, so St wirkte das verwinkelte Gehöft aber verlassen. Auf dem Hof entdeckte ich 2 Männer auf Gartenstühlen. Da sowohl die Männer als auch die Stühle nicht gerade vertrauenerweckend wirkten, ging ich unauffällig weiter. Zu spät, sie hatten mich gesehen und winkten mich, laur rufend, zu sich heran. Mit meinem reichen ungarischen Wortschatz sagte ich Guten Tag und Mein ungarischen ist nicht gut. Den Rest erledigte das Handy. Noch ehe ich mich versah, hatte ich eine Übernachtung mit Frühstück für 10€ und eine Einladung zum Mittagessen sowie zu einem abendlichen Umtrunk. Ich war baff und total erfreut. Genau solche Begegnungen hatte ich in der Slowakei schmerzlich vermisst. Als nächstes wurde ich in einen dunklen, fensterlosen Keller geführt. Es ging 3 mal um die Ecke und plötzlich stand ich in einem spärlich erleuchteten Raum, in dem 3 weitere Herren an einem kleinen Tisch, vor einem, laut plärrenden Fernseher saßen und aus Schüsseln, köstlich duftenden Eintopf löffelten. Hinter einer improvisierten, aber reichlich bestückten Bar stand eine ältere Dame, die mich fragte, was ich essen wolle. Ich entschied mich für Gulasch und wurde in ein Nebengebäude geführt. Hier gab es einen größeren Gastraum, in dem ich bereits wenige Augenblicke ein fantastisches Mittagessen serviert bekam. Als ich fertig war, konnte ich mein Bett in einem 6-Bett Zimmer beziehen. Alles war etwas in die Jahre gekommen, aber ich fühlte mich wie in einer Luxusherberge. Zeit für einen ausgeprägten Mittagsschlaf. Genügend ausgeruht, studierte ich die Strecke der nächsten Tage. Vor mir lagen 10km abwärts entlang eines Flusses und dann würde ich in einem Ausläufer der ungarischen Tiefebene ankommen. Gut 40km Ackerfläche und Feldweg. Zwar würde es genügen Dörfer geben, in denen ich mich versorgen könnte, aber Schatten ist auf dieser Strecke Mangelware. Da am Nächsten Tag noch Temperaturen um die 30⁰C zu erwarten waren und erst am übernächsten Tag die Temperaturen fallen sollten, hielt ich es für vernünftig, noch einen Tag zu warten. Die Übernachtung war günstiger als jeder Campingplatz und die Menschen hier waren super gastfreundlich. Leider hatte ich aber ein Problem. Mein Bargeld reichte genau, um die beiden Übernachtungen zu bezahlen, nicht aber, um zusätzlich noch an der Kellerbar den heimischen Wein Und die schwarzgebrannten Spirituosen zu verköstigen. Selbstverständlich gab es im Dorf keinen Geldautomaten und mit Karte konnte ich auch nicht bezahlen. Der nächste Geldautomat war 20 km weit weg und ein Bus fuhr 6:20 Uhr und 17:30 Uhr. Jetzt könnte ich die 20km bis zum nächsten Dorf mit Geldautomaten fahren, würde dann dort aber den ganzen Tag festsitzen. Egal, ich buchte erstmal eine weitere Übernachtung und die ältere Dame sagte ganz entspannt, dass sich das sicher lösen lässt. Das ganze wurde mit einem köstlichen Schnaps aus einer abgegriffenen 2l Plasteflasche begossen. Ich unterhielt mich mit immer schwerer werdender Zunge und einem fleißigen Handydolmetscher noch eine Weile mit meinen Gastgebern und ging dann müde auf mein Zimmer. Noch in der Nacht beschloss ich, mich am nächsten Morgen doch in den Bus zu setzten, den Tag aber in Miskolc, der viertgrößte Stadt Ungarns zu verbringen. Hinfahrt 3 Stunden Rückfahrt 4 Stunden für jeweils 60km. Zeit habe ich ja. Auf meiner Liste standen ein Geldautomaten und vielleicht ein schöner Wochenmarkt mit Einheimischen Produkten. So bestieg ich also heute gegen halb 7 den Bus. 3 Stunden später stieg ich am Busbahnhof in Miskolc aus. Während der Fahrt hatte ich mich reichlich über eine Generation geärgert, die auf der Fahrt in die Schule, geschminkt, gebräunt, tattoowiert, gepierct, rasiert, gestylt und parfümiert, 2 Schwangere und mindestens 10 wirklich betagte Senioren im Gang des vollbesetzten Busses stehen lässt und absolut nicht auf die Idee kommt, ihren Platz freizumachen. Das hat mich echt beschäftigt. Zurück aber zum Busbahnhof. Ich stieg also aus dem Bus aus und stolperte direkt auf einen Wochenmarkt, an den sich auch noch eine große Markthalle anschloss. Hunderte Stände mit Obst und Gemüse. Zuckersüß Trauben, Pfirsiche, Melonen, Pflaumen, Birnen und Äpfel. Paprika, Gurken, Auberginen, Kräuter, Gewürze, Käse, sauer eingelegtes Gemüse, Brote, Kuchen, Würste, Schinken, Speck und diverse Spezialitäten von Rind, Schwein, Schaf und Ziege für Topf und Pfanne. Ich war im siebten Himmel. Als ich ein Foto von dem ganzen Treiben machte, rief mich eine Marktfrau zu sich und gab mir zu verstehen, dass sie das nicht in Ordnung fand. Ich hätte einfach fragen sollen. Als Geste der Versöhnung kauft ich bei Ihr ein paar duftende Tomaten und leckere vollreife Birnen. Beide dermaßen unperfekt, dass sie nie den Weg in einen deutschen Supermarkt finden würden. Dafür findet man in einem deutschen Supermarkt aber auch nie Obst und Gemüse mit solch einem fantastischen Aroma. Als ich sie fragte, wo ich gute, trockene Wurst und Speck bekomme, der sich gut dafür eignet im Rucksack mitgenommen zu werden, brachte sie mich an den benachbarten Stand eines Bauern. Dieser konnte genug deutsch, um ihn von meinem Weg erzählen zu können. Er rief ein paar Kollegen zusammen und erzählte Ihnen von meiner Reise. Als ich den staunenden Gesichtern auch noch auf meiner Karte den Weg als rote Linie präsentierte, erntete ich anerkennendes Nicken und Schulterklopfen. Ich ließ mir Wurst und Speck einpacken, aber als ich bezahlen wollte, legte der Verkäufer ab und sagte mir, dass das ein Geschenk sei. Ich wollte erst nicht annehmen, dachte mir dann aber, das das bestimmt unhöflich rüberkommen würde. Später bedankte ich mich mit einer Flasche Wein, von einem der Stände, an denen man sich verschiedene einheimische Weine in Plasteflaschen verschiedener Größen abfüllen lassen kann. Natürlich habe ich den Stand nicht verlassen, ohne auch für mich etwas mitzunehmen und eine Flasche als Dankeschön für meine Gastgeber in Mogyoróska einzupacken. Nachdem ich den ersten Kaufrausch hinter mich gebracht hatte, unternahm ich dann noch einen Spaziergang in die Innenstadt, welche zwar eine ansehnliche Einkaufszone und mehrere Einkauszentren hat, haber keinen erkennbaren Stadtkern, oder keine erkennbare Altstadt. Dafür aber eine stattliche Anzahl an Kirchen verschiedenster Konfessionen. Ein letzter Bummel über den, langsam schließenden, Markt und dann ging ich zurück zum Busbahnhof. Gern hätte ich mir koch ein großes Stück Melone gekauft, aber diesen Fehler habe ich bereits schon einmal gemacht. Auch wenn ich nur 1kg kaufe, schaffe ich es nicht, diese Menge zu essen. Ungekühlt im Zelt, oder im Rucksack, gibt das schnell eine ordentliche Suppe. Irgendwann saß ich wieder im Bus, als ich auf meinem Handy die Nachricht bekam, dass die PIN meiner Kreditkarte nach 3 maliger falscher Eingabe gesperrt sei und ich diese im Internet wieder entsperren könnte. Aha Spam der ganz dummen Art. Nicht wirklich. Als ich diese Nachricht innerhalb kürzester Zeit noch mehrfach bekam, wurde ich stutzig und loggte mich in meine Bankingapp ein. Während ich im Bus saß, hatte jemand Miskolc in mehreren Lottogeschäften Kleinbetriebe in Höhe von insgesamt 38,00€ mit der kontaktlosen Bezahlfunktion bezahlt und war jetzt anscheinend dabei, durch bloßes probieren herauszufinden, wie meine PIN lautet. Ich ließ die Karte sofort sperren und war froh, dass kein größerer Schaden entstanden war. Die stümperhafte Vorgehensweise des neuen Kartenbesitzers beim Geldausgeben lässt mich ehr vermuten, dass ich die Karte verloren habe und es sich hier um einen unehrlichen Finder handelt. Mögen dir die Finger lebrös vom Leibe bröckeln.
    Auf der Rückfahrt hatte ich erneut ein unschönen Erlebnis im Schülerverkehr. Ein Junge kassierte in einer Tour Ohrfeigen von den benachbarten Mitschülern. Sie fanden das lustig, er konnte sich nicht wehren und flüchtete auf den Sitz gleich hinter den Busfahrer. Gern hätte ich sie mir zur Brust genommen, ungerließ das aber bei der Vorstellung, wie ich einschüchternde Drohungen in mein Handy tippe, welche dann sperrig von einer weiblichen Computerstimme vorgetragen werden. Ich entschloss mich aktiv, böse zu starren und machte dem ersten gegenüber, der mich ansah, diese mafiöse Geste, bei der man mit gespreizten Zeige- und Mittelfinger erst auf die eigenen und dann auf die Augen des anderen zeigt. Dass ich ihn beobachte hatte er jetzt verstanden, denn er drehte sich sofort um und stieß seine Nachbarn an. Bis die Schweinebande ausstieg, hatte der arme Bengel erstmal Verschnaufpause, aber leider nur bis zu diesem Moment. Was sie im Bus unterlassen hatten, holten sie sofort draußen nach. Was für ein Tag. Morgen geht es also hinab in die Ebene. Ich hoffe, der Wettergott ist milde gestimmt.
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